Die Sorge war groß gewesen. Nun ging es ja nicht mehr nur um einen beleidigenden Billigfilm über den Propheten Mohammed. Das französische Satiremagazin “Charlie Hebdo” hatte zu allem Überfluss Karikaturen des Propheten veröffentlicht und die deutschen Kollegen von der “Titanic” hatten ebenfalls einen Mohammed-Titel angekündigt. Musste man also nach den muslimischen Freitagsgebeten nicht mit dem Schlimmsten rechnen? Als Vorsichtsmaßnahme wurden Botschaften geräumt, und die französischen Schulen in zahlreichen Ländern blieben geschlossen. Doch der vorhergesagte muslimische Wutausbruch blieb in den meisten Ländern aus: 200 Menschen demonstrierten in Marokko, einige Hundert waren es im Jemen, in Beirut kamen weniger als 1000 Teilnehmer. In Kairo folgten dem Ruf der fundamentalistischen Salafisten gerade einmal 50 Demonstranten, die gegen die in Frankreich veröffentlichten Karikaturen ein paar Schritte in Richtung der gut gesicherten US-Botschaft machten. Nur in Pakistan ging es nicht so glimpflich ab: 19 Menschen wurden bei Unruhen in zahlreichen Städten getötet. Die Regierung hatte den Freitag zu einem arbeitsfreien “Tag der Liebe zum Propheten” erklärt. Letztlich folgt Pakistan dem mittlerweile nur allzu bekannten Muster: Eine schwache Regierung will und kann dem Druck der erstarkenden radikalen Islamisten nicht standhalten und stellt sich deshalb selbst an die Spitze der Proteste. Ein Doppelspiel, an dem Ägyptens Präsident Mohammed Mursi sich ebenfalls versucht hatte und das er, nach einem unangenehmen Telefongespräch mit US-Präsident Barack Obama, schnell aufgeben musste. So gingen am Freitag in Pakistan amerikanische Fast-Food-Restaurants ebenso in Flammen auf wie Banken, Kinos und eine christliche Kirche. Aus Protest gegen die Beleidigung ihrer Religion steckten pakistanische Muslime das Gotteshaus einer anderen Religion in Brand. Es lässt sich kaum deutlicher demonstrieren, dass es mit der Äquidistanz in diesem Konflikt nicht weit her ist. In vielen arabischen Ländern mangelt es an grundlegendem Respekt vor anderen Glaubensrichtungen, Christen fliehen in Scharen aus der arabischen Welt. Ein Übertritt zum Christentum wird in fast allen arabischen Ländern mit dem Tod bestraft. In Saudi-Arabien ist der Bau von Kirchen ebenso verboten wie die Versammlung zum Gebet in Privaträumen, der Besitz einer Bibel kann die Aufmerksamkeit der Religionspolizei erregen. Selbst in der vergleichsweise liberalen Türkei können christliche Gemeinden keine Bankkonten eröffnen oder Immobilien besitzen, weil ihnen der rechtliche Status verwehrt wird. Im Westen nimmt es kaum jemand mehr wahr, wenn Kämpfer der Freien Syrischen Armee sich mit einem Priestergewand aus einer geplünderten Kirche ablichten lassen, ein gestohlenes Kreuz in der Rechten. Es ist auch keine Nachricht wert, wenn tunesische Salafisten das Kreuz der Kirche von Tunis mit Müllsäcken einpacken und den Gemeindemitgliedern deutlich machen, sie wollten das Symbol des Kreuzes im “islamischen Staat Tunesien” nirgends mehr sehen. Auch nicht, dass kurz darauf die Wandgemälde der zur Kirche gehörenden Schule mit Fäkalien beschmiert und die Kreuze auf dem christlichen Friedhof beschädigt werden. Die tägliche antisemitische Hetze in arabischen Medien wird oft als irgendwie unvermeidliche Folge des Nahostkonflikts abgetan, vollkommen bizarr wird es für uns, wenn in Pakistan muslimisch-sunnitische Extremisten einige muslimische Schiiten aus einem Bus beordern und kaltblütig erschießen. Dabei wäre das Eingeständnis des Offensichtlichen dringend notwendig: Die meisten islamischen Gesellschaften heute haben ein Toleranzproblem. Nichts liegt ferner von der Wahrheit als die in diesen Tagen von aufgebrachten Muslimen immer wieder verbreitete Behauptung, islamische Gläubige würden niemals die Heiligtümer anderer Religionen verspotten oder angreifen. Dass es auch anders geht, dass man natürlich auch als Muslim problemlos rechtsstaatliche Prinzipien achten kann, haben beispielsweise die amerikanischen Muslime bewiesen, die vollkommen selbstverständlich den Film und die Gewaltausbrüche ihrer Glaubensbrüder verurteilten, weil sie verstehen, dass der erste Verfassungszusatz in Fragen der Meinungsfreiheit wenige Verhandlungsspielraum lässt. Auch die deutschen Muslime ärgern sich über den Film, die Demonstrationen in mehreren deutschen Städten blieben am Freitag aber vorbildlich im Rahmen dessen, was jedem Bürger in einer Demokratie gestattet sein muss. Unübersehbar wurde in den vergangenen zwei Wochen jedoch, dass diese Debatte besonders in Deutschland gern in Extremen geführt wird. In der deutlichen Mehrheit sind die Apologeten, in der arabischen Welt ebenso wie im Westen: Der Film wird da zum Auslöser einer mit der Unvermeidbarkeit einer Naturkatastrophe eintreffenden Welle der Gewalt, hetzende Islamkritiker werden kurzerhand mit mordenden Terrorbanden gleichgestellt, und ganz nebenbei wird so den Muslimen die Fähigkeit zur kritischen Reflexion abgesprochen. Die Tatsache, dass in vielen noch ungefestigten Ländern des Arabischen Frühlings Oppositionsparteien und Extremisten ihre Chance wittern, mit Randale außerhalb der Parlamente Druck auf die Regierung auszuüben, wird zur Rechtfertigung. Dabei ist es doch so: Gäbe es jene tief sitzenden antiwestlichen Gefühle nicht, könnten die Salafisten sie auch nicht zu instrumentalisieren versuchen. Die islamische Welt fühlt sich entmündigt und erniedrigt: Das arabische Unglück, die arabische Frustration und die allgemeine Hoffnungslosigkeit – an allem soll Amerika, an allem soll der Westen schuld sein. Dass es den Extremisten dieses Mal mit nur mäßigem Erfolg gelang, diese Wut in eine Massenbewegung zu kanalisieren, beweist noch nicht, dass Freiheit und Toleranz sich auf dem Vormarsch befinden. Es ist einfach zu früh für eine endgültige Diagnose: Niemand kann beispielsweise vorhersehen, was die ägyptischen Muslimbrüder wollen, zu wie viel Pragmatismus die Regierungsverantwortung sie zwingen wird und wie die noch extremistischeren Fraktionen darauf reagieren werden. Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums hingegen muss es mindestens ein weiterer Versuch der Islamisten sein, die Weltherrschaft an sich zu reißen, die deutliche Distanzierung der US-Regierung von dem Film wird schon als Einknicken vor den islamistischen Forderungen interpretiert. Tatsächlich ist das amerikanische Verhalten nur konsequent: Man muss das Video ja nicht gleich verbieten, aber wenn die Filmemacher sich mit ihrem Machwerk auf die Meinungsfreiheit berufen können, muss die US-Regierung denselben Rahmen doch nutzen dürfen, um den Film als “widerlich und verwerflich” zu bezeichnen und so möglicherweise weitere Opfer zu verhindern. Ist die Meinungsfreiheit wirklich so akut gefährdet, dass der Westen zu ihrer Verteidigung nun das letzte Aufgebot zum Martyrium bereitstellen muss? Man fragt sich, was es soll, wenn Begriffe wie Schmähfilm oder Hassvideo demonstrativ in Anführungszeichen gesetzt werden, als habe der Film irgendeine aufklärerische Funktion erfüllen sollen oder wollen. In Blogs und Internetforen werden wieder einmal allerlei scheinbar inkriminierende Koranzitate hervorgekramt, um zu beweisen, dass der Islam letztlich eine menschenverachtende Religion sei. Schüren die Apologeten ungerechtfertigte Hoffnungen und teilen sogar extremistische Salafistengruppen in gemäßigte und etwas weniger gemäßigte ein, werden hier weitverbreitete Ängste vor dem Islam bedient – nicht immer besonders fundiert. Das Problem des Islams ist die Rezeption. Im historischen Kontext ist der Koran ein durchaus fortschrittliches Buch: Es ist kein Wunder, dass Mohammed besonders unter den Frauen viele Anhängerinnen gewonnen haben soll, die in ihm zu Recht einen Verfechter ihrer Rechte sahen. Erstmals bekamen Frauen einen Pflichtanteil des Erbes. Dass Männer doppelt so viel erbten, macht im historischen Kontext durchaus Sinn: Der Mann musste eine Mitgift bezahlen und schließlich seine Familie versorgen. Selbst im Vergleich mit den alttestamentarischen Gesetzen macht der Islam in vielen Bereichen einen deutlichen Schritt Richtung Moderne. Auch die Feldzüge Mohammeds nehmen sich im Vergleich zu den Eroberungskriegen des Alten Testaments geradezu bescheiden aus, das Hauptaugenmerk liegt oft unübersehbar auf der Notwendigkeit, eine in ihrer Existenz bedrohte religiöse Splittergruppe zu schützen. So muss man jenen berühmten Vers aus der zweiten Sure keineswegs als muslimischen Aufruf zum Mord an Andersgläubigen interpretieren: “Und tötet sie, wo immer ihr auf sie trefft, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben, denn Verfolgung ist schlimmer als Töten!… Solcher ist der Lohn der Ungläubigen”, steht dort. Doch der Vers 191 mit dem scheinbaren Mordbefehl wird von zwei einschränkenden Versen umfasst: “Und kämpft auf Allahs Weg gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht! Allah liebt nicht die Übertreter”, heißt es in Vers 190 und Vers 192 erinnert nochmals: “Wenn sie jedoch aufhören, so ist Allah allvergebend und barmherzig.” Problematisch ist, dass nicht nur die sogenannten Islamkritiker solche Verse falsch verstehen und aus ihrem historischen Kontext reißen, sondern islamistische Terroristen damit ihre Mordzüge rechtfertigen. Die jüdische Orthodoxie hat es geschafft, das jüdische Gesetz, die Halacha, in einer Jahrhunderte dauernden Entwicklung so zu interpretieren, dass sie – zumindest zumeist – nicht mit modernen rechtsstaatlichen Prinzipien kollidiert. Auch ultraorthodoxe Juden steinigen heute niemanden mehr, obwohl diese Strafe in ihren heiligen Schriften für eine größere Zahl Verbrechen vorgesehen war als im Islam. Sicher, auch die Scharia hat sich gewandelt, doch mit einer historisch-kritischen Koranexegese tut sich der Islam noch immer schwer. Als das direkt und durch den Erzengel Gabriel unmittelbar an den Propheten geoffenbarte Wort Gottes entzieht sich ihr heiliges Buch für viele Muslime einer kritischen Betrachtung. Dabei hatte man schon im Mittelalter festgestellt, dass es im Koran und in der Überlieferung Widersprüche gibt, die nicht immer in Einklang zu bringen waren. Einige der Verse mussten nach einem logischen System, das sowohl den Offenbarungsanlass als auch die Chronologie der Suren berücksichtigt, abrogiert, also annulliert, werden. Ganz ohne historische Forschung ging es eben schon damals nicht. Der Koran selbst schien das Vorgehen zu rechtfertigen: “Was wir an Versen aufheben oder in Vergessenheit geraten lassen – wir bringen bessere oder gleichwertige dafür. Weißt du denn nicht, dass Allah zu allem die Macht hat?” steht in der zweiten Sure. Auch im Islam gab es Versuche, die religiösen Dogmen in Einklang mit der Vernunft oder dem philosophischen Denken der Spätantike zu bringen. Heute betreiben beispielsweise die Theologen der Ankaraner Schule eine Exegese nach der historisch-kritischen Methode. Gleichzeitig wird die islamische Welt aber seit Jahren von einer konservativen Erweckungsbewegung erfasst. Dadurch verengt sich der Spielraum für liberale Interpretation des Islam zunehmend. Es hat auch sehr pragmatische Gründe, dass vielerorts die Oberhoheit in Religionsfragen bei den Fundamentalisten liegt: Wer ihnen widerspricht, muss nicht selten um sein Leben fürchten. Ein erschreckend niedriges Bildungsniveau in vielen Ländern trägt zudem dazu bei, dass besonders junge, frustrierte Araber empfänglich sind für das verlockend eindeutige Weltbild der Islamisten. Vielleicht ist es also gar nicht zuallererst eine Auseinandersetzung zwischen dem aufgeklärten Westen und der arabischen Welt, die wir heute miterleben. “Die Salafisten wollten alle anderen ausschließen”, sagte Abdelfattah Mouru, ein Führer der tunesischen Islamistenpartei Ennahda auf einer interreligiösen Konferenz in der Türkei jüngst: “Es geht nicht um Muslime und Christen. Es geht um jene, die die Menschlichkeit respektieren und solche, die das nicht tun.” So kämpft die islamische Welt vor allem mit sich selbst: Traditionen und kulturelle Normen kollidieren mit den Realitäten und Werten der Moderne. Da hilft es wenig, im Westen entweder heile Welt zu spielen oder die Apokalypse an die Wand malen. Die Entwicklung in jenen Ländern wird sich weder steuern noch beschleunigen lassen, ihr Ausgang ist ungewiss. Bis dahin heißt es, die Extremisten und Terroristen zu bekämpfen, die neuen islamistischen Regierungen zur Mäßigung zu mahnen, in gewisser Weise sie mit Pluralismus und Demokratie zu verführen und die liberalen, weltoffenen Kräfte zu stärken. Dass längst nicht alles verloren ist, konnte man gerade in der ostlibyschen Stadt Bengasi erleben. Hier, wo am 11. September bei einem geplanten islamistischen Terroranschlag der US-Botschafter und drei weitere diplomatische Mitarbeiter getötet wurden, gab es am Freitag zwei konkurrierende Kundgebungen: 3000 Islamisten gingen auf die Straße, um gegen die Beleidigung ihres Propheten zu demonstrieren. Gleichzeitig zogen 30.000 Libyer durch die Straßen und forderten die Auflösung der bewaffneten Milizen. “Wo ist die Armee, wo ist die Polizei?” stand auf Bannern und “Nein zu Milizen!” Bisher schien die schwache Zentralregierung den bewaffneten Gruppen wenig entgegensetzen zu können. In der Nacht zum Samstag hatte das Volk genug und stürmte mehrere Lager der Islamistengruppe Ansar al-Scharia, die an dem Anschlag auf das US-Konsulat beteiligt gewesen sein soll. Bei dem Versuch, ein weiteres Lager zu stürmen, eröffneten die Islamisten das Feuer. Es soll drei Tote gegeben haben. “Nach dem, was im amerikanischen Konsulat geschehen ist, haben wir genug von den Extremisten”, wurde ein Demonstrant von dem panarabischen Fernsehsender al-Dschasira zitiert. Gewiss ist dieser Fall von chaotischer Selbstjustiz im Wüstenreich kein Anlass, die arabische Demokratiebewegung für gerettet zu erklären. Aber immerhin ein guter Grund, nicht alle Hoffnung fahren zu lassen.
Doppelspiel in Pakistan und Ägypten
Christen fliehen in Scharen
In Deutschland bleiben Demonstrationen friedlich
An allem soll der Westen schuld sein
Weitverbreitete Ängste vor dem Islam werden bedient
Historisch ist der Koran ein fortschrittliches Buch
Koran entzieht sich für viele einer kritischen Betrachtung
Für viele ist das Weltbild der Islamisten verlockend
Traditionen kollidieren mit Werten der Moderne
“Wir haben genug von den Extremisten”
Quelle: Welt, 22.9.2012
D-Mark würde Deutschland in den Ruin stürzen
Für die Beantwortung der Frage, wie es Deutschland ohne den Euro ergangen wäre, sollte man die Erfahrungen von Ländern analysieren, deren Währungen – ähnlich wie früher der D-Mark – an den Devisenmärkten prinzipiell eine Aufwertungstendenz beigemessen wird. Welche Probleme man mit einer zu starken Währung haben kann, verdeutlicht kein Land so sehr wie Japan. Diese Volkswirtschaft weist heute mit einer Schuldenstandsquote von 214 Prozent eine weit mehr als doppelt so hohe Verschuldung auf wie Deutschland. Japans Probleme mit dem starken Yen begannen in der ersten Hälfte der 90er-Jahre. Das Land hatte gerade das Platzen einer riesigen Immobilienblase erlebt und hätte nun dringend Wachstumsimpulse durch den Außenhandel benötigt. Doch die kaum von gesamtwirtschaftlicher Logik bestimmten Devisenmärkte bescherten dem Land eine so starke Aufwertung des Yen gegenüber dem US-Dollar, dass sich der Außenwert der japanischen Währung von April 1990 bis April 1995 verdoppelte. Der durch die internen Probleme ohnehin geschaffene deflationäre Druck wurde auf diese Weise massiv verschärft. Zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit mussten die japanischen Löhne sinken. Nach immer wieder aufgetretenen Aufwertungswellen liegen die japanischen Nominallöhne heute um zwölf Prozent unter dem Niveau des Jahres 1995. Auf diese Weise wurde ein so starker deflationärer Druck auf die japanische Wirtschaft ausgeübt, dass es sehr hoher staatlicher Nachfrageimpulse bedurfte, um das Land einigermaßen im gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zu halten. Die anhaltend hohen Staatsdefizite sind somit eine wichtige Erklärung für die abenteuerlich hohe Schuldenstandsquote des Landes. Die zweite Ursache hierfür ist das deflationsbedingt seit dem Jahr 1990 stagnierende nominale Bruttoinlandsprodukt, das im Nenner dieser Größe steht. Aber das ist noch nicht alles. Im Bestreben, immer wieder einmal die Aufwertung durch Interventionen am Devisenmarkt zu stoppen, kaufte die Bank von Japan in großem Umfang Dollar-Bestände an, die sie überwiegend in Form von US-Staatsanleihen hält. Zuletzt beliefen sich diese Guthaben, die man zum größten Teil als Haftung Japans für die Vereinigten Staaten ansehen kann, auf 1,2 Billionen Dollar. Das ist deutlich mehr als der vom Ifo-Institut fortlaufend ermittelte “Haftungspegel” in Höhe von 779 Milliarden Euro, der Deutschlands Haftungssumme für den “worst case” einer völligen Insolvenz Griechenlands, Irlands, Italiens, Portugals, Spaniens abbildet. Bei allen Problemen, die bei solchen Vergleichen unvermeidbar sind, sollte es zumindest zu denken geben, dass ein wirtschaftlich hochleistungsfähiges Land wie Japan, das ähnlich in den Bereichen Maschinenbau und Automobil aufgestellt ist wie Deutschland, durch die Aufwertung seiner Währungen in den beiden letzten Jahrzehnten nicht nur eine anhaltende Deflation und eine erschreckend hohe Staatsverschuldung erfahren hat, sondern sich darüber hinaus in hohem Maße zur Finanzierung der amerikanischen Staatsverschuldung gezwungen sah. China ist ein zweites interessantes Anschauungsbeispiel. Die abschreckenden Erfahrungen Japans mit einem weitgehend marktbestimmten Wechselkurs dürften die chinesische Führung veranlasst haben, eine Wechselkurspolitik zu verfolgen, bei der der Wechselkurs nahezu perfekt durch Notenbank-Interventionen gesteuert wird. Nichts hätte weniger in die exportorientierte Strategie dieses Landes gepasst als eine starke Aufwertung, für die es in Anbetracht des zeitweise sehr hohen chinesischen Leistungsbilanzüberschusses durchaus eine Veranlassung gegeben hätte. Die Strategie ging insoweit auf, als der Wechselkurs des Renminbi von den chinesischen Behörden stets zielgerecht gesteuert werden konnte, sodass – anders als im Fall Japans – unerwünschte Störungen für die Außenwirtschaft vermieden wurden. Aber dafür musste China einen sehr hohen Preis bezahlen. Im Laufe der letzten zwölf Jahre sammelten sich durch die Devisenmarkt-Interventionen der chinesischen Behörden Währungsreserven in Höhe von 3,2 Billionen US-Dollar an. Auch hier ist zu vermuten, dass der größte Teil direkt oder indirekt in US-Staatsanleihen investiert wurde. Diese gewaltige Haftungsgemeinschaft, die man auch als die größte Transferunion der Welt bezeichnen könnte, geht weit über das hinaus, was selbst pessimistische Euro-Kritiker für Deutschland erwarten. Aber es steht dahinter ein ähnlich fragwürdiges Geschäftsmodell wie der deutsche Merkantilismus des letzten Jahrzehnts. Im Bestreben, möglichst wettbewerbsfähig zu sein, wurde eine zurückhaltende Lohnpolitik verfolgt, die mit einer schwachen Konsumnachfrage einherging. Dafür konnte man im großen Stil Exportgüter verkaufen, allerdings an Länder, die sich das Ganze nur auf Pump leisten konnten. Am Ende hat man mit den Leistungsbilanzüberschüssen große Geldforderungen angehäuft, aber es ist fraglich, ob man dafür jemals einen realen Gegenwert zurückbekommen wird. Lange Zeit galt die Schweiz in der deutschen Diskussion als Paradebeispiel dafür, dass man sich mit einer eigenen Währung durchaus erfolgreich auf den internationalen Finanzmärkten behaupten könne. Ohne größere Markteingriffe hielt sich der Schweizer Franken über Jahre hinweg recht stabil bei rund 1,50 Franken je Euro. Das hat sich mit dem Ausbruch der Griechenland-Krise im Frühjahr 2010 grundlegend geändert. Innerhalb von 15 Monaten wertete sich der Schweizer Franken so stark auf, dass er im August 2011 die Parität zum Euro zu erreichen drohte. Nach längerem Zögern zog die Schweizerische Nationalbank am 6. September 2011 die Notbremse und kündigte eine Kursuntergrenze von 1,20 Franken pro Euro an. Seither bewegt sich der Kurs knapp oberhalb dieses Zielwertes. Die Intervention war im Prinzip erfolgreich, aber der Schweiz ist damit nicht wirklich geholfen. Zum einen ist die Kursuntergrenze im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 1999 bis 2009, der bei 1,55 Franken lag, immer noch sehr ungünstig für die schweizerische Wirtschaft. Spürbare Rückgänge bei den Exporten und den Logiernächten sind die Folge. Zum anderen konnte mit den Interventionen der Zufluss ausländischer Mittel nicht gestoppt werden, da diese weniger spekulativer Natur sind, sondern in erster Linie von der Sorge getrieben sind, dass es zu Austritten einzelner Länder aus dem Euro kommt. Insgesamt beliefen sich die Schweizer Devisenreserven Ende Juni 2012 auf 365 Milliarden Franken. Das entspricht rund 67 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Schweiz. Wer heute glaubt, dass die Rückkehr zur D-Mark wieder in eine heile Welt führt, dürfte bitter enttäuscht werden. Wahrscheinlich würde es Deutschland wie Japan ergehen. Ähnlich wie die alte D-Mark würde eine neue D-Mark zum Klub der Währungen gehören, für die bei den Märkten eine ungeschriebene Konvention besteht, dass sie grundsätzlich eine Aufwertungstendenz aufweisen. Die dann wieder für die D-Mark verantwortliche Bundesbank würde sehr lange warten, bis sie eine Aufwertung der D-Mark stoppen würde. Zum einen gibt es bei Notenbankern häufig das irrationale Gefühl, dass nur eine starke Währung eine gute Währung ist. Zum anderen werden Devisenmarkt-Interventionen von vielen Ökonomen sehr kritisch gesehen. In ihre von Marktgläubigkeit geprägte Welt passt es einfach nicht, wenn eine staatliche Institution in Marktmechanismen eingreift. Und sie lassen sich davon auch dadurch nicht abbringen, dass – wie in zahllosen ökonometrischen Studien gezeigt – keinerlei systematische Zusammenhänge zwischen makroökonomischen Fundamentaldaten (Wirtschaftswachstum, Inflationsraten, Außenhandel) und dem Wechselkurs bestehen. Bei den Ökonomen der Bundesbank kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass sie diese Skepsis gegenüber Devisenmarkt-Interventionen uneingeschränkt teilen würden. Die wiedereingeführte D-Mark würde also über Jahre hinweg sehr kräftig aufgewertet. Da dies die Wettbewerbsfähigkeit unserer Exportwirtschaft gravierend beeinträchtigen würde, träten alsbald renommierte Ökonomen auf den Plan, die massive Lohnkürzungen forderten. Und natürlich wären die deutschen Arbeitnehmer bereit, alles für die Sicherung ihrer Arbeitsplätze zu tun. Sinkende Löhne würden den Weg in die Deflation einleiten. Das wiederum würde die Schuldenstandsquote Deutschlands (bei der das nominale Bruttoinlandsprodukt im Nenner steht) nach oben treiben, selbst wenn der deutsche Staat keine neuen Schulden mehr aufnähme. Wie in Japan wäre außerdem zu befürchten, dass auf jede Lohnzurückhaltung eine neue Aufwertungswelle folgt. Irgendwann könnte es dann auch der Bundesbank zu viel werden, sodass sie sich zu aktiven Interventionen durchringen müsste. Die Erfahrungen Chinas, Japans und der Schweiz zeigen, dass dies zu sehr hohen Devisenbeständen führen kann. Auf die deutsche Wirtschaftsleistung bezogen, ergäben die in relativ kurzer Zeit angehäuften Devisenreserven der Schweiz einen Betrag von rund 1700 Milliarden Euro. Wenn man für eine Rückkehr zur D-Mark plädiert, weil man nicht länger für andere Länder haften will, sollte man sich die Erfahrungen Chinas, Japans und der Schweiz genau ansehen. Sie haften uneingeschränkt für die von ihnen erworbenen Staatsanleihen der Vereinigten Staaten (und im Fall der Schweiz für Anleihen aus dem Euro-Raum), ohne dass sie die geringste Möglichkeit haben, auf die Wirtschaftspolitik des Schuldnerlandes einzuwirken. Der Text ist ein Auszug aus dem Buch “Zurück zur D-Mark?” des Ökonomen Peter Bofinger.
Massive Verschärfung des deflationären Drucks
Japan kaufte Dollar-Bestände
Chinas Transferunion mit den USA
Die Schweiz, das jüngste Opfer der Devisenmärkte
Die Welt der neuen D-Mark wäre keine heile Welt
Sinkende Löhne und die Deflationsgefahr
Elf Tage im Februar – München 1970
Es war ein kalter, aber schöner Tag. In München lag Schnee und die Sonne schien. Doch der Eindruck eines lichten Wintertages trog. In Wirklichkeit war der 18. Februar 1970 ein düsterer, äußerst bedrückender Tag. Nicht grundlos sprach Oberbürgermeister Vogel davon, dass über der Stadt “dunkle Schatten” lägen. Er hatte Trauerbeflaggung für alle staatlichen Gebäude angeordnet. In München waren acht Juden ermordet worden. Das sagte niemand so, aber es war so. An diesem Tag kamen in der Aussegnungshalle des Israelitischen Friedhofs an der Ungererstraße Hunderte von Menschen zusammen, die der Opfer gedenken wollten, die zwei Terroranschläge in der Woche zuvor gekostet hatten. Begonnen hatte es am 10. Februar, dem letzten Faschingstag. Bei dem Versuch dreier palästinensischer Terroristen, auf dem Flughafen Riem eine El-Al-Maschine zu entführen, war ein Handgemenge entstanden. Handgranaten flogen, Schüsse fielen. Ein Israeli, Sohn eines vor den Nazis aus Deutschland geflohenen Juden, kam ums Leben, elf weitere Passagiere, darunter eine berühmte Schauspielerin, wurden schwer verletzt. Drei Tage später war es weitergegangen. In dem in der Reichenbachstraße gelegenen Gemeindehaus der Israelitischen Kultusgemeinde war kurz nach Beginn des Sabbats gegen neun Uhr abends ein Feuer ausgebrochen. Ein Unbekannter war mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren und hatte im hölzernen Treppenhaus Stockwerk für Stockwerk einen Aral-Kanister geleert und, wieder im Eingangsbereich angekommen, das Öl-Benzingemisch angezündet. Die Flammen breiteten sich in rasender Geschwindigkeit aus; im Nu war eine Sogwirkung wie in einem Kamin entstanden. Die Eingeschlossenen hatten kaum eine Chance. Einer rief in Todesangst aus einem der Fenster: “Wir werden vergast!” Bei dem Brandanschlag wurden sieben ältere Menschen, allesamt NS-Überlebende, getötet und 15 verletzt. Vier Tage später rückte erneut der Riemer Flughafen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Drei Palästinenser, die in einer jugoslawischen Maschine wegen ihrer ausgebeulten Manteltaschen das Misstrauen des Kapitäns ausgelöst hatten, waren vom Bundesgrenzschutz verhaftet worden. Auch sie wollten eine El-Al-Maschine entführen. Einen Tag später fand die Trauerfeier für die Opfer des Brandanschlags und der gescheiterten Flugzeugentführung statt. Wie bedeutsam dieser Akt war, ließ sich schon daran erkennen, dass an ihm auch Bundespräsident Heinemann teilnahm. Die wichtigste Rede hielt Innenminister Hans-Dietrich Genscher. Es war eine der eindrucksvollsten Ansprachen, die ein Bundespolitiker bis dahin gehalten hatte. Und es war eine Art öffentlichen Gelöbnisses für die in der Bundesrepublik lebenden Juden. Genscher erklärte: “Das deutsche Volk wird niemals mehr zulassen, dass auf seinem Gebiet Gewalt und Terror regieren. Es wird niemals mehr zulassen, dass bestimmte Gruppen außerhalb der Gesellschaft von Menschen gestellt werden. Sie alle, die Sie heute hier sind, sind Zeugen dieses Versprechens.” Das war ein Wort. Gegeben vom Innenminister persönlich. Von nun an stand der Staat selbst im Wort. Doch das, was sich am 10. und am 13. Februar abgespielt hatte, war immer noch nicht alles, was diese Wintertage an Schreckensmeldungen zu bieten hatten. Einige Tage später verlagerten sich die terroristischen Aktivitäten um einige hundert Kilometer an zwei andere Orte. Im Frachtraum einer Maschine der “Austrian Airlines”, die sich auf dem Flug von Frankfurt nach Wien befand, um von dort nach Tel Aviv zu fliegen, riss am Vormittag des 21. Februar eine Explosion ein Loch in den Bug. Dem Piloten gelang es gerade noch, auf dem Rhein-Main-Flughafen notzulanden. Zwei Stunden später startete vom Flughafen Kloten bei Zürich eine weitere Maschine in Richtung Tel Aviv. Auch die Coronado der “Swissair” hatte eine Bombe an Bord. Sie explodierte ebenfalls nach Erreichen einer bestimmten Flughöhe. Wieder versuchte der Flugkapitän die Notlandung einzuleiten. Doch es war zu spät. Das Feuer breitete sichaus, im Cockpit verhinderte dichter Qualm eine kontrollierte Steuerung. Das Flugzeug stürzte nur wenige hundert Meter vom schweizerischen Atomreaktor Würenlingen entfernt ab. Dabei kamen alle Passagiere und Besatzungsmitglieder ums Leben, insgesamt 47 Menschen. Ihre Körper wurden so sehr zerstückelt, dass eine Identifikation der Opfer nicht mehr gelang. Es war das erste Mal in der Geschichte des Terrorismus, dass ein Zivilflugzeug mit einer Bombe vom Himmel geholt worden war. Die Sprengstoffpakete, die die Explosionen verursacht hatten, waren an Scheinadressen in Jerusalem adressiert und am 20. Februar auf Postämtern in Frankfurt und München aufgegeben worden. Dahinter steckte eine Kommandogruppe der Palästinenser. Ihr Kopf hatte die Verbrechen von München aus organisiert und sich mit seinem Auto in Richtung Jordanien absetzen können. Eine derartige Serie von Terroranschlägen hatte es mitten in Europa zuvor noch nicht gegeben. Insbesondere Israel und die Jüdischen Gemeinden waren tief verunsichert. Hans Lamm, der kurz darauf sein Amt als Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde antrat, kommentierte die Schreckensmeldungen mit den Worten: “Kein Ereignis der 25 Nachkriegsjahre hat sie so sehr erschüttert und ergriffen: keine Friedhofsschändung und nicht die Kölner Ereignisse von 1959, kein Prozess und kein antisemitischer Skandal.” Nicht wenige ihrer Mitglieder dachten unweigerlich, nun ginge alles wieder von vorne los. Noch etwas anderes beunruhigte sie. Im Laufe dieser Tage hatte sich in der bayerischen Landeshauptstadt eine bis dahin unbekannte Untergrundgruppierung zu Wort gemeldet. Am 20. Februar traf im Münchner dpa-Büro ein Drohbrief ein, der sich gegen Richter und Staatsanwälte richtete. Unterzeichnet war das Papier, in dem Freiheit für einen ehemaligen, wegen Fahnenflucht zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilten Kommunarden gefordert wurde, mit den in einem fünfzackigen Stern montierten Initialen “TM”. In der Nacht vom 22. zum 23. Februar warfen Unbekannte Molotow-Cocktails in das Wohnzimmer jenes Amtsgerichtsrats, der den APO-Aktivisten verurteilt hatte. Der Schaden blieb zwar begrenzt, die Gefahr jedoch war erheblich. Erst Passanten, die den Feuerschein entdeckten, gelang es, den schlafenden Juristen zu alarmieren und Schlimmeres abzuwenden. Nicht nur die zeitliche Koinzidenz zwischen den im Laufe von noch nicht einmal zwei Wochen begangenen Anschlägen rief die Ermittler auf den Plan. Die Initialen “TM” standen für “Tupamaros München”. Bei der Gruppe handelte es sich um eine Schwesterorganisation der “TW”, den “Tupamaros West-Berlin”, die seit einem Vierteljahr die Berliner Polizei mit einer Serie von Anschlägen in Atem hielten. Als ihr Kopf galt der untergetauchte Ex-Kommunarde Dieter Kunzelmann. Und als Anführer der “TM” ein anderes Mitglied der einstigen “Kommune I”, dessen publizitätsträchtiger Gefährte Fritz Teufel. Sollte es etwa einen Zusammenhang zwischen den Aktionen der Palästinenser, dem Brandanschlag auf das Israelitische Gemeindehaus und den Anschlägen der “Tupamaro”-Ableger gegeben haben? Zumindest einen Zeitzeugen gab es, der eine solche Verbindung für gegeben hielt. Es war mit Heinz Galinski der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Berlin. In einem Kommentar schrieb er, dass sich “die drohende Zuspitzung” bereits im Vorjahr in Charlottenburg angekündigt hätte. Während einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der sogenannten “Reichskristallnacht” hatten die dortigen “Tupamaros” eine Bombe in das Gemeindehaus in der Charlottenburger Fasanenstraße gelegt. Gerade weil sie nicht hochgegangen war, sah Galinski darin die Antizipation des am 13. Februar verübten Mordanschlags in der Münchner Reichenbachstraße. Seiner Einschätzung nach schien im zweiten Anlauf den Attentätern das offenbar “gelungen” zu sein, was sie bereits drei Monate zuvor im Schilde geführt hatten. Im April 1970 meldete sich nun jener Mann zu Wort, von dem seit 2005 bekannt ist, dass er es war, der hinter dem Berliner Bombenanschlag stand. In einer Ausgabe der linken Subkultur-Zeitung “Agit 883” erschien ein von Kunzelmann verfasster “Brief aus Amman”. Wie ein erster, ein halbes Jahr zuvor veröffentlichter war er jedoch nicht in Jordanien, sondern im Berliner Untergrund verfasst worden. Wann beginne endlich, appellierte er darin an seine Leser, “der organisierte Kampf gegen die heilige Kuh Israel”? Palästinensische “Todeskommandos” wie das auf dem Flughafen München-Riem müssten “durch besser organisierte zielgerichtetere” ersetzt werden – durch deutsche Guerillakommandos. Kunzelmann ließ es sich zudem nicht nehmen, den heimtückischen Brandanschlag auf das israelitische Gemeindehaus in der Reichenbachstraße zu kommentieren. Er versuchte, den Juden selbst die Schuld an der Mordaktion in die Schuhe zu schieben, und behauptete, dass “Zionisten” hinter dieser Schreckenstat stünden. Das Motiv für “das zionistische Massaker” bestünde darin, dass sie damit unter den in Deutschland lebenden Juden Angst und Schrecken verbreiten wollten, um sie zur Emigration nach Israel zu drängen. Die Urheber dieses Mordanschlags konnten trotz der höchsten bis dahin ausgesetzten Belohnung in der Kriminalgeschichte der Bundesrepublik nicht ermittelt werden. In diesem Zusammenhang war auch nach dem untergetauchten Teufel gefahndet worden. Am 12. Juni 1970 wurde er schließlich wegen des Verdachts, an diversen Brandanschlägen beteiligt gewesen zu sein, in Schwabing verhaftet. Kunzelmann ging am 19. Juli in West-Berlin Zivilbeamten ins Netz, als er am Flughafen auf seine aus Amman eintreffende Gefährtin Ina Siepmann wartete. Sie hatte dort mit den Guerilleros der Fatah kooperiert und war so etwas wie die Residentin der “Tupamaros” bei den Palästinensern. In Kunzelmanns Unterschlupf fand die Polizei zahllose Unterlagen – Briefe, Notizen und ein Tagebuch. Aus ihnen gingen nicht nur Kontakte mit den Palästinensern hervor, sondern auch Überlegungen zum Ausspähen von Flughäfen. In einem von Georg von Rauch, einem weiteren Mitglied der “Tupamaros”, verfassten, 36 Seiten starken Papier fanden sich darüber hinaus Planungen für Anschläge auf die Münchner Olympiade. Je näher die XX. Olympischen Spiele dann rückten, umso mehr schien alles, was sich im Februar 1970 abgespielt hatte, vergessen zu sein. Die Monate vor der Eröffnung waren von Hektik und Vorfreude geprägt. Die Organisatoren schienen sich einig darin, einen Gegenentwurf zur Nazi-Olympiade von 1936 und damit ein anderes Deutschland präsentieren zu wollen, eines das aus der Vergangenheit gelernt hatte. Nichts und niemand erinnerte noch daran, was sich zweieinhalb Jahre zuvor abgespielt hatte. Weder die Münchner, weder die Bayern noch die Vertreter des Bundes, aber auch die Israelis nicht. Dann geschah, womit – bis auf einen Psychologen – keiner gerechnet hatte. Die israelischen Sportler wurden von einem Kommando der Palästinenser überfallen und als Geiseln genommen. Als sich zwei Israelis zu wehren versuchten, wurden sie erschossen. In den Stunden danach begannen Verhandlungen mit dem Sprecher der Geiselnehmer. Wer kennt sie nicht, die Aufnahmen, auf denen zu sehen ist, wie in der Connollystraße des Olympischen Dorfes der Anführer der Geiselnehmer mit den Deutschen verhandelt hat? Es waren der bayerische Innenminister Bruno Merk, der Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber und Bundesinnenminister Genscher, jene beiden Politiker und jener Polizeichef, die zweieinhalb Jahre zuvor zum Flughafen Riem sowie zur Brandstätte in der Reichenbachstraße gerufen worden waren und die auch an der Trauerfeier in der Ungererstraße teilgenommen hatten. Wird einem von ihnen bewusst gewesen sein, dass sie es eigentlich hätten besser wissen müssen? Schließlich hatten sie hautnah miterlebt, welchen Anschlägen Israelis und Juden bereits zuvor ausgesetzt waren. Sie hatten am 10. Februar die Blutlachen in der Abfertigungshalle gesehen und wenige Tage später das ausgebrannte Treppenhaus des Israelitischen Gemeindehauses, in dem sieben Holocaust-Überlebende umgekommen waren. Jeder weiß, was anschließend in der Nacht vom 5. auf dem 6. September 1972 am Fliegerhorst der Bundesluftwaffe in Fürstenfeldbruck geschehen ist. Auch dort waren Merk, Schreiber und Genscher unmittelbar vor Ort. Sie waren nicht nur Zeugen des Desasters, das zum Tod aller Geiseln geführt hatte, sie waren auch die Hauptverantwortlichen dafür, dass dies überhaupt hatte geschehen können. Wird sich Genscher in dieser Situation oder in den Tagen darauf noch daran erinnert haben, was er den Angehörigen der jüdischen Opfer erklärt hatte? Er hatte das Versprechen nicht einlösen können. Es hatte keinen Schutz für die erneut Bedrohten gegeben. Die elf Tage, die im Februar 1970 nicht nur München, sondern ein ganzes Land erschütterten, hätten ein Menetekel sein müssen. Doch die Schrift an der Wand war von niemandem gelesen worden. Die Politiker wollten sich nicht erinnern, die Polizisten nicht, die Juristen nicht, die Journalisten nicht und auch die Bevölkerung nicht. Es war wie eine einzige große Amnesie. Diese Geschichte liegt nun schon weit über vierzig Jahre zurück. Doch sie ist längst noch nicht zu Ende. Wer sich eingehend mit den Ermittlungsakten befasst, dem drängt sich der Eindruck auf: Einige der Schuldigen für den Mordanschlag in der Reichenbachstraße, für das schlimmste nach 1945 in Deutschland begangene antisemitische Verbrechen, leben mitten unter uns. Sie dürften nur zu genau wissen, was geschehen würde, wenn einer von ihnen auszupacken begänne und endlich darüber redete, wie es zu dem Brand überhaupt kommen konnte. Die Münchner Kriminalpolizei hatte damals nichts unversucht gelassen, um die Täter zu fassen. Vergeblich. Es hatte ein paar Festnahmen gegeben, die Indizien reichten jedoch nicht aus, um auch nur gegen einen Einzigen Anklage zu erheben. Vor zwei Monaten hat die ARD nun einen Aufsehen erregenden Dokumentarfilm namens “München 1970” gezeigt, in dem die Zusammenhänge einem größeren Publikum in Grundrissen vor Augen geführt worden sind. Seitdem soll in bestimmten Kreisen Nervosität ausgebrochen sein. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob sich nach so langer Zeit doch noch etwas tut und es für die jüdischen Opfer zumindest ein spätes Zeichen der Gerechtigkeit geben wird. Wolfgang Kraushaar hat sich als Historiker der Protestbewegung einen Namen gemacht. 2008 erschien sein Buch “Achtundsechzig”. Sein bereits angekündigtes Buch “München 1970: Die Anschlagsserie im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1972” hat sein Verlag ohne Kommentar zurückgezogen. Nun erscheint es bei Rowohlt im Frühjahr.
Quelle: Welt, 22.9.2012
US Energy Independence Is a Pipedream
This piece originally appeared on TomDispatch.
Last winter, fossil-fuel enthusiasts began trumpeting the dawn of a new “golden age of oil” that would kick-start the American economy, generate millions of new jobs, and free this country from its dependence on imported petroleum. Ed Morse, head commodities analyst at Citibank, was typical. In the Wall Street Journal he crowed, “The United States has become the fastest-growing oil and gas producer in the world, and is likely to remain so for the rest of this decade and into the 2020s.”
Once this surge in U.S. energy production was linked to a predicted boom in energy from Canada’s tar sands reserves, the results seemed obvious and uncontestable. “North America,” he announced, “is becoming the new Middle East.” Many other analysts have elaborated similarly on this rosy scenario, which now provides the foundation for Mitt Romney’s plan to achieve “energy independence” by 2020.
By employing impressive new technologies — notably deepwater drilling and hydraulic fracturing (or hydro-fracking) — energy companies were said to be on the verge of unlocking vast new stores of oil in Alaska, the Gulf of Mexico, and shale formations across the United States. “A ‘Great Revival’ in U.S. oil production is taking shape — a major break from the near 40-year trend of falling output,” James Burkhard of IHS Cambridge Energy Research Associates (CERA) told the Senate Committee on Energy and Natural Resources in January 2012.
Increased output was also predicted elsewhere in the Western Hemisphere, especially Canada and Brazil. “The outline of a new world oil map is emerging, and it is centered not on the Middle East but on the Western Hemisphere,” Daniel Yergin, chairman of CERA, wrote in the Washington Post. “The new energy axis runs from Alberta, Canada, down through North Dakota and South Texas… to huge offshore oil deposits found near Brazil.”
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Michael T. Klare is a professor of peace and world security studies at Hampshire College and the author of “Resource Wars,” “Blood and Oil,” and “Rising Powers, Shrinking Planet: The New Geopolitics of Energy.” More Michael Klare.
„Feindbild Israel – Antisemitische Stereotype im Nahostkonflikt“
Am Abend des 15. Mai referierte Dr. jur. Tilman Tarach in den Räumen der Universität Rostock zum Thema: „Feindbild Israel – Antisemitische Stereotype im Nahostkonflikt“. Den rund 50 Teilnehmern an unserer Veranstaltung legte der Autor des Bandes „Der ewige Sündenbock“ (4. Aufl. 2011) in anschaulicher Weise das Fortleben des Antisemitismus in Gestalt des Antiisraelismus dar. Seitdem sich vor 64 Jahren die neugegründete israelische Republik – durch „die beiden bedeutsamsten Beteiligten der Anti-Hitler-Koalition, nämlich die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten“ am 15. Mai 1948 diplomatisch anerkannt – ihre Souveränität gegen die Aggressionshandlungen fünfer arabischer Staaten erfolgreich verteidigte, gebe es – so Tarach – in Deutschland keine Antisemiten mehr, sondern „nur noch Israelkritiker“. So würde Hitler heute durchaus „keine NSDAP gründen, sondern möglicherweise ein Palästina-Solidaritäts-Komitee, und Goebbels würde nicht den totalen Krieg proklamieren, sondern den totalen Frieden mit dem iranischen Mullah-Regime“, so wie Günter Grass es kürzlich getan habe. In diesem Kontext erinnerte Tarach daran, dass bereits Hitler „nicht nur bekennender Antisemit war, sondern auch bekennender und praktizierender Antizionist, im Grunde ein Israelkritiker ante datum“, und dass sich der Schulterschluss zwischen Nazis und Muslimbrüdern 1948/49 in dem ersten arabischen Versuch, Israel auszulöschen, fortsetzte. 1941 hatte Hitler postuliert: „Der Versuch, einen Judenstaat zu gründen, wird ein Fehlschlag sein“. Über das Verhältnis der zeitgemäßen Antisemiten zu ihrem aktuellen Hoffnungsträger, der Islamischen „Republik“ Iran, deren Repräsentanten offen und unverhüllt die Vernichtung der jüdischen Republik propagieren, führte Tarach aus: „Mit Gleichgültigkeit oder mit klammheimlicher Freude akzeptieren sie eine Atomwaffe für ein Regime, das schon bisher europäische Staatsbürger mit dem Tode bedroht – wie den britischen Staatsbürger Salman Rushdie, dessen japanischer Übersetzer in Folge der Fatwa ermordet wurde; ein Regime, welches iranische Oppositionelle auch im Ausland ermordet, unter anderem im Berliner Restaurant Mykonos; ein in Köln lebender iranischer Musiker musste wegen einer Morddrohung per Fatwa aus dem Iran erst vor einigen Tagen untertauchen, weil der deutsche Staat ihn im Stich lässt; ein Regime, das jede Freiheitsbewegung im eigenen Land niederknüppelt, Schwule aufhängt, und die etwa 300.000 iranischen Angehörigen der Bahai-Religion in einer Art und Weise verfolgt, die tatsächlich vergleichbar ist mit der Verfolgung der Juden unter den Nazis in den 1930er Jahren. Ein Regime, das beispielsweise 1994 den mörderischen Anschlag auf ein jüdisches Zentrum in Buenos Aires zu verantworten hat, der 85 Menschen das Leben kostete. Ein Regime schließlich, welches die Hisbollah und die Hamas mit Geld und Waffen ausstattet, damit das Ziel eines judenfreien Nahen Ostens Wirklichkeit wird.“ „Was meinen Sie“, gab Tarach zu bedenken, „wie diese Finsterlinge und ihre Stellvertreter erst agieren werden, wenn sie Nuklearwaffen haben?“ Als eine „besonders üble Verleumdung“ wertete Tarach Grass‘ Insinuation, Israel erwäge einen nuklearen Angriff auf den Iran. Diese Lüge entspreche „der klassischen antisemitischen Vertauschung von Opfer und Täter. Es gehört zum uralten Standardrepertoire der Judenhasser, die Juden als Angreifer zu halluzinieren, wie beispielsweise auch die Nazi-Parole ‚Wehrt Euch, kauft nicht bei Juden‘ zeigt.“ Sodann dekonstruierte Tarach am Beispiel der Äußerungen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Dr. Norbert Nieszery, der Grass‘ Verleumdung als „sachliche Kritik an Israel“ bezeichnet hatte, zwei Propagandaschlagwörter: das des ‚Rechtes auf Israelkritik‘ und jenes der ‚besonderen deutschen Verantwortung‘ für die Lösung des Nahostkonflikts. Das ‚Recht auf Israelkritik‘ erweise sich „als Forderung, üble Verleumdungen gegen den jüdischen Staat verbreiten zu dürfen. Und zwar unwidersprochen verbreiten zu dürfen, denn wer das Wort erhebt gegen diese sich als verfolgte Unschuld präsentierenden Leute, der will ja, so heißt es dann, Israelkritiker mittels der Antisemitismuskeule zum Schweigen bringen.“ Im Hinblick auf Nieszerys Postulat, „auch – vielleicht sogar besonders – als Deutscher“ vor einer israelischen Bedrohung des Weltfriedens zu warnen, wie Grass es tat, bemerkte der Referent: „Diese Leute erinnern an Familienväter, die ihre Kinder prügeln und dabei stets betonen, nur das Beste zu wollen. Glücklicherweise sind die Deutschen aber nicht die Erziehungsberechtigten des jüdischen Staates, auch wenn sie sich oft so aufführen.“ Unter Berufung auf die „besondere deutsche Verantwortung für Israel“ sei „noch selten etwas Vernünftiges gesagt worden. Haben Sie schon mal einen dieser deutschen besonders Verantwortlichen davon reden hören, gerade wir als Deutsche dürften zum palästinensischen Judenhass nicht mehr länger schweigen? Es wäre geradezu erfrischend zu hören, man sei doch nur Palästinakritiker, habe aber nichts gegen Muslime, und gerade als Deutscher müsse man schließlich die palästinensische und insgesamt arabische Politik doch wohl noch kritisieren dürfen, ohne deswegen gleich in die philosemitische Ecke gestellt zu werden.“ Summa summarum: „Der besonders verantwortliche Deutsche demonstriert zwar möglicherweise im Rahmen eines ‚Aufstandes der Anständigen‘ gegen die NPD, doch die vom iranischen Regime geförderten Gruppen wie Hamas oder Hisbollah, die den Holocaust mitunter keineswegs leugnen, sondern die ihn nicht selten feiern und erklären, ihn vollenden zu wollen, die lassen ihn kalt. Wer aber über Ahmadinedschad, über die Hamas und die Hisbollah nicht reden will, der sollte zur NPD dann doch besser schweigen.“ In Anbetracht eines „Palästina“-Lobbyismus, der – etwa in Gestalt der antiisraelischen Ausstellung „Nakba“ – mit Unterstützung gerade der deutschen Amtskirchen „einen regelrechten Heimatvertriebenen-Kult“ betreibe, ging Tarach ausführlicher auf den Mythos von einer durch die israelische Staatsgründung verursachten Entrechtung der arabischen Palästinenser ein. Hierbei stellte er heraus, dass die unerfreuliche Situation der außerhalb Israels lebenden Palästinenser „Folge des Angriffskrieges ist, den die arabische Seite 1948 gegen Israel begonnen hatte, mit dem erklärten Ziel, den neugegründeten Staat zu zerstören und die Juden zu töten oder zu vertreiben“. In diesem Zusammenhang machte Tarach darauf aufmerksam, dass der Staat Israel zur neuen Heimat auch für etwa eine Million Juden wurde, die den Judenverfolgungen in den arabischen Staaten entkamen. Über diese „vergessene jüdische Nakba“ stellte er fest: „Die Gesamtfläche der entschädigungslos zurückgelassenen Grundstücke der Juden in den arabischen Staaten beträgt nach Schätzungen orientalischer Juden das Vier- bis Fünffache der Fläche Israels. Das mag überraschen, aber bedenken Sie bitte, dass die Fläche Israels gerade einmal 1,5 Promille der Fläche aller Staaten der Arabischen Liga ausmacht. Den Angriffen auf die Juden der arabischen Welt gingen keine Provokationen voraus; die Juden hatten auch durchaus keinen Krieg gegen diese arabischen Staaten geführt oder propagiert. Und einige der von der Arabischen Liga koordinierten gesetzlichen Maßnahmen lassen sich durchaus mit den Nürnberger Gesetzen vergleichen, was den besonders verantwortlichen Deutschen jedoch nicht weiter kümmert, ebenso wenig wie die UNO. Seit 1947 wurden zum Nahostkonflikt etwa 700 UN-Resolutionen verabschiedet, mehr als einhundert davon befassen sich direkt oder indirekt mit der angeblichen oder tatsächlichen Not der palästinensischen Flüchtlinge. Nicht eine einzige thematisiert ausdrücklich das Schicksal jüdischer Flüchtlinge aus den arabischen Ländern.“ Tarach verwies auf die Tatsache, dass die über eine Million arabischer Nichtjuden in Israel bürgerliche Rechtsgleichheit genießen, wohingegen Jordanien, der Gazastreifen und die palästinensischen Autonomiegebieten „judenfrei“ seien, was die sogenannten Nahostexperten in Europa nicht kümmere und wogegen wahrscheinlich auch Nieszery, gerade als Deutscher, nichts habe. Nachdem der Referent auch am Beispiel der etwa 680 Raketen und Mörsergranaten, die im Jahr 2011 auf Gemeinden in Südisrael abgefeuert wurden, vor Augen führte, dass der vielfach als Maulheldentum verniedlichte antijüdische Djihadismus fortlaufend das Leben und die körperliche Unversehrtheit von Juden (aber auch von nichtjüdischen Israelis) bedroht, schloss er mit den Worten: „… es ist die oft so übel verleumdete israelische Armee, die sich dem entgegenstellt. Ihr Wesen und ihre Aufgabe besteht darin, zu verhindern, dass die Gegner Israels diesem Ziel eines judenfreien Palästinas näherkommen.“ In unmittelbarem Anschluss an den Vortrag kam es zu einer Reihe interessierter, auch kritischer Nachfragen sowie zu einem regen Gedankenaustausch, in dessen Rahmen die Themenkomplexe der Einwanderungs- und Integrationspolitik Israels, die gegenüber Israel seitens einer ‚antinationalistischen‘ Linken an den Tag gelegten Doppelstandards sowie die den Nahostkonflikt und dessen Ideologisierung maßgeblich beeinflussenden Traditionen des islamischen wie des christlichen Antijudaismus erörtert wurden. Unsere Rostocker Hochschulgruppe betrachtet ihre erste öffentliche Veranstaltung auf dem Campus der Universität Rostock als einen Erfolg, der für uns ein entscheidender Ansporn ist für die Planung von Veranstaltungen in ähnlichem Rahmen noch im Laufe dieses Sommersemesters. Daniel Leon Schikora Sprecher der Hochschulgruppe Rostock der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG)
Charlie Hebdo: Islam 2
Source, 9/22/2012
Charlie Hebdo is doing what it is supposed to do: satire.
The Financial Times Deutschland on Thursday, 9/20/2012, writes: “Since Islam has become starkly polarized — spurred on by Iran and Saudi Arabia — the fear of religious fundamentalists has grown in the West. It is the fanatics that perpetrate violent acts, not mere caricatures. As such, people in the West have become fearful of saying, drawing or, in the case of the controversial Muhammad film, making available the wrong thing.” “In any case, very few people have actually seen the film — only the trailer is widely available. And in some Muslim countries, Internet access to the trailer has been blocked. Nevertheless, fanatics who are fighting for power and followers — or are eager to distract attention from their own misdeeds — took to the streets. And had it not been because of some obscure film or caricatures, some other excuse would have been found. The film and caricatures merely provide an opportunity for violence, but they are not its cause.”
Henryk M. Broder: Wie unerzogene Kinder aus dem 7. Jahrhundert
Der Infantilismus der Demonstranten, die untereinander mit Handys kommunizieren, ansonsten aber in der steinigen Welt des 7. Jahrhunderts leben, färbt auf deren Versteher ab. Hieß es nach der Fatwa gegen Salman Rushdie, die “Satanischen Verse” seien kein literarisches Meisterwerk, sondern vor allem dazu bestimmt, die Gefühle der Moslems zu verletzen, hat man die Mohammed-Karikaturen, die in der dänischen Zeitung “Jyllands Posten” erschienen sind, als “primitiv” und “künstlerisch wertlos” abgetan, so ist es “diesmal ein dumm-dreister Film, in dem der Prophet Mohammed und der Islam auf ideologisch üble und dazu noch handwerklich billige Weise verächtlich gemacht werden” – als ob die Qualität des Film das wäre, was die Moslems zur Rage treibt. Nimmt jemand an, die Söhne Allahs würden begeistert Beifall klatschen, wenn es nicht “ein dumm-dreister” und “handwerklich billiger” Film wäre, sondern ein Meisterwerk von Pasolini oder Tarantino? Man könne, so sagen es die Völkerpsychologen und Islam-Experten, den Moslems so etwas nicht zumuten, die wären noch nicht so weit, Häme und Spott gegenüber ihrer Religion auszuhalten, ohne aus der Haut zu fahren. Man müsse ihnen noch etwas Zeit lassen. Wer so argumentiert, ist nicht nur ein Kulturrelativist, er ist ein subtiler Rassist. Er müsste konsequenterweise den Moslems auch raten, längere Strecken mit dem Kamel statt mit dem Flugzeug zurückzulegen und ihnen den Zugang zum Internet verbieten. Denn: Die sind noch nicht so weit. Wer aber eine Reise im Internet bucht und dann nach München oder Zürich fliegt, um sich dort in einer Klinik behandeln zu lassen, dem kann auch zugemutet werden, dass er nicht ausrastet, wenn seine Religion ins Lächerliche gezogen wird. Erst vor ein paar Wochen hat die “Titanic” eine geschmacklose, dumm-dreiste und handwerklich billige Satire auf den Papst veröffentlicht, die unbemerkt geblieben wäre, wenn der Papst nicht versucht hätte, die Verbreitung des Heftes zu verhindern. Aber: Der Pontifex schickte weder die Schweizer Garde los, um die Redaktion abzustrafen, noch hat er seine Anhänger – immerhin über eine Milliarde Menschen – aufgerufen, Botschaften zu stürmen. Er ließ über seine Anwälte den Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung stellen. Einen Tag vor dem angesetzten Termin zur Verhandlung, zogen die Anwälte den Antrag zurück. So hatten die Papstkritiker gleich zweimal Grund zur Freude. Dennoch hat kein katholischer Dschihadist zum Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen aufgerufen. Und das ist nicht die Ausnahme, das ist die Regel. Der Film “Paradies: Glaube”, eine Co-Produktion von WDR und arte mit Unterstützung etlicher Filmfonds, wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. In dem Film geht es um eine “missionarische Krankenschwester” namens Anna Maria, “die ihre Liebe zu Jesus bis ins Extrem treibt”. Soll heißen: Anna Maria masturbiert mit einem Kruzifix. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie die Reaktionen in der moslemischen Welt ausgefallen wären, wenn Anna Maria nicht ein Kruzifix sondern einen den Moslems heiligen Gegenstand benutzt hätte. Keine Jury der Welt hätte es gewagt, einen solchen Film auch nur ins Programm zu nehmen. Und man braucht noch weniger Fantasie, um sich die Reaktionen von Claus Kleber und der Kommentatoren beim “Stern”, bei der “SZ” und der “FR” vorzustellen: “Dumm-dreist, primitiv, eine Provokation”. Insofern misst der Westen, der seine Freiheit nicht daheim, sondern am Hindukusch hinter den Karawanken verteidigt, mit zweierlei Maß. Wir sind moralisch dermaßen gefestigt, dass wir solche Provokationen aushalten können. Sie, die Moslems, müssen es noch lernen. Und weil das noch eine Weile dauern kann, sollten wir uns zurücknehmen. Innenminister Friedrich hat bereits angekündigt, er werde “mit allen rechtlich zulässigen Mitteln” eine Vorführung des Films “Die Unschuld der Muslime” verhindern, nicht etwa um das deutsche Publikum vor einem billigen Machwerk zu schützen, sondern damit nicht noch mehr “Öl ins Feuer” gegossen werde. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Ruprecht Polenz, will sogar den Paragrafen 166 des StGB angewandt wissen, der die Störung des “öffentlichen Friedens” unter Strafe stellt. Da hilft nur eines: Der Besuch in einer Oase der Vernunft, dem arabischen Sender Al-Jazeera. Der meldet, immer mehr Syrer wunderten sich darüber, dass ein Video über Mohammed in der islamischen Welt für mehr Aufregung sorgt als das Blutbad in Syrien. “Liebe Moslems”, schreibt ein Leser, “unser Prophet wäre über die Morde, die Assad in Syrien begeht, viel mehr beleidigt als über irgendeinen respektlosen Film”.
Die Demonstranten benehmen sich wie Kinder
Die Papst-Satire wäre unbemerkt geblieben
Der Westen misst mit zweierlei Maß
Source: Die Welt, 17.9.2012
Ayaan Hirsi Ali: “Der Westen sollte endlich seine Werte verteidigen”
Die Welt: Eine neue Episode der weltweiten Gewalt und Proteste gegen die Beleidigung des Propheten Mohammed hat begonnen – diesmal ausgelöst durch ein unbedeutendes Youtube-Video. Es gab in der Vergangenheit bereits eine Fatwa (islamisches Rechtsgutachten) gegen den Autor Salman Rushdie, gewaltsame Proteste gegen dänische Mohammed-Karikaturen und Ihren eigenen Fall – Ihren Film über Frauen im Islam, nach dessen Veröffentlichung ihr Filmpartner Theo van Gogh von militanten Muslimen umgebracht wurde und Sie untertauchen mussten. Ist bei den Protesten diesmal etwas anders als bei den vorherigen? Ayaan Hirsi Ali: Ich würde sagen, dass diese Ausschreitungen alle aus einem Guss sind, denn sie haben alle den selben Ursprung: eine politische Ideologie eingebettet in eine 1400 Jahre alte Religion und Kultur, die keinen Platz bietet für Kritik an ihrem kulturstiftenden Vater und den heiligen Texten. Sobald es um den Koran geht und den Propheten, fühlen sich Muslime beleidigt durch jegliche Arbeit, die sie diesen beiden Symbolen gegenüber als respektlos empfinden: vom aktuellen Koran-Projekt in Deutschland, das eine ernsthafte wissenschaftliche Arbeit darstellt, bis hin zum berüchtigten Video auf Youtube. Für den Durchschnitt der Muslime ist das alles gleichermaßen ein Angriff auf ihren Glauben. Die Welt: Ein Unterschied zu den Protesten in der Vergangenheit ist, dass sie diesmal in der Folge des “arabischen Frühlings” stattfinden. Mittlerweile können die Massen ihre Meinung frei äußern und haben Führungen wie die Muslimbrüderschaft in Ägypten gewählt. Jetzt sind die Islamisten der Mainstream und sie sind so wütend wie die Menschen, die der Westen sonst als militanten Rand bezeichnet hat. Wie schätzen Sie das ein? Ayaan Hirsi Ali: Was wir in der Folge der Proteste in der arabischen Welt sehen, ist eine Abneigung gegenüber tyrannischer Herrschaft – egal, ob es ein säkularer Diktator oder eine religiöse Monarchie ist. Dort, wo die Diktatur gestürzt wurde, sehen wir – und das habe ich immer gesagt – eine starke Unterstützung für Regierungen, die sich auf dem politischen Islam gründen. Die Hauptströmung der Bruderschaft hat nie ein Geheimnis aus ihrer Zustimmung zu einem politischen und moralischen Rahmen gemacht, der auf islamischen Rechtsgrundsätzen basiert. Deswegen sollte es uns nicht überraschen, dass die Führer der Muslimbrüderschaft sich durch die negative Darstellung ihrer moralischen Richtlinien beleidigt fühlen. Die Welt: Während US-Präsident Barack Obama nach den Ausschreitungen an der Meinungsfreiheit festhält, sagt der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die Beleidigung des Propheten könne nicht als Meinungsfreiheit angesehen werden. Lassen sich diese konträren Positionen vereinbaren? Ayaan Hirsi Ali: Für mich symbolisiert das den “Kampf der Kulturen”, den Samuel Huntington im Jahr 1993 beschrieben hat. Es ist eine unangenehme Realität, der sich beide Kulturen gegenüber sehen: Es gibt gewisse Werte, bei denen können ihre Träger keinen Kompromiss eingehen. Premierminister Erdogan ist unermüdlich damit beschäftigt, Initiativen im Namen der islamischen Nationen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit für eine Gesetzgebung durch die Kanäle des internationalen Gesetzes zum Verbot der Blasphemie voranzubringen. Präsident Obama hat der islamischen Welt unermüdlich mitgeteilt, dass Amerika Freundschaft und Frieden mit den Muslimen auf der ganzen Welt anstrebt. Er hat gelobt, die amerikanischen Truppen aus dem Irak und aus Afghanistan abzuziehen. Er stand auch dem Sturz von Diktatoren, die Verbündete der USA waren, nicht im Weg. Und er hat Israel und einem Teil der jüdischen Bevölkerung in den USA vor den Kopf gestoßen, indem er versucht hat zu zeigen, dass die Palästinenser ebenso ein Partner der USA seien wie die Israelis. In Wirklichkeit ist keiner der beiden Anführer oder der Menschen, die ihn gewählt haben, darauf vorbereitet, dem anderen zu geben, was er möchte: Präsident Obama oder irgendein anderer amerikanischer Präsident wird keinen Kompromiss bei der Meinungsfreiheit eingehen. Und Ministerpräsident Erdogan oder irgendein anderer muslimischer Führer wird sich nicht zurücklehnen und Blasphemie gegen islamische Symbole akzeptieren. Die Welt: Die Demokratisierung der Medien bedeutet, dass jeder auf der ganzen Welt Videos versenden kann – und diese auch von jedem gesehen werden können. Das birgt gewisses Konfliktpotenzial… Ayaan Hirsi Ali: Genauso ist es. Westliche Staaten beruhen auf dem Prinzip, dass der freie Meinungsaustausch von der Verfassung geschützt ist. So ist den Filmemachern in Hollywood oder den großen Verlagshäusern in New York nichts heilig: Wenn ein Film gut ist, erhält er einen Oscar. Ist er schlecht, wird er in den Rezensionen zerrissen. Dabei ist kein Thema tabu, ob es nun um Jesus Christus, Sex, Geld, Schwule, Juden oder Frauen geht. Erdogan und der ägyptische Präsident Mohammed Mursi wollen offenbar nicht verstehen, dass in einer Verfassungsdemokratie der Premier oder Präsident gar nicht die Macht und das Recht haben, die freie Meinungsäußerung einzuschränken. Wenn Obama sagt, der islamfeindliche Film sei unwürdig und repräsentiere nicht die Meinung der US-Regierung, ist das eben nur seine Privatmeinung – und nicht das Gelöbnis, die Macher des Films zu bestrafen. Die Welt: Was soll der Westen also tun? Ayaan Hirsi Ali: Als die einzig verbliebene Supermacht stehen die USA vor der großen Herausforderung, so weit es geht Konflikte zu vermeiden. Das ist umso schwieriger, als der amerikanische Einfluss abnimmt und der seiner Feinde wächst. Im Verhältnis zur muslimischen Welt hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten Folgendes gezeigt: Zu propagieren, dass sich gegenseitig ausschließende Moralvorstellungen vereinbaren lassen, löst das Problem nicht – ganz im Gegenteil, es verzögert nur die unausweichliche Auseinandersetzung in diesem ideologischen Streit. Amerika wird genauso wenig von der Meinungsfreiheit abweichen, wie die Muslime nicht akzeptieren werden, dass eine Beleidigung ihrer religiösen Ikonen straffrei bleiben darf. Von daher ist der einzige Ausweg eine wahrhafte Auseinandersetzung, bei der jede Seite versucht, der anderen zu beweisen, dass die jeweiligen Wertvorstellungen überlegen sind. Mit anderen Worten: Der Westen sollte endlich aufhören mit der moralischen Relativierung und damit beginnen, seine Werte zu verteidigen. Das wird im Endeffekt weniger Leben kosten, als sich vorübergehend mit Diktatoren und Tyrannen zu verbünden.
Erich Mühsam: Bismarxismus
Freiheit ist ein religiöser Begriff. Wer mit dem Ziele der Freiheit Revolutionär ist, ist ein religiöser Mensch, Revolutionär sein ohne religiös zu sein, heißt mit revolutionären Mitteln andre als freiheitliche Ziele ansreben. Anders gesagt: Revolutionäre Entschlossenheit kann aus einer seelischen Not stammen, aus dem Empfinden der Unerträglichkeit von Zwang, Gesetz und Entpersönlichung – dann ist sie religiös; sie kann auch stammen aus der nüchternen Errechnung von Zweckmäßigkeit, wenn sich unter ihren Faktoren die Revolution als unumgängliches Mittel erwiesen hat – dann ist sie positivistisch. Der Positivist, – das ist der kirchliche Mensch im Gegensatz zum religiösen, der Leugner der Wildheit, des Rausches und der Utopie: der Dogmatiker und Fatalist, dem die Freiheit eine Kleinbürger-Phantasie und der Kampf ums Dasein eine Bestimmungs-Mensur scheint. Hier wird zu Revolutionären gesprochen, deren revolutionäres Ziel die Freiheit ist. Freiheit ist ein gesellschaftlicher Zustand, dessen Fundament die freiwillige Vereinbarung der Menschen zu gemeinsamer und einander ergänzender Arbeit und zur gegenseitigen Verbürgung des Lebens und seiner Güter bildet. Der gesellschaftliche Zustand der Freiheit beruht auf der Freiheit der Persönlichkeit, die Freiheit des Einzelnen aber findet ihre Grenze an der Freiheit der Gesamtheit; denn wo nicht alle Menschen frei sind, kann keiner frei sein. Das Ringen um diese Freiheit, die unvereinbar ist mit irgend welcher Art Obrigkeit, gesetzlichem Zwang, angeordneter Disziplin oder staatlicher Gewalt, ist die religiöse Idee der Anarchie. Zu ihrer Verwirklichung bedarf es der revolutionären Umwälzung der Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen, will sagen der Schaffung der materiellen Basis, auf der allein Freiheit möglich ist: das ist ökonomische Gleichheit. Wir Anarchisten sind Sozialisten, Kollektivisten, Kommunisten, nicht weil wir in der gleichmäßigen Regelungen von Arbeitsleistung und Produktenverteilung die letzte Forderung menschlicher Glückseligkeit erfüllt sähen, sondern weil uns kein Kampf um geistige Werte, um Vertiefung und Differenzierung des Lebens möglich scheint, – und eben dieser Kampf ist der Sinn der Freiheit –, solange die Menschen unter ungleichen Bedingungen geboren werden und heranwachsen, solange geistiger Reichtum in materieller Armut ertrinken, geistige und seelische Armseligkeit im Glanze erkaufter Macht und Bildung als Reichtum strahlen kann. Gleichheit hat mit dem, was heute Demokratie heißt, nicht das mindeste zu schaffen. Die Gleichheit der bürgerlichen Demokratie beschränkt sich auf die Anerkennung, daß jede zur Stimmabgabe zugelassene Person als eine Stimmeinheit zu zählen sei. Dabei ist die Mehrheit der Stimmen selbstverständlich immer der Klasse verbürgt, die durch ihre wirtschaftlichen Privilegien fast den gesamten Beeinflussungsapparat beherrscht; überdies sind aber die Institutionen, für die gewählt werden darf, ihrer Art nach nur geeignet, Bestehendes zu erhalten und zu verwalten. Mag die Mehrheit der Wähler immerhin mit revolutionären Absichten votieren, die Gewählten, welcher Programmrichtung sie auch angehören mögen, können in ihren Körperschaften niemals anders als konservativ handeln. Sozialismus und Freiheit ist auf dem Wege der Demokratie nicht zu erlangen; Demokratie aber im Sinne von Freiheit und Gleichheit ist nur auf dem Boden des restlos verwirklichten Sozialismus möglich. Diese eigentliche Demokratie, die die Herrschaft der Gesamtheit über sich selbst, das ist die Selbstbeherrschung jedes Einzelnen im Bewußtsein seiner gesellschaftlichen Mission, bedeutet, bedingt wirtschaftliche und rechtliche Gleichheit, die die Voraussetzung aller Freiheit ist. Nirgends in der Welt steht der religiöse Drang nach Freiheit tiefer im Ansehn als bei den Deutschen. Der Positivismus, als philosophisches Prinzip von dem Franzosen Comte aufgerichtet, fand seinen realen Nährboden in dem Lande, das schon den Sieg des brutalen Rationalisten Martin Luther über den glühenden Weltstürmer Thomas Münzer erlebt hatte. Das ist die ganze Geschichte Deutschlands: immer und überall zertrampelt das Schema und die Formel den lebendigen Geist, die Schulweisheit den Impuls des Inneren Wissens, die Kirche die Religion. Der stärkste Geist der deutschen Geniezeit, Goethe, imponiert den Deutschen nicht durch seine apollinische Natur, sondern durch seine robuste Lebensauffassung, und sie verehren ihn, weil er seinen phänomenalen Verstand so gut bürgerlich zu kleiden wußte und weil er den Oberlehrern die bequeme Phrase des gesättigten Appetits geliefert hat, daß, wo Gleichheit sei, keine Freiheit bestehn könne. Von den innigsten Geistern jener Zeit, Hölderlin und Jean Paul, weiß der Deutsche wenig, und warum der Versuch der Romantiker, vor den Stiefeltritten des Preußenschneids in Mythologie und Mystizismus zu flüchten, in fade Sentimentalität umschlug, um endlich vom Literatentum der Börne und Laube im Positivismus begraben zu werden – darüber machen sich die Leute keine Gedanken. Das junge Deutschland – das war literarischer Positivismus, verschärft mit Hegelei. Der Positivismus, die Philosophie der nüchternen Gegebenheiten, die letzten Endes Gelehrsamkeit mit Wirklichkeit verwechselt, und der Hegalinianismus, das uniforme Metternichtum des Geistes, dessen apodiktische Abstraktionen und dialektische Gaukeleien den Irrsinn produzieren, alles Wirkliche vernünftig zu finden, – diese beiden Denkfesseln mußten sich gleichzeitig um die Willensgelenke der Deutschen legen, um ihre beste Eigenschaft, den Kosmopolitimus, zu vernichten und an seiner Stelle im Geistigen, wie im Politischen den Zentralismus, das natonale Reglement, das „;Staatsbewußtsein“; wachsen zu lassen. Das Preußentum, das Luthertum – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der Kapitalismus Deutschland zu industrialisieren begann, gebar es aus der Banalität der konkretesten und der Verschrobenheit der abstraktesten aller Philosophien die Theorie seiner Geistverlassenheit und der in kapitalistischen Formen entbrannte Klassenkampf in Deutschland sah die Gegner auf beiden Seiten den gleichen philosophischen Strick ergreifen, – nur faßten ihn beide am entgegengesetzten Ende an. Bismarck spaltete Deutschland und schuf das zentrale Reichsgebilde mit dem Preußenkönig als Kaiser an der Spitze, so den Boden bereitend für die hemmungslose Entfaltung des kapitalistischen Besitzmonopols; Karl Marx spaltete die Arbeiter-Internationale, warf Bakunin und alle Revolutionäre hinaus, die der Selbstverantwortlichkeit des Proletariats, seinem Freiheitswillen und seiner Entschlußkraft mehr zutrauten als den Rechenkünsten festbesoldeter Revolutions-Manager und machte aus der Religion des Sozialismus die Kirche der Sozialdemokratie. Bismarck arrangierte drei Kriege, um den Agrar-, Industrie-, und Börsenkapitalisten die nötige Ellenbogenfreiheit für die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft zu schaffen; Marx schrieb eine für die Zeit ihres Entstehens meisterhafte, aber sehr professorale Analyse des Kapitals, die er mit einer von Hegel entlehnten abstrakten Philosophie garnierte, wonach der Kapitalismus die naturnotwendige Konsequenz der sich am Faden der historischen Dialektik abspulenden Menschheits-Entwicklung sei und der historische Materialismus sein Aufschwellen bis zu der Überfülle bedinge, die ihn unter Nachhilfe der unausweichlichen proletarischen Revolution von selber platzen lassen werde. Bismarck praktizierte den Obrigkeitsstaat, dessen Machtfundament von der Kommandogewalt des Unteroffiziers über den Rekruten gestützt wurde; Marx kopierte in Partei und Gewerkschaft die Disziplin und den Drill, die Subordination und Schnauzerei des Kasernenstaates und übernahm dazu von der katholischen Kirche die Unfehlbarkeit des Papstes und Avancement-Stufenfolge nach dem Grade ergebener Frömmigkeit. Bismarck endlich ordnete seinen Staat nach dem Prinzip des autoritärsten Zentralismus, wie es den Wünschen und den Interessen der ausbeutenden Bourgeoisie entsprach, und Marx proklamierte diese Organisationsform als die dem Proletariat nach der Machtergreifung ebenfalls gemäße des „;Arbeiterstaates„;. So wuchsen im neuen Deutschen Reich zwei feindliche Stämme aus derselben Wurzel, einer öden und phantasielosen Autoritätslehre; genährt von den gleichen Kräften, gedanken- und begeisterungsloser Disziplin und anspruchsvollem und gänzlich unfruchtbarem Bürokratismus; beide entschlossen, jede Konkurrenz mit allen Mitteln der Macht oder doch des Machtwillens niederzuschlagen: Bismarck den nationalen Kapitalismus anderer Länder, Marx die revolutionären Sozialisten, die weder von Marxens fatalistischer Theorie noch von Bismarcks allgemeinem Wahlrecht Gebrauch zu machen wünschten und keine Staaten zu erobern sondern alle zu zerstören trachteten, um statt ihrer die von keinen Staatsgrenzen getrennt arbeitenden Menschen nach eigenen Ratschlüssen produzieren und konsumieren zu lassen. Die peinlichste Ähnlichkeit der beiden Stämme, die in Deutschland als bismarcksche kapitalistische Staatsmacht und als marxsche doktrinäre Arbeiterbewegung zu den Sternen strebte, die ihnen nicht leuchteten, war der völlige Mangel an jeder schöpferischen Originalität, die völlige Abwesenheit aller religiösen Inbrunst, in Wesen und Ziel der völlige Verzicht auf jedwede Freiheit. Dieser Mangel, verbunden mit Anmaßung, Pedanterie, Bürokratendünkel, Paragraphenbesessenheiten und Schulmeisterei – das ist der deutsche Kujonengeist, dem die herrschende Klasse ihren stumpfsinnigen Aufstieg von gepflegter alter Kultur zur Geldmacht und einem komfortablen Stande auf dem internationalen Sklavenmarkt verdankt, und der die deutsche Arbeiterbewegung immer weiter vom Sozialismus weg auf den Weg der Resignation und zur inneren Fäulnis und Kampfunfähigkeit geführt hat. Es ist das, was ich, den ganzen Jammer unsrer Zeit umfassend, Bismarxismus nenne. Die Parallele von Bismarcks untheoretischer Praxis und Marxens unpraktischer Theorie hat schon vor 5 1/2 Jahrzehnten Michael Bakunin gezogen, der von oberflächlichen Beurteilern vielfach als Antisemit und Deutschlandfeind ausgegeben wird. Er war beides nicht und hat sich ausdrücklich dagegen verwahrt, für das Eine oder das Andere gehalten zu werden. Dennoch tobt er in seinen Polemiken immer wieder mit wütendem Haß gegen „die Deutschen“ und „die Juden“. Mögen unsere Hakenkreuz-Teutonen wissen, daß Bakunin beide Ausdrücke gebrauchte, um ein und dieselbe Eigenschaft damit zu bezeichnen, eben die, für die ich das Wort Bismarxismus vorschlage. Bakunin schimpfte auf die deutschen Juden und auf die jüdischen Deutschen und meinte den von dem Deutschen Bismarck und von dem Juden Marx in gleicher Feindschaft gegen Menschenwert und Freiheit geübten Geist der Despotie und der zentralistischen Autorität; unter diesem Gesichtspunkt identifizierte er die Begriffe Deutschtum und Judentum volständig, selbstverständlich in vollem Bewußtsein dessen, daß er damit nur eine einzige Untugend charakterisiere, für die ihm eine bestimmte Art Deutsche und eine bestimmte Art Juden repräsentativ schienen. Michael Bakunin ist nun über 50 Jahre tot. Die trostlosen Prophezeiungen, die er der proletarischen Revolution für den Fall hinterließ, daß die Bismärckerei Europa und die Marxerei die Arbeiterbewegung verseuche, sind in fürchterlichem Maße Wahrheit geworden. Aber schon neigen sich die Schatten des Untergangs über beide Infektionsgebiete. Wenn ich hier einmal das Wort von der „Todeskrise des Kapitalismus“ übernommen habe, so irrt der Genosse, der mich darum angriff, wähnend auch ich hätte mich nun der fatalistischen Ideologie des Marxismus ergeben, die die Weltgeschichte nach ehernen Gesetzen und unabhängig vom aktiven Tatwillen der Menschen in „naturnotwendiger“ Entwicklung dialektisch ihr Pensum erledigen sieht. Im Gegenteil: Ich stimme vollständig überein mit der Ansicht Gustav Landauers, daß jederzeit und überall die Beseitigung des Kapitalismus und die Aufrichtung des Sozialismus möglich ist, wenn die Menschen das Notwendige veranstalten, um die revolutionären Bedingungen dazu zu schaffen. Die „Todeskrise des Kapitalismus“ ist für mich nicht eine Erscheinung der göttlichen Vorsehung, die uns berechtigen könnte, geruhsam zuzusehen, wie jetzt das bestehende Wirtschaftssystem automatisch zusammenkrachen und an seiner Stelle ebenso gottgewollt und unausbleiblich ein neues sozialistisches und in der Reihenfolge marxistisch errechneter „Phasen“ aufblühen werde. Von dieser Krise nehme ich aber untrügliche Erscheinungen wahr, deren erste und verständlichste der Weltkrieg mit seinen für die kapitalistische Maschinerie unreparierbaren Folgen war; das Erkennen dieser Krise hat mit Fatalismus nichts zu tun, sondern verpfichtet zum Eingreifen, damit die krepierende Bestie nicht in der Agonie die Keime vernichtet, aus denen Revolution, Sozialismus und Freiheit erwachsen sollen. Das Verrecken des Kapitalismus in seiner bisherigen Form bedingt keineswegs das Entstehen des Sozialismus an seiner Stelle. Ein andrer, vielleicht besser organisierter Kapitalismus kann, wenn die revolutionären Sozialisten die Todeskrise nicht durch den Todesstoß beschleunigen, sehr wohl der Ausbeutung in veränderten Formen neue und noch erweiterte Möglichkeiten schaffen. Bleibt der Staat in irgend einer Gestalt am Leben, dann hat der Kapitalismus und mit ihm der Positivismus, das Kirchentum des Lebens, mit einem Wort der Bismarxismus freies Feld. Die Todeskrankheit des Kapitalismus ist aber zugleich die Todeskrankheit des Marxismus. Heute steht ja, zumal in Deutschland, die Arbeiterbewegung fast ausnahmslos auf dem Boden dieser fatalistischen Lehre, und Sozialdemokraten und Unabhängige, rechts- und linksbolschewistische Kommunisten, KAPisten und Unionisten aller Schattierungen sieht man sich unter Aufwand haarsträubender Rabulistik gegenseitig die Bibel des garntiert wissenschaftlichen Sozialismus, die Marxdoktrin, auslegen. Am Bibelwort selbst zu rühren, die Heilswahrheit des gesamten Marxismus anzuzweifeln, das wagt keiner von ihnen allen, das ist unter Sozialisten ein solche Verbrechen, wie bei den Bismarck-Epigonen die Verneinung der Notwendigkeit des großpreußischen Deutschen Reiches. Und siehe: die Bejahung dieser Notwendigkeit geschieht nirgends so überzeugungsvoll wie bei den sozialdemokratischen und kommunistischen Marxisten. Jene 1918/19, diese 1923: Bismarxismus auf der ganzen Linie Ist das zu verwundern? Der Marxismus – Landauer weist in seinem herrlichen „Aufruf zum Sozialismus“ nachdrücklich darauf hin – beschäftigt sich in allen seinen theoretischen Schriften nirgendwo mit dem Sozialismus, er erschöpft sich in der Analyse und Kritik des Kapitalismus. Indem er aber ausgeht von der Hegelschen Lehre der Vernünftigkeit alles Seienden und die unausweichliche Notwendigkeit der kapitalistischen Periode behauptet, ja, ihre Fortentwicklung bis zum Kulminationspunkt in die Zukunft hinein zur Grundlage seiner Revlutionslehre macht, bejaht er zunächst alle Voraussetzungen des Kapitalismus, und so bejaht er den Staat, den Zentralismus, das Autoritätsprinzip, alles, worauf der Kapitalismus ruht. Das Proletariat kann nicht zu Freiheit und Sozialismus kommen, ehe es nicht auch in der Idee vom Staat losgekommen ist. Es kann nicht vom Staat loskommen, ehe es nicht in seinem eigenen Befreiungskampf die Lehren verwirft, die die Stützen jedes Staatsglaubens sind: Autorität und Disziplin, Zentralismus und Bürokratismus, Positivismus und Fatalismus. Die Wissenschaft, sagt Bakunin, hat das Leben zu erhellen, nicht zu regieren. Führerin im Kampf sei dem revolutionären Proletariat nicht die anfechtbare Wissenschaft des Marxismus, der nicht andres ist als Bismarxismus, sondern der unanfechtbare religiöse Glaube an sein Recht und seine Kraft, der Haß gegen die Ausbeutung und der Wille zur Freiheit!
Aus „Fanal, Anarchistische Monatszeitschrift“, Jg. 1, Nr. 5, Februar 1927
Quelle