Vereint gegen Israel? Die DDR und der Linksterrorismus

Vereint gegen Israel? Die DDR und der Linksterrorismus

11. Oktober 2011 21:43 1.458 mal gelesen
2 Kommentare                      Source

Angesichts der Brandanschläge auf die
Bahn in Berlin und Brandenburg warnt die Gewerkschaft der Polizei bereits vor
einer neuen RAF. Eine ahistorische Einschätzung – aus zahlreichen Gründen. So
gab es im Gegensatz zu heute beispielsweise in den 1970er und 1980er Jahre einen
Linksterrorismus in verschiedenen Ländern – und die Terroristen wurden aus dem
Ostblock unterstützt. Eine Kontinuität zu Teilen der heutigen linksradikalen
Szene gibt es aber: Die Ideologie des Anti-Imperialismus, welche die Welt
übersichtlich in gut (unterdrückte Völker) und böse (Imperialisten) aufteilt.
Wie die DDR und der westdeutsche Linksterrorismus vereint gegen Israel agierten,
zeigt der folgende Beitrag.

Von Martin Jander (Jander hielt
diesen Vortrag auf Einladung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin und
Potsdam)

Besonders stolz macht mich, dass mich Dr. Martin
Kloke für diesen Vortrag angefragt hat, der, wie Sie hoffentlich alle wissen,
das maßgebliche Buch über das Verhältnis der deutschen Linken nach dem
Nationalsozialismus zu Israel[1] verfasst
hat.

Ich kam zu diesem Thema auf verschiedenen Wegen.
Ich habe an der Freien Universität in West-Berlin Geschichte, Germanistik und
Politische Wissenschaften studiert und begann ausgerechnet im Frühjahr 1974. Am
9. November des Jahres starb, nach einem langen Hungerstreik der Häftlinge der
ersten Generation der Rote Armee Fraktion (RAF) Holger Meins. Man muss
genauer sagen, er hat sich zu Tode gehungert. Das Thema RAF und
bewaffneter Terrorismus hat mich seither nicht mehr losgelassen. Ich wollte und
will verstehen, was das eigentlich war.

Grabstätte von Holger Meins auf dem Friedhof Hamburg-Stellingen

Grabstätte von Holger Meins auf dem Friedhof
Hamburg-Stellingen

Ich will nicht verhehlen, dass ich damals sehr
empört und skeptisch reagierte, als die Nachricht vom Tod Holger Meins
veröffentlicht wurde, ein RAF-Sympathisant war und wurde ich freilich nicht.

Das Thema Deutsche Demokratische Republik (DDR)
lag in der Zeit, in der ich studierte, in Westberlin, gewissermaßen vor der
Haustüre. Viele meiner Kommilitonen haben sich zwar mit dieser
Nachbargesellschaft nicht eingehender befasst. Ich verliebte mich 1979 in eine
Frau aus Ost-Berlin, sie hat mich in die Dissidentenszene der DDR eingeführt und
seit dieser Zeit hat mich auch dieses Thema nicht mehr losgelassen. Ich hatte
damals nur ein sehr vages Bild von dieser marxistisch-leninistischen
Nachfolgegesellschaft des Nationalsozialismus. Das hat sich dann ziemlich bald
geändert.

Vor einiger Zeit, als Wolfgang Kraushaar vom
Hamburger Institut für Sozialforschung mit der Vorbereitung seiner großen
Linksterrorismus-Recherche begann[2], erhielt ich den
Auftrag, verschiedene Aspekte des Themas zu bearbeiten.

DDR und westdeutscher
Linksterrorismus?

Wenden wir uns zunächst der Frage zu, ob es eine
Kooperation der DDR mit westdeutschen linksterroristischen Gruppen wirklich
gegeben hat.

Dies ist eindeutig mit Ja zu beantworten. Ich
hatte Gelegenheit, den großen Fundus an Akten zur RAF zu durchforsten, die das
Hamburger Institut für Sozialforschung zusammengetragen hat. Darunter befinden
sich auch viele Kopien von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit.
Allerdings ist die wissenschaftliche Forschung zum Thema nicht eben sehr
breit.[3] Heute gibt es
aber gar keinen Zweifel mehr daran, dass diese Kooperation existierte.

In der Bundesrepublik wurde lange über die
Existenz der Beziehungen zwischen der DDR und den linksterroristischen Gruppen
nur spekuliert. So zum Beispiel wies der DDR- und Stasi-Experte Karl Wilhelm
Fricke in seinem Werk Die Staatssicherheit von 1982[4], unter Verweis
auf das ein Jahr zuvor erschienene Buch von Claire Sterling mit dem Titel
Das internationale Terror-Netz[5]
auf die Beziehungen hin. Fricke hatte 1982 geschrieben: Das Ministerium für
Staatssicherheit (MfS) „bot neben Zuflucht in Notfällen falsche Papiere, Geld,
paramilitärische Ausbildung, geschützte Einreise- und Ausreiserouten sowie eine
Art Schließfachsystem für die gelagerten Waffen.“[6]

Die besten und umfangreichsten Studien stammen
auf jeden Fall von Tobias Wunschick, einem Mitarbeiter der Gauck-Behörde, der
schon seit einigen Jahren zu diesem Thema forscht und publiziert. Ich will Ihnen
zu Beginn einfach eine kleine Chronologie zu den Beziehungen der DDR zur RAF und
anderen linksterroristischen Gruppen vorstellen. Häufig werden diese Beziehungen
einfach abgestritten. Erst 1990, mit der Verhaftung der RAF-Mitglieder, die sich
in den 80er Jahren in die DDR abgesetzt hatten und dann mit der Öffnung der
Archive des MfS, erhielten Öffentlichkeit und Forschung qualifizierte Hinweise
auf die Existenz dieser Beziehungen.

 (Unvollständige) Chronologie: 1970 –
1990

Der erste bislang bekannte Kontakt zwischen RAF
und DDR stammt aus dem Jahr 1970. Von Juni bis August 1970, hielten sich etwa 20
Mitglieder der RAF (nach der Befreiung Andreas Baaders aus der Haft am 14. Mai
1970) zu einem militärischen Training in einem Lager der El Fatah in
Jordanien auf. Am 17. August des Jahres hat Ulrike Meinhof, lange Zeit Mitglied
der illegalen KPD in der Bundesrepublik, in der DDR nachgefragt, ob die Gruppe
nicht die DDR als Ausgangsbasis für ihre Anschläge in der Bundesrepublik nutzen
könne.[7] Dies wurde
abgelehnt.

Im selben Zusammenhang gab es einen weiteren
Kontakt. Das damalige RAF-Mitglied Hans Jürgen Bäcker wurde auf seiner Rückreise
aus Jordanien nach Westberlin von DDR-Grenzbeamten festgehalten. Er wurde
ausführlich zu den Mitgliedern der Gruppe und ihren Vorhaben befragt und gab
bereitwillig Auskunft.[8] So hatte die DDR
zu einem sehr frühen Zeitpunkt offenbar bereits sehr gute Kenntnisse über
Personen und Strukturen bewaffneter Gruppen in der Bundesrepublik.

Im November 1973 nahm die DDR-Grenzpolizei Bommi
Baumann fest und übergab ihm dem MfS zu einer ausführlichen Befragung. Er war
wegen eines gefälschten Ausweises festgenommen worden. Baumann war in einer
Zwangslage. Er wurde wegen schwerwiegender Verbrechen in der Bundesrepublik
gesucht. Das MfS schätzte, er hätte eine Strafe von insgesamt 20 Jahren zu
erwarten gehabt. Die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit machten
ihm klar, dass man ihn auch sofort ausliefern könne. Also gab er mehrere Wochen
lang bereitwillig Auskunft. Das MfS erarbeitete aus seinen Aussagen eine Art
„Who is who“ des bewaffneten Kampfes. Dann entließ man ihn nach Westberlin.[9]

1975 entstand im MfS die Hauptabteilung XXII.[10] Diese
Abteilung sollte terroristische Organisationen aus dem links- und rechtsextremen
Spektrum erfassen und – soweit möglich – infiltrieren. Man beschäftigte sich mit
Gruppen wie z.B. der Aktionsfront Nationaler Sozialisten, der
Kampfgruppe Priem, der Abu-Nidal-Gruppe, den italienischen
Roten Brigaden, der Rote Armee Fraktion, der Bewegung 2.
Juni
und auch den Revolutionären Zellen. Vor allem ging es darum,
die terroristische Szene detailliert auszuforschen und Sicherheitsprobleme für
die DDR rechtzeitig zu erkennen und entsprechend Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Einer der Hauptgründe für die Entstehung dieser Abteilung war die Furcht der
DDR, sie war 1973 in die UNO aufgenommen worden, sie selbst und ihre
diplomatischen Vertretungen im Ausland könnte Ziel von Anschlägen von
terroristischen Gruppen werden. Heute kann man nachweisen, dass es gerade diese
Abteilung XXII war, die auch für die Kooperation mit den Terroristengruppen
zuständig war.

Kontakte im Sinne einer tatsächlichen
Zusammenarbeit und Absprache mit Linksterroristen entwickelte das MfS – nach
heutigem Kenntnisstand – zuerst zu Inge Viett im Jahr 1978. Viett, damals noch
Mitglied der Bewegung 2. Juni, wurde bei einer Transitreise durch die
DDR vom Leiter der Abteilung XXII des MfS, Harry Dahl, festgehalten und zu ihren
Auffassungen zur DDR befragt. Harry Dahl stellte sich als „Genosse“ vor. Man
machte ihr zwar klar – so jedenfalls Viett in ihren Erinnerungen – dass die DDR
terroristische Aktionen ablehne, aber Transitreisen – auch nach in
Westdeutschland durchgeführten Aktionen – genehmigen werde.[11] Man bedeutete
ihr, „dass wir“ – so formulierte Viett es später selbst – „in Zukunft relativ
sicher die Grenzen zur DDR passieren könnten.“[12]

Gerade dies war von unschätzbarem Vorteil für
Angehörige der Bewegung 2. Juni, die nämlich im Mai desselben Jahres
einen ihrer Genossen, Till Meyer, aus dem Gefängnis in Westberlin befreiten und
sich – mit der Zusage Dahls im Rücken – in kürzester Zeit durch den Übertritt
nach Ostberlin der Verfolgung der Westberliner Polizei entziehen konnten. Die
Gruppe floh weiter nach Bulgarien.

Später hat das MfS Inge Viett erneut geschützt.
Viett und andere wurden am 27. Juni 1978 in Prag durch tschechische
Sicherheitsorgane festgenommen und dem MfS übergeben. Eine interne MfS-Analyse
berichtet den weiteren Ablauf knapp: „In der Zeit vom 28. Juni bis 12. Juli
waren sie in der DDR in einem konspirativen Objekt untergebracht und wurden
anschließend unter operativer Kontrolle nach Bagdad/Irak ausgeflogen, wo sich
nach eigenen Angaben ihre Operationsbasis befindet.“[13]

Historische Originalbeschreibung: Auf einem eindrucksvollen Kampfmeeting im Palast der Republik zum 35. Jahrestag der Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit sprach der Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker. (Quelle: Bundesarchiv)

Historische Originalbeschreibung: Auf einem
eindrucksvollen Kampfmeeting im Palast der Republik zum 35. Jahrestag der
Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit sprach der Generalsekretär des ZK
der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker. (Quelle:
Bundesarchiv)

Über Inge Viett, deren Gruppe Bewegung 2.
Juni
, sich etwa 1980 in die RAF auflöste, wurde später auch die
Unterbringung von RAF-Aussteigern organisiert. Die Intensivierung der Kontakte
des MfS zu linksterroristischen Gruppen in der Bundesrepublik und Westberlin bis
hin zur Aufnahme von „Aussteigern“ ermunterte diese, in der DDR um finanzielle
und andere materielle Unterstützung nachzufragen. Dies wurde zurückgewiesen,
allerdings stellte man militärische Kenntnisse bereit. In den Jahren 1980 bis
1982 fanden zwei- bis dreimal jährlich Treffen zwischen RAF-Mitgliedern und
MfS-Vertretern statt.[14] Wolfgang Beer,
Adelheid Schulz und Inge Viett wurden auf einem Stasi-Gelände trainiert.[15]
Pikant dabei war, die genannten waren damals als Terroristen noch aktiv. Sie
lernten z. B. die Bedienung einer sowjetischen Panzerfaust. Eine solche Waffe
war im September 1981 bei einem Mordanschlag auf den US-General Kroesen
verwendet worden. Da die Angaben über den Zeitpunkt des Waffentrainings
differieren, ergaben sich Spekulationen darüber, ob das MfS an dem Anschlag
indirekt beteiligt war.[16] Ein späteres
Verfahren jedoch wurde eingestellt.[17] Wesentliche
Informationen lieferte das MfS aber Angehörigen der RAF darüber, welche
Fandungsmaßnahmen das Bundeskriminalamt gegen Mitglieder der RAF einleitete. Da
man über einen Spitzel im Bundeskriminalamt verfügte, war dies möglich.[18]

1982 landete das Mitglied der Terrorgruppe
Revolutionäre Zellen Johannes Weinrich auf dem Ost-Berliner Flughafen
Schönefeld. Er wurde von einem Mitarbeiter der Abteilung XXII in Empfang
genommen, man ließ ihm die mitgeführte Waffe, die ebenfalls mitgeführten 25 Kilo
Sprengstoff nahm man ihm ab.

Bei mehreren Einreisen in die DDR bemühte sich
Weinrich später, den Sprengstoff wieder ausgehändigt zu bekommen, dies
verweigerte das MfS jedoch, da zu befürchten war, Weinrich würde ihn im Westen
einsetzen, um ein anderes Mitglied der Revolutionären Zellen, Magdalena Kopp,
die in Frankreich verhaftet worden war und außerdem die Freundin des
internationalen Top-Terroristen Carlos war, freizupressen: „Das MfS“ – schreibt
Tobias Wunschik – „fürchtete, Weinrich könne von Ost-Berlin aus im Westteil der
Stadt zur Tat schreiten und dadurch die DDR in den Augen der Weltöffentlichkeit
dem – nicht unberechtigten – Vorwurf aussetzen, sie würde den internationalen
Terrorismus unterstützen.“[19]

Man verlangte deshalb von Weinrich eine
Erklärung, den Sprengstoff nicht in der Bundesrepublik oder Westberlin
einzusetzen. Weinrich versprach dies und sicherte sogar zu, „Carlos“ werde
zeitweilig auf Anschläge verzichten. Als er zusätzlich versicherte, er werde den
Sprengstoff nicht selbst verwenden, sondern ihn an eine „Befreiungsbewegung“
weiterleiten, gab das MfS nach, obwohl bekannt war, dass Weinrich sich in
nächster Nähe bereits ein Anschlagsziel ausgesucht hatte: das „Maison de France“
in Westberlin.

Am 16. August 1983 wurde der Sprengstoff an
Weinrich ausgeliefert, der ihn verabredungsgemäß bei einem syrischen Diplomaten
in Ostberlin deponierte. Eine Woche später jedoch ließ er ihn sich wieder
aushändigen und noch am selben Tage explodierte die Bombe im Maison de France.
Ein Toter und viele schwer verletzte Menschen waren die Folgen. Im Januar 2000
wurde Johannes Weinrich wegen des Anschlages zu lebenslanger Haft
verurteilt.

Bislang sieht es so aus, dass in der Mitte der
80er Jahre die Kooperation der DDR mit Linksterroristen aus der Bundesrepublik
aufgegeben wurde. Lediglich die Unterbringung der zehn RAF-Aussteiger, unter
ihnen auch Inge Viett, wurde aufrechterhalten. Für diesen Abbruch der
Kooperationsbeziehungen gibt es bislang keine rechte Erklärung.

Aber ich bin ziemlich sicher, dass in dieser
Geschichte noch nicht das letzte Wort gesagt und geschrieben wurde. Nicht alles
ist bereits wirklich gut erforscht. Nicht alle Dokumente des MfS wurden bereits
ausreichend befragt, die Beteiligten Stasi-Angehörigen wie auch die noch
lebenden RAF-Angehörigen schweigen zu diesem Thema meist. Die Aufarbeitung
dieser Kooperationsbeziehungen ist noch nicht abgeschlossen.

Herzlich begrüßte Erich Honecker im Haus des ZK den PLO-Vorsitzenden, Yasser Arafat, am zweiten Tag seines offiziellen Freundschaftsbesuchs in der DDR im März 1982. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1982-0310-027, Fotograf: Mittelstädt

Herzlich begrüßte Erich Honecker im Haus des ZK den
PLO-Vorsitzenden, Yasser Arafat, am zweiten Tag seines offiziellen
Freundschaftsbesuchs in der DDR im März 1982. Foto: Bundesarchiv, Bild
183-1982-0310-027, Fotograf: Mittelstädt

So ist in jüngster Zeit z. B. ein Dokument aus
der Abteilung XXII des MfS vom März 1982 aufgetaucht, dass sehr genau
beschreibt, wie das MfS linkterroristische Gruppen in der Bundesrepublik als
Partisanen nutzen könnte, um einen verdeckten Kampf gegen die Bundesrepublik zu
führen.[20] Wolfgang
Kraushaar, vom Hamburger Institut für Sozialforschung, vermutet, es sei
möglicherweise das Konzeptpapier für die so genannte „3. Generation“[21] der RAF, über
die man bislang besonders wenig weiß.[22] Er könne sich
nicht vorstellen, wie die Autodidakten des Terrors derart perfekte Anschläge
hätten durchführen können, die Polizei, Justiz und Staatsanwaltschaft bis heute
nicht aufklären konnten. Es sei immerhin denkbar, dass sich am Ende
herausstelle, die 3. Generation der RAF sei von der Stasi im Sinne einer
verdeckt operierenden Partisaneneinheit gesteuert worden.

Ich weise Sie auf diese Vermutung nur deshalb
hin, da sie belegt, dass das Kooperationsgeflecht von Stasi und westdeutschem
Linksterrorismus bislang nicht vollständig erforscht ist.

DDR und internationaler
Terrorismus

So wirklich überraschend ist die Zusammenarbeit
linksterroristischer Gruppen aus der Bundesrepublik mit dem Ministerium für
Staatssicherheit der DDR nicht. Man teilte – bei aller Verschiedenheit – viele
Auffassungen. Die Demokratie der Bundesrepublik war in den Augen der DDR wie der
linksterroristischen Gruppen ein Produkt des amerikanischen Imperialismus, die
ehemals faschistische Bourgeoisie, so hätten es wohl beide Seiten gesehen, hatte
sich mit diesem Projekt über den Nationalsozialismus hinaus gerettet.

Differenzen gab es lediglich in zwei
entscheidenden Punkten. Die DDR unterstützte die Politik der „friedlichen
Koexistenz“ der Sowjetunion. Sie hatte außerdem, man war 1973 Mitglied der UNO
geworden, eigene Sicherheitsinteressen. Die DDR wollte also nicht in den Geruch
geraten, terroristische Organisationen zu unterstützen. Dies hätte ihr auf dem
internationalen Parket geschadet. Linksterroristische Gruppen der Bundesrepublik
beurteilten die Politik der „friedlichen Koexistenz“ eher als Verrat an der
Revolution.

Über die genannten Gemeinsamkeiten und
Differenzen hinaus, gab es aber einen weiteren gemeinsamen Bezugspunkt der DDR
und linksterroristischer Gruppen der Bundesrepublik. Dies war insbesondere die
gemeinsame Kooperation mit palästinensischen Terrorgruppen, die sich die
Zerstörung Israels auf ihre Fahnen geschrieben hatten. In welcher Weise die
Kooperation der DDR und der RAF mit der von beiden Seiten gepflegten Kooperation
mit palästinensischen Terrorgruppen zusammenhingen, wird insbesondere an einem
Dokument sichtbar, das ich Ihnen bislang noch vorenthalten habe.

Das Dokument trägt den Titel „Information 285/79
über Aktivitäten von Vertretern der palästinensischen Befreiungsbewegung in
Verbindung mit internationalen Terroristen zur Einbeziehung der DDR bei der
Vorbereitung von Gewaltakten in Ländern Westeuropas“[23] und wurde am
8. Mai 1979 in eben der Abteilung XXII fertig gestellt, von der bereits die Rede
war. Die Verfasser machen darauf aufmerksam, dass sowohl die Kooperation mit
linksterroristischen Gruppen als auch die mit palästinensischen Terroristen den
Sicherheitsinteressen der DDR schaden könnten. Darüber hinaus macht die
Expertise darauf aufmerksam, dass man mit der Unterstützung palästinensischer
Terroristen auch deren Kooperation mit Linksterroristen aus der Bundesrepublik
unterstützt.

Die Expertise beginnt mit den Worten: „Nach
vorliegenden internen Hinweisen werden von z. T. nicht eindeutig politisch
bestimmbaren Kräften der palästinensischen Befreiungsbewegung in Verbindung mit
anarchoterroristischen Gruppen aus westlichen Ländern verstärkt Versuche
unternommen das Territorium der DDR als logistischen Stützpunkt und
Ausgangsbasis für die Durchführung von Gewaltakten in Westeuropa zu nutzen. Die
großzügige solidarische Haltung der DDR zum nationalen Befreiungskampf der
arabischen Völker wird dabei von diesen Kräften als günstiger Umstand für die
Planung und Vorbereitung von Operationen angesehen. Dabei werden auch die
Kommunikationsmöglichkeiten der Hauptstadt der DDR in Rechnung gestellt.“
Insbesondere nach dem Abschluss des Vertrages zwischen Israel und Ägypten, der
am 25 April 1979 in Kraft trat, aktivierten palästinensische Gruppen ihre
Gewaltakte gegen westliche Länder. „Derartige Aktivitäten vom Territorium der
DDR aus“ – hieß es weiter – „schaffen politische Gefahren und beeinträchtigen
unsere staatlichen Sicherheitsinteressen.“[24]

Ich erspare Ihnen jetzt im Detail die Darstellung
aller Informationen dieses Dokuments, ich will Sie lediglich mit einer für
unseren Zusammenhang wesentlichen Passage vertraut machen. Die
Geheimdienstexpertise berichtet u. a. von einem Treffen unterschiedlicher Führer
palästinensischer Gruppen mit Carlos in der DDR und über bereits getroffene
Vorbereitungen für Anschläge in Westeuropa. Dabei wird ausdrücklich auf die
Einbeziehung „anarcho-terroristischer Kräfte“ aus der Bundesrepublik und
Westberlin hingewiesen: „Im Ergebnis eingeleiteter konspirativer
Kontrollmaßnahmen sind folgende bisher erkannte Aktivitäten und Verhaltensweisen
der Gruppierung um Carlos in der DDR als aktionsbezogen, d. h. als
Vorbereitungshandlungen für terroristische Vorhaben, zu beurteilen: Schaffung
logistischer Stützpunkte in der Hauptstadt der DDR unter Einbeziehung von DDR
Bürgern; Durchführung konspirativer Zusammenkünfte und Treffen zwischen Bürgern
verschiedener arabischer Staaten; Forcierung der Reisetätigkeit von
Verbindungsleuten der Carlos-Gruppierung in die BRD und andere westeuropäische
Länder sowie nach Westberlin; Enger, ständiger Kontakt zu den Botschaften der
VDRJ, der Republik Irak, Libyen sowie der PLO-Vertretung in der Hauptstadt der
DDR; Bemühungen zur Beschaffung von Waffen, Sprengstoff, Geld und Informationen;
Absprachen zur Erweiterung einer konspirativen „revolutionären Abteilung“;
Inspirierung zu Gewaltakten des bewaffneten Kampfes bis hin zu Einzelaktionen,
Attentaten und dgl. Gegen die imperialistische Politik der USA, der Zionisten
und der Clique um Sadat; Aktivierung der Kontakte zu anarcho-terroristischen
Kräften aus der BRD/Westberlin; Absichten, von der Hauptstadt der DDR aus unter
Einbeziehung der Botschaften der UdSSR und der DDR in Syrien Operationsbasen in
der SAR[25] zu
schaffen.“[26]

An einer anderen Stelle heißt es: „Über das
Vorhandensein enger Verbindungen und zunehmend koordinierten Vorgehens
extremistischer Gruppierungen der palästinensischen Befreiungsbewegung und
anarcho-terroristischer Kräfte der BRD und Westberlins liegen operative Hinweise
und Erkenntnisse vor.“[27] Diese
Erkenntnisse hatte man durch „Kontaktaufnahme und Abschöpfung der führenden
Mitglieder der Bewegung, Inge Viett, Ingrid Siepmann und Regine Nicolai,
gewonnen.[28]

Die für unseren Zusammenhang wichtige Botschaft
dieses Dokumentes ist, die Kooperation von DDR und linksterroristischen Gruppen
in der Bundesrepublik kam nicht nur deshalb zustande, weil man mehr oder weniger
gemeinsame Auffassungen über die Bundesrepublik und die Vereinigten Staaten von
Amerika hegte (auch wenn man über die Sowjetunion und die Politik friedlicher
Koexistenz unterschiedlicher Auffassung war). Sie war auch deshalb möglich, weil
sowohl linksterroristische Gruppen der Bundesrepublik als auch die DDR mit
denjenigen kooperierten, die den Staat Israel zerstören wollten.

DDR, ein Feind Israels

Legitime Israel-Kritik? Rechte “Antizionisten” in
Aktion (Foto Marek Peters)

Die DDR hat mehr oder weniger von Anfang an mit
den Feinden Israels kooperiert. Zwar unterstützte sie, als sie noch nicht DDR,
sondern Sowjetische Besatzungszone (SBZ) hieß, ganz wie zunächst die
Sowjetunion, die Gründung des Staates Israel. Das Blatt wendete sich jedoch
ziemlich rasch. In einer der wenigen Untersuchungen zu diesem Thema schreibt der
Soziologe Thomas Haury in einem jüngst erschienenen Aufsatz: „Abgesehen von
einer kurzen israelfreundlichen Phase bis 1950 bezog die DDR über die gesamte
Zeit ihres Bestehens hinweg eine dezidiert feindselige Position gegenüber dem
jüdischen Staat. Sie weigerte sich, Wiedergutmachungsleistungen zu leisten und
nahm nie diplomatische Beziehungen zu Israel auf. Stattdessen bemühte sie sich
intensiv um die Gunst gerade der aggressiv israelfeindlichen unter den
arabischen Staaten: Ägypten (bis zu dessen Westorientierung unter Sadat),
Syrien, Irak und ab Mitte der 1970er Jahre auch Gaddafis Libyen. In
Stellungnahmen der DDR-Regierungen, des Politbüros, im Parteiorgan Neues
Deutschland
und in horizont, der außenpolitischen Zeitschrift der
SED, findet sich über 35 Jahre hinweg unisono dezidierte Israelfeindschaft.“[29]

Wie im Fall der Beziehungen der DDR zu den
linksterroristischen Gruppen der Bundesrepublik, so muss auch hier gesagt
werden, dass dieser Aspekt nicht wirklich gut beschrieben und erforscht ist,
aber Umrisse lassen sich erkennen. Ich will Ihnen hier lediglich einige Fakten
präsentieren, die deutlich machen, dass die DDR unbestreitbar mit Kräften
zusammen arbeitete, die eine Zerstörung Israels anstrebten.

Die DDR unterstützte die Politik der arabischen
Länder und die Politik der 1964 gegründeten Palestine Liberation
Organisation
(PLO), die ihr Ziel Israel zu zerstören erst 1998 aus ihrer
Charta entfernte. Im Artikel 15 der PLO-Charta hieß es z. B.: „Die Befreiung
Palästinas ist vom arabischen Standpunkt aus nationale Pflicht. Ihr Ziel ist,
der zionistischen und imperialistischen Aggression gegen die arabische Heimat zu
begegnen und den Zionismus in Palästina auszutilgen.“[30] Die Gründung
Israels bezeichnete man als illegal.[31]

Die DDR ging über eine bloß propagandistische
Unterstützung der arabischen Länder und der PLO weit hinaus. Sie hatte auch
Anteil am Krieg arabischer Staaten und von Palästinensergruppen gegen
Israel.

Mit der Unterstützung der arabischen Länder und
der PLO war eine Diskreditierung des Zionismus in der DDR verbunden. Man
betrachtete Israel nicht als die Heimstatt der Überlebenden der Shoah, sondern
als Produkt großbürgerlichen Chauvinismus und Imperialismus, der angegriffen,
wenn nicht zerstört werden müsse. Das kleine politische Wörterbuch der DDR
formulierte noch 1978: „Zionismus: die chauvinistische Ideologie, das
weitverzweigte Organisationssystem und die rassistische, expansionistische
politische Praxis der jüdischen Bourgeoisie, die einen Teil des internationalen
Monopolkapitals bildet.“[32] Die DDR
erkannte Israel als Staat niemals an, zu den arabischen Ländern und zur PLO
pflegte man jedoch ganz selbstverständlich diplomatische Beziehungen.

Walter Ulbricht sagte im März 1965 vor dem
Staatsrat der DDR: „Die deutsch-arabische Freundschaft hat eine große Tradition.
Sie beginnt bei den Forschungen der deutschen Ägyptologen und hat heute ihren
Inhalt im gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus.“[33] 1969 schlug
Ulbricht in einem geheimen Brief an den sowjetischen Parteiführer Leonid
Breschnew vor, einen „Zermürbungskrieg gegen die israelischen Truppen in den
okkupierten Gebieten“ zu führen und zu diesem Zweck Freiwillige aus den
sozialistischen Staaten zu rekrutieren.[34] 1973 schloss
die DDR ein Abkommen mit der PLO, in dem ausdrücklich Waffenlieferungen und die
Pflege verwundeter PLO-Kämpfer enthalten waren.[35] Es gab in der
DDR auch keine Bedenken, die militant israelfeindlichen arabischen Länder mit
Waffen zu beliefern. Erich Honecker kommentierte eine Waffenlieferung an Syrien
in einem Brief an den Präsidenten Assad: „Eine Staffel Abfangflugzeuge MIG 21,
62 Panzer und viele andere israelfreundliche Gegenstände.“[36]

Ulbricht, Walter: Staatsratsvorsitzender, Erster Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED, Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates, DDR (Quelle: Bundesarchiv)

Ulbricht, Walter: Staatsratsvorsitzender, Erster
Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED, Vorsitzender des Nationalen
Verteidigungsrates, DDR (Quelle: Bundesarchiv)

Dass die DDR auch für Attentate palästinensischer
Terrorgruppen mitverantwortlich war, hat Markus Wolf, der Stellvertreter des
Geheimdienstchefs Erich Mielke, in einem Interview mit der Jüdischen
Rundschau
(Zürich) am Ende der 90er Jahre beschrieben: „Natürlich war die
DDR nicht Zentrum des internationalen Terrorismus. Die für solche Kontakte
verantwortliche Dienststelle im Ministerium für Staatssicherheit lag anderswo
und handelte aus dem Motiv heraus, den Terrorismus von der DDR fernzuhalten. Die
Kontakte müssen aber heute so gesehen werden, dass damit faktisch terroristische
Aktionen vom Territorium der DDR aus geduldet wurden. Mein Dienst und ich selbst
sind fest von der Bedingung ausgegangen, dass das Gebiet der DDR für
terroristische Handlungen nicht benutzt werden darf. Es bleibt unter dem Strich
aber Verantwortung und Schuld dafür, etwas geduldet zu haben, was zu solchen
Handlungen führte.“[37]

Dies bedeutete, weniger verklausuliert, dass man
palästinensische Terrorgruppen zwar verpflichtete, vom Territorium der DDR aus
keine Anschläge auszuführen, dass man ihnen jedoch materielle Hilfe und
militärisches Training zur Verfügung stellte – sie konnten die DDR als sicheres
Hinterland und Trainingslager nutzen.

Die antizionistische Politik der DDR war weit
mehr als nur Propaganda. Die DDR unterstützte auch die Versuche, den Staat
Israel militärisch zu zerstören. Erst kürzlich hat eine Mitarbeiterin der
Amadeu-Antonio-Stiftung in Berlin, Konstanze Ameer, bei ihren Recherchen für die
neue Ausstellung der Stiftung über den Antisemitismus in der DDR – die Sie im
Übrigen unbedingt besuchen sollte; die jeweils neuen Ausstellungstermine
erfahren Sie auf der Website der Stiftung[38] – die Belege
dafür gefunden, dass die DDR auch Terroristen der Gruppe Abu Nidal
politisch schulte und militärisch trainierte. Abu Nidal war eine Gruppe, die
sich 1974 von der PLO
abspaltete und über 100 Anschläge in mehr als 20 Ländern ausführte. Das
Ministerium für Staatssicherheit führte minutiös Buch darüber, welche Schulungen
man Mitgliedern der Gruppe Abu Nidals zukommen ließ. Es ist deutlich
sichtbar, dass es bei diesen Schulungen auch um militärisches Training ging.[39] Der
Bericht hält zwar fest, es sei nicht zu übersehen gewesen, dass es
„unterschiedliche Standpunkte zu Grundfragen des palästinensischen
Widerstandskampfes“ gegeben habe, welche das genau waren, wird nicht erwähnt.
Diese Differenzen schienen die Ausbilder auch nicht davon abgehalten zu haben,
das militärische Training durchzuführen.

Eine wirklich umfassende Untersuchung zum Thema
der Beziehungen der DDR zur PLO und den militant israelfeindlichen Ländern der
arabischen Welt liegt meines Wissens noch nicht vor. Aber schon jetzt lässt sich
sagen, die DDR unterstützte die Bestrebungen Israel zu zerstören vehement.

Bewaffneter Schuldabwehrantisemitismus

Bleibt die Frage offen, haben westdeutsche
Terrorgruppen – RAF, Bewegung 2. Juni, Revolutionäre
Zellen
– tatsächlich Israel als Feind angesehen und mit Organisationen
gemeinsame Sache gemacht, die Israel zerstören wollten? Auch diese Frage ist
eindeutig mit Ja zu beantworten.

Die bislang genaueste Untersuchung zu diesem
Thema stammt von Thomas Skelton Robinson.[40] Aber auch hier
gilt wie bei den beiden bereits dargestellten Kontexten, dieses Feld ist bislang
nicht wirklich gut erforscht. Es sind zu diesen Beziehungen in Zukunft noch mehr
Forschungsergebnisse zu erwarten. Ich gebe Ihnen auch hier lediglich einen
gerafften und kurzen Überblick.

Ulrike Meinhof, deutsche Journalistin und RAF-Mitglied, im Jahr 1964

Ulrike Meinhof, deutsche Journalistin und RAF-Mitglied,
im Jahr 1964

Noch bevor die Baader-Meinhof-Gruppe gegründet
wurde, machte am 9. November 1969 eine Gruppe um Dieter Kunzelmann, mit einem –
Gott sei Dank missglückten – Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus in
West-Berlin auf sich aufmerksam. Wäre die Bombe explodiert, hätte es an die 200
Tote und Verletzte gegeben. Die „Tupamaros West-Berlin“ hatten bewusst den 9.
November gewählt. Sie waren der Auffassung, dass „die Kristallnacht von 1938
heute täglich von den Zionisten in den besetzten Gebieten, in den
Flüchtlingslagern und in den israelischen Gefängnissen“[41] wiederholt
werde. Einige Angehörige der Gruppe bildeten später die Bewegung 2.
Juni
.

Der missglückte Anschlag selbst und seine
ideologische Rechtfertigung, die Gleichsetzung der israelischen Politik mit dem
Völkermord der deutschen Nationalsozialisten, zeigen unmissverständlich um was
es hier geht, um bewaffneten sekundären oder Schuldabwehrantisemitismus. Das
entscheidende Waffentraining, hatte die Gruppe im Oktober 1969 in einem Lager
der El Fatah in Jordanien absolviert.[42]

In eben einem solchen Lager ließ sich auch die
erste Generation der RAF militärisch ausbilden. Ob und in welcher Form die
Kontakte der RAF zur Fatah später aufrechterhalten wurden, ist bislang
nicht bekannt. Ulrike Meinhof kaufte allerdings im Dezember 1970 von zwei
Mitgliedern der Organisation Pistolen vom Typ „Firebird“.[43]

Ob es im Mai 1972 tatsächlich zu einer
Übereinkunft der RAF mit palästinensischen (sowie japanischen) Terroristen kam,
sich fortan gegenseitig zu unterstützen, ist bislang nicht recht geklärt.[44] Als
jedoch während der Olympischen Sommerspiele in München eine Gruppe des
Schwarzen September am 5. September 1972 bei einer Geiselnahme zunächst
zwei Mitglieder der Olympiamannschaft Israels tötet und neun weitere Athleten
als Geiseln nahm, lautete ihre Forderung, neben der Freilassung von 234
Gefangenen aus israelischen Gefängnissen, Haftentlassung von Andreas Baader und
Ulrike Meinhof.[45]

Die RAF hat, ganz wie vorher die Schwarze
Ratten Tupamaros West-Berlin
, die ideologische Rechtfertigung des
Anschlages auf die israelischen Sportler unmissverständlich kundgetan. [46] In
einer Schrift Ulrike Meinhofs, hieß es dazu z. B.: „Israel vergießt
Krokodilstränen. Es hat seine Sportler verheizt wie die Nazis die Juden –
Brennmaterial für die imperialistische Ausrottungspolitik.“[47] Wir erinnern
uns, nicht Israel hatte irgendein Kommando-Unternehmen ausgeführt, israelische
Sportler waren Opfer eines Angriffs eines palästinensischen Kommandos geworden.
Auch hier finden wir in der ideologischen Rechtfertigung des Anschlages deutlich
den Schuldabwehrantisemitismus.

Gedenktafel für die israelischen Opfer des Anschlags in München 1972 (Quelle: ProhibitOnions)

Gedenktafel für die israelischen Opfer des Anschlags in
München 1972 (Quelle: ProhibitOnions)

Die Kooperation der RAF mit dem palästinensischen
Terror reicht aber noch weiter. Im Sommer 1973 reiste Margrit Schiller – die
nach dem Ende ihrer ersten Haftzeit (1971 bis 1973) erneut in den Untergrund
gegangen war und eine später so genannte Gruppe 4.2.[48] mit aufgebaut
hatte, die Baader, Meinhof, Ensslin und andere freipressen wollte – nach
Rotterdam. Dort traf sie sich mit einer Gruppe von „Palästinensern aus der
El-Fatah-Zentrale im Libanon“ und bereitete sich darauf vor, mit ihnen ein
israelisches Flugzeug zu entführen, um die RAF-Führungskader freizupressen.[49] Sie
warteten lange, aber vergeblich auf einen Einsatzbefehl zum Losschlagen.

Logo der "Bewegung 2. Juni"

Logo der “Bewegung 2. Juni”

Weitere Dimensionen der Kooperation deutscher
Linksterroristen mit Feinden Israels wurden im Jahr 1975 sichtbar. Nach der
Entführung des Vorsitzenden der Westberliner CDU, Peter Lorenz, werden die durch
die Geiselnahme freigepressten Mitglieder bewaffneter Gruppen in den Südjemen
ausgeflogen. Offenbar hatte die Bewegung 2. Juni, die Peter Lorenz
entführt hatte, im Vorfeld der Geiselnahme über Kontaktleute der Volksfront für
die Befreiung Palästinas (PFLP) diese Unterstützung ihrer Aktion abgesprochen.[50] In
dem Bekennerschreiben zur Entführung hatte die Bewegung 2. Juni als
eine der Gründe für die Entführung ausdrücklich formuliert: „als cdu-chef hat er
sich zum propagandisten des zionismus, der aggressiven eroberungspolitik des
staates israel in palästina gemacht, und nimmt durch besuche in israel und
geldspenden an der verfolgung und unterdrückung des palästinensischen volkes
teil.“[51]

Eine weitere solche Kooperation mit
palästinensischen Terrororganisationen wurde auch am 24. April 1975 sichtbar,
als ein Kommando[52] der zweiten
Generation der RAF die Botschaft der Bundesrepublik in Stockholm
besetzte, zwölf Geiseln nahm und von der Bundesregierung die Freilassung von 26
Gesinnungsgenossen forderte. Als die Bundesregierung Verhandlungen verweigerte,
erschoss das Kommando die Botschaftsangehörigen Andreas von Mirbach und Heinz
Hillegaart. Das RAF-Kommando hatte das Gebäude vermint. Eine unbeabsichtigt
ausgelöste Bombenexplosion beendete den Überfall vorzeitig. Neu war, dass das
RAF-Kommando offenbar Garantien eingeholt hatte, die Gefangenen, die es
freipressen wollte, in Drittländer auszufliegen. Der Überfall war mit dem
Terroristen Carlos, der im Auftrag der Volksfront für die Befreiung
Palästinas
(PFLP)[53] arbeitete,
geplant worden.[54]

Auch die dritte wichtige Gruppe des westdeutschen
Linksterrorismus, die Revolutionären Zellen, kooperierte mit dem
palästinensischen Terror, mit der PFLP. Sie war beteiligt an einem Überfall auf
die OPEC-Konferenz in Wien am 20. Dezember 1975 und an einer Flugzeugentführung
1976, bei der eine Maschine, die von Tel Aviv nach Paris fliegen sollte, am 25.
Juni gezwungen wurde zunächst nach Libyen und später nach Entebbe (Uganda) zu
fliegen. Die Entführer, ein gemischtes Kommando von PFLP Terroristen und
Mitgliedern der deutschen Revolutionären Zellen, trennten in Entebbe die
jüdischen von den nicht-jüdischen Geiseln. Die nicht-jüdischen Geiseln ließ man
frei. Den Selektionsprozess führte der deutsche RZ-Angehörige Wilfried Böse
durch.[55]

Logo des militärischen Arms der PFLP (Abu-Ali-Mustafa-Brigaden)

Logo des militärischen Arms der PFLP
(Abu-Ali-Mustafa-Brigaden)

Weiter intensiviert wurde die Kooperation der RAF
mit palästinensischen Terrororganisationen schließlich nach der Entführung des
Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer am 5. September 1977. Terroristen
der zweiten RAF-Generation hatten ihn verschleppt, um die Freilassung von elf
Inhaftierten der ersten Generation zu erreichen. Da die Bundesregierung jedoch
nicht bereit war, mit den Entführern zu verhandeln, bot die PFLP an, den Druck
durch eine Flugzeugentführung zu erhöhen. Am 13. Oktober 1977 zwang ein Kommando
der PFLP die Lufthansa-Maschine „Landshut“ zum Flug nach Somalia.[56]

Es lässt sich also zeigen, dass alle drei
wesentlichen Gruppen des westdeutschen Linksterrorismus – RAF, Bewegung 2. Juni,
Revolutionäre Zellen – von Beginn an mit denjenigen arabischen Ländern und
palästinensischen Terrorgruppen zusammenarbeiteten, die sich einer Zerstörung
Israels verschrieben hatten und keine Verhandlungslösung im Nahen Osten
anstrebten. Die Grundlage dieser Kooperation bildet offenbar auf der deutschen
Seite ein bewaffneter Schuldabwehrantisemitismus, der auch vor der Ermordung von
Juden in Deutschland (Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus, 9.11.1969) und der
Selektion jüdischer von nicht-jüdischen Passagieren (Flugzeugentführung nach
Entebbe) nicht zurückschreckte.

 Antifaschismus und
Antisemitismus

Um das Beziehungsgeflecht von MfS und
bundesdeutschen Linksterroristen vollständig zu erfassen, genügt es nicht, sich
auf den gewissermaßen binnendeutschen Kontext zu konzentrieren. Eben dieser
Kontext unter der Fragestellung „Wie wollte Erich Mielke im Auftrag von Erich
Honecker die Bundesrepublik unterwandern?“ verfolgt der größere Teil der
Forschungen und Publikationen zum Thema.

Dadurch gerät ein wesentlicher Aspekt dieses
Themas leicht unter die Räder. Dies scheint zunächst nur ein internationaler
Kontext zu sein, es geht um die Außenpolitik der DDR und das Verhältnis der RAF
zum internationalen Terrorismus, oder besser gesagt um Teile davon. Die DDR war
fast von ihrem Anfang an ein sich selbst antifaschistisch und antizionistisch
zugleich definierender Staat; die bewaffneten Gruppen der alten Bundesrepublik
teilten, mit wenigen Ausnahmen diese Selbstdefinition. Sowohl die
bundesdeutschen Terroristen als auch die DDR pflegten beste Beziehungen zu den
Kräften im arabischen Raum und zu den palästinensischen Terroristen, die den
Staat Israel auslöschen wollten.

Die pro-palästinensische Politik der DDR stand im
Kontext ihrer antiisraelischen Politik nach dem Ende des Nationalsozialismus.[57] Nach
einer anfänglichen Unterstützung der Gründung Israels durch die Sowjetunion
hatte sich bereits einige Jahre später das Blatt vollkommen gewendet. Zeitlich
parallel zu einer antizionistischen und antisemitischen Kampagne in der
Sowjetunion und in vielen ihrer Sattelitenstaaten in Osteuropa wurde das Steuer
herumgerissen, Israel galt nun als „zionistisch“, „imperialistisch“ und als
Aggressor, ab sofort ließ man seine Unterstützung den arabischen Feinden Israel
und später auch palästinensischen Terrorgruppen zukommen, die man als „nationale
Befreiungsbewegungen“ ansah und deren „antiimperialistischen Kampf“ man
unterstützte.

Auch die SED hatte in der SBZ/DDR diesen
Positionswechsel nachvollzogen. Noch 1948 hatte man die Gründung Israels begrüßt
und entsprechend an einem Gesetz zur Wiedergutmachung gegenüber allen Opfern,
kommunistischen und jüdischen, des Nationalsozialismus gearbeitet. Im Winter
1952/53 entfachte man dagegen eine antisemitische Kampagne, in der die jüdischen
Gemeinden der DDR als „fünfte Kolonne des US-Imperialismus“ attackiert wurden
und der Erfinder eines Wiedergutmachungsgesetzes in der DDR, Paul Merker, unter
dem Vorwurf inhaftiert wurde, er sei ein Agent des amerikanischen Imperialismus
und habe vorgehabt, deutsches Volksvermögen an „jüdische Kapitalisten“ zu
verschleudern.

Wahlplakat der Hamas in Ramallah. Auf dem Plakat heißt es: Palsetine From Sea to Rever (sic!). Gemeint ist, dass Israel von der Landkarte verschwinden muss, damit ein islamischer Gottesstaat zwischen Mittelmeer (Sea) und Jordan-Fluss (River) entstehen kann. (Quelle: Ervaude)

Wahlplakat der Hamas in Ramallah. Auf dem Plakat heißt
es: Palsetine From Sea to Rever (sic!). Gemeint ist, dass Israel von der
Landkarte verschwinden muss, damit ein islamischer Gottesstaat zwischen
Mittelmeer (Sea) und Jordan-Fluss (River) entstehen kann. (Quelle:
Ervaude)

In der nichtkommunistischen Linken der
Bundesrepublik[58] hatte es in
den 1950er und frühen 1960er Jahren noch eine deutliche Unterstützung Israels
als Heimstaat der überlebenden Opfer des Holocaust und eines sozialistischen
Musterstaats (Kibbuz-Bewegung) gegeben. Mit dem 6-Tage-Krieg jedoch, im Juni
1967, hatten größere Teile der Gruppen und Parteien ihre Solidarität mit Israel
aufgekündigt und sich der Unterstützung des „antiimperialistischen Kampfs“ der
palästinensischen Terrororganisationen verschrieben.[59] Auch die aus
dem Zerfallsprozess der Studentenbewegung hervorgehenden Terrorgruppen – RAF, RZ
und Bewegung 2. Juni – gehörten zu den Unterstützern des palästinensischen
Terrors als Teil einer weltweiten antiimperialistischen Front.

Frappierend ist, dass wir zwar bislang nicht von
einer etwa von Stasi und RAF gemeinsam geplanten antiisraelischen Aktion wissen,
die Begründungsmuster des vehementen Antizionismus, oder wie ich sagen würde
Schuldabwehrantisemitismus, ähneln sich jedoch wie ein Ei dem anderen. Die DDR
und die bewaffneten linksterroristischen Gruppen der Bundesrepublik teilten
neben ihrer Feindschaft zur Demokratie der Bundesrepublik auch die Feindschaft
zu den USA und zu Israel. Beide kooperierten mit Gruppen, die die Auslöschung
Israels zum Ziel hatten. Es ist schon sehr eigentümlich zur Kenntnis zu nehmen,
dass ausgerechnet die radikalste Linke in Deutschland nach 1945 keine Hemmungen
hatte, mit den Feinden Israels zusammen zu arbeiten.

Dr. phil. Martin Jander, geb. 21.1.1955 in
Freiburg in Breisgau, unterrichtet Deutsche Geschichte im Programm der New York
University in Berlin, der Stanford University in Berlin und Geschichtsdidaktik
am Historischen Seminar der Universität Köln. Er hat Geschichte und politische
Wissenschaften an der Freien Universität Berlin studiert. Seine
Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Nationalsozialismus und dessen drei
Nachfolgegesellschaften: Bundesrepublik, DDR, Österreich. Ein Verzeichnis seiner
Veröffentlichungen findet sich auf seiner Website: http://www.unwrapping-history.com



Der hier wiedergegebene Text ist die niedergeschriebene Form meines
mündlichen Vortrages. Ich habe ihn an einigen Stellen korrigiert und erweitert
und außerdem Fußnoten hinzugefügt.

[1] Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines
schwierigen Verhältnisses, Frankfurt am Main 1990. (aktual. und erw. Ausgabe
1994).

[2] Wolfgang
Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde, Hamburg
2006.

[3] Wichtige
Publikationen zum Thema sind: Michael Müller, Andreas Kanonenberg, Die RAF-Stasi
Connection, Berlin 1992; Tobias Wunschick, „Abwehr“ und Unterstützung des
internationalen Terrorismus – Die Hauptabteilung XXII, in: Hubertus Knabe (Hg.),
Westarbeit des MfS. Das Zusammenspiel von „Aufklärung“ und „Abwehr“, Berlin
1999; Tobias Wunschik, Baader Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF.
Opladen 1997; Martin Jander, Differenzen im antiimperialistischen Kampf. Zu den
Verbindungen des Ministeriums für Staatssicherheit mit der RAF und dem
bundesdeutschen Linksterrorismus, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der
linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006. Jan-Hendrik Schulz, Die Beziehungen
zwischen der Roten Armee Fraktion (RAF) und dem Ministerium für Staatssicherheit
(MfS) in der DDR, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die RAF als Geschichte und
Gegenwart, hg. von Jan-Holger Kirsch und Annette Vowinckel, Mai 2007, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/md=RAF-Chronik-Stasi.
Tobias Wunschik, Baader Meinhof international?, in: Beilage zur Zeischrift „Das
Parlament“, Aus Politik und Zeitgeschichte 40-41/2007, S. 23ff.

[4] Karl Wilhelm
Fricke, Die Staatssicherheit, Köln 1982, S. 184.

[5] Claire
Sterling, Das internationale Terror-Netz, Bern/München 1981, S. 303 und S.
358.

[6] Fricke,
Staatssicherheit, S. 184; siehe auch: ders., MfS-intern, Köln 1991, S.
57ff.

[7] Wunschik,
„Abwehr“ und Terrorismus, S. 267. Siehe auch: Klaus Rainer Röhl, Fünf Finger
sind keine Faust, Köln 1974, S. 395.

[8] Wunschik,
Baader-Meinhof international?, S. 27.

[9] Kopie der
MfS-Akte in der Sammlung des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIfS): MfS
73/009

[10] Hubertus
Knabe (Hg.), Westarbeit des MfS. Das Zusammenspiel von „Aufklärung“ und
„Abwehr“, Berlin 1999, S. 96.

[11] Inge Viett,
Nie war ich furchtloser, Reinbek 1999, S. 192.

[12] Inge Viett,
zitiert nach: Wunschick, Baader-Meinhofs Kinder, S. 393.

[13] Information
285/79 über Aktivitäten von Vertretern der palästinensischen Befreiungsbewegung
in Verbindung mit internationalen Terroristen zur Einbeziehung der DDR bei der
Vorbereitung von Gewaltakten in Ländern Westeuropas, Berlin 8.5.1979, S. 12
(Kopie in der Sammlung des HIfS: MfS 79/041).

[14] Süddeutsche
Zeitung, 19.3.1992, S. 8, hier zitiert nach: Wunschik, Baader-Meinhofs Kinder,
S. 396.

[15] Viett, Nie
war ich furchtloser, S. 246.

[16] Müller,
Kanonenberg, Die RAF-Stasi-Connection, S. 181ff; Friedrich Schlomann, Die
Maulwürfe. Noch sind sie unter uns, die Helfer der Stasi im Westen, München
1993, S. 45.

[17] Siehe:
Süddeutsche Zeitung 17/18.9.1994, S. 2, hier zitiert nach: Wunschik,
Baader-Meinhofs Kinder, S. 396.

[18] Wunschik,
Abwehr“ und Unterstützung , S. 268.

[19] Tobias
Wunschik, Das Ministerium für Staatssicherheit und der Terrorismus, (2002) (www.extremismus.com/
texte/rafmfs.htm
(Abfrage September 2007)) , S. 1.

[20] Die
Aufgaben tschekistischer Einsatzgruppen im Operationsgebiet, März 1982, MfS HA
XXII, 521/17

[21] Alexander
Straßner, Die dritte Generation der RAF, in: Kraushaar (Hg.), Die RAF und der
linke Terrorismus, Bd. 2, S. 489ff.

[22] Siehe
Interview mit Wolfgang Kraushaar in der Südwest-Presse (30.10.2007) (http://www.suedwest-aktiv.
de/landundwelt/die_vierte_seite/3192550/artikel.php?SWAID=15af23f4f804b663f3c33c5b6479a803

– aufgerufen im November 2007).

[23] Information
285/79 über Aktivitäten von Vertretern der palästinensischen Befreiungsbewegung
in Verbindung mit internationalen Terroristen zur Einbeziehung der DDR bei der
Vorbereitung von Gewaltakten in Ländern Westeuropas, Berlin 8.5.1979 (Kopie im
HIfS: MfS 79/041).

 

[24] Ebenda, S.
1.

[25] Syrisch
Arabische Republik.

[26] Information
285/79 über Aktivitäten von Vertretern der palästinensischen Befreiungsbewegung,
S. 7/8.

[27]
Ebenda.

[28]
Ebenda.

[29] Thomas
Haury, „Das ist Völkermord!“ Das „antifaschistische Deutschland“ im Kampf gegen
den „imperialistischen Brückenkopf Israel“ und gegen die deutsche Vergangenheit,
in: Matthias Brosch u. a. (Hg.), Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in
Deutschland, Berlin 2007, S. 285.

[30] Artikel 15
der PLO-Charta von 1968.
(http://www.efg-hohenstaufenstr.de/downloads/texte/plo_charta.html)

[31] Siehe
Artikel 19 der PLO-Charta.

[32] Stichwort
Zionismus, in: Dietz Verlag Berlin (Hg.), Kleines politisches Wörterbuch, Berlin
1978, S. 1042.

[33] Streng
vertraulich, Bericht des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht auf der Sitzung
des Staatsrates vom 12.3.1965 über seinen Besuch in Ägypten, SAPMO-BA ZPA, J,
IV, 2/27/1398, S.2, zitiert nach: Michael Wolffsohn, Die Deutschland Akte,
München 1995, S. 251.

[34] Siehe:
Angelika Timm, Hammer, Zirkel, Davidstern, Bonn 1997, S. 234, zitiert nach:
Thomas Haury, „Das ist Völkermord“, in: Matthias Brosch u. a. (Hg.), Exklusive
Solidarität, Berlin 2006, S. 286.

[35] MfS HA II
Nr. 18652.

[36] Erich
Honecker an Präsident Assad, 3.11.1973, SAPMO-BA ZPA, 2/2.035/147, zitiert nach:
Michael Wolffsohn, Die Deutschland Akte, München 1995, S. 251.

[37] Zitat aus
dem Interview mit Markus Wolf aus der Online-Ausgabe der „Jüdischen Rundschau“
(Zürich). Das Interview führte Simon Erlanger anlässlich einer Autorenreise
Markus Wolfs durch die Schweiz am Ende der 90er Jahre. Da Zeitung und Autor
momentan keinen Zugriff auf das Archiv haben, kann keine genaue Aussage darüber
gemacht werden, in welcher Nummer der Zeitung das Interview erschien. Der Text
des Interviews ist jedoch im Internet abrufbar: www.hagalil.com/schweiz/rundschau/index.htm
(21.11.2006).

[39] MfS XV
3690/82 „Händler“ 7116/91.

[40] Skelton
Robinson, Im Netz verheddert, S. 828ff.

[41] Zitat aus
dem Flugblatt „Shalom + Napalm“. Hier zitiert nach: Wolfgang Kraushaar, Die
Bombe im jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005, S. 48.

[42] Kraushaar,
Bombe im jüdischen Gemeindehaus, S. 127ff.

[43] Vgl.
Skelton Robinson, Im Netz verheddert, S. 857.

[44] Wunschik,
Baader Meinhof International, S. 25.

[45] Vgl. Serge
Groussard, La Medaille de Sang, Paris 1977, S. 75ff., zitiert nach: Robinson, Im
Netz verheddert, S. 859, Fn. 133.

[46] Zur
Strategie des antiimperialistischen Kampfes (November 1972), nachgedruckt in:
ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion, S. 151ff.

[47] Ebenda, S.
173.

[48] Die Gruppe
wurde am 4. Februar 1974 verhaftet und hieß deshalb intern Gruppe 4.2.
Zu ihr gehörten: Christa Eckes, Helmut Pohl, Ilse Stachowiak, Eberhard Becker,
Wolfgang Beer und Margrit Schiller.

[49] Vgl.
Skelton Robinson, Im Netz verheddert, S. 861.

[50]
Ebenda.

[51] Ralf
Reinders, Ronald Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni, Berlin 1995, S. 78.

[52] Die
Mitglieder des RAF-Kommandos „Holger Meins“ waren: Karl-Heinz Dellwo, Bernhard
Maria Rössner, Lutz Taufer, Siegfried Hausner und Ulrich Wessel.

[53] Die PFLP,
ursprünglich ein Teil der PLO, hatte sich nach dem Sechs-Tage-Krieg gegründet.
Anders als Jassir Arafat, der in den späten 1970er Jahren begann, eine
Zwei-Staaten-Lösung ins Auge zu fassen, entschied sich die PFLP, dieser Politik
der Anerkennung Israels nicht zu folgen. Sie wollte weiterhin den Staat Israel
vernichten und setzte deshalb ihre Terroranschläge fort.

[54] Skelton
Robinson, Im Netz verheddert, S. 870ff.

[55] Ebenda, S.
887ff.

[56] Skelton
Robinson, Im Netz verheddert, S. 884ff.

[57] Die
Forschungsliteratur zu diesem Zusammenhang ist inzwischen sehr breit. Eine
schnelle Einführung bietet: Angelika Timm, Ein ambivalentes Verhältnis – Juden
in der DDR und der Staat Israel, in: Moshe Zuckermann, Zwischen Politik und
Kultur – Juden in der DDR, Göttingen 2002, S. 17ff.

[58] Damit ist
vor allem die Sozialdemokratische Partei gemeint und Gruppen wie der z. B. links
von ihr stehende Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Explizit
ausgeschlossen sind davon jedoch kommunistische Gruppen, die sich in der Regel
nach 1948 an die Orientierung der SED hielten.

[59] Siehe
hierzu besonders: Kloke, Israel und die deutsche Linke, a. a. O. (Fußnote
1).

“Verwirrte Einzeltäter” und vorfabrizierte Faschisten

Mathias Bröckers 10.12.2009

Dass der Dutschke-Attentäter Joseph Bachmann in einem Neo-Nazi-Terrorcamp trainierte, ist mehr als nur eine historische Fußnote

Die jüngste Entüllung durch Stasi-Akte, nach der der Attentäter Joseph Bachmann, der im April 1968 Rudi Dutschke lebensgefährlich verletzte, in Kontakt mit organisierten Neonazis gestanden habe, birgt nichts wesentlich Neues. Dass Bachmann einen Ausriss der “Deutschen Nationalzeitung” bei sich trug, die mit fünf zu einem Steckbrief aufgemachten Fotos des Studentenführers “Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg!” forderte, war auch bisher schon bekannt. Ebenso wie die brachialen Worte, die er nach seiner Verhaftung zu Protokoll gab: “Ich möchte zu meinem Bedauern feststellen, dass Dutschke noch lebt. Ich hätte eine Maschinenpistole kaufen können. Wenn ich das Geld dazu gehabt hätte, hätte ich Dutschke zersägt.”

  • drucken
  •  

  • versenden

Aussagen wie diese machten es der Justiz einfach, den “verwirrten Einzeltäter” zu verurteilen und auf tiefer gehende Ermittlungen über dessen Hintergründe und Kontakte zu verzichten – beziehungsweise zu vertuschen und nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, was der Stasi-Fund jetzt zu Tage brachte: dass Bachmann unter anderem an Schießübungen militanter Rechtsradikaler in Peine teilgenommen hatte. Bei den von dem NPD-Mitglied Wolfgang Sachse als “Schießwart” organisierten Übungen wurden nicht nur Bombenanschläge auf die innerdeutsche Grenze verübt, die braunen Terrorcamps fanden auch unter Beteiligung lokaler Polizisten und Rückendeckung der Staatsgewalt statt.

Das Desinteresse der bundesdeutschen Behörden, einen derart staatlich gedeckten und geförderten braunen Sumpf nicht als das Nest zu identifizieren, aus dem ein Killer wie Bachmann kroch, scheint ebenso nachvollziehbar wie das Interesse der ostdeutschen Geheimdienste, solche gegen die DDR gerichtete Neonazi-Militanz im Auge zu behalten. Und das, was aus diesen Akten jetzt bekannt wurde, scheint durchaus in das Muster zu passen, wie “verwirrte Einzeltäter” herangezogen und instrumentalisiert werden.

Es sind gestrauchelte, prekäre Existenzen, die zu Ausbildungszwecken für diskrete, illegale Jobs unter die Fittiche der Geheimdienste genommen werden. So wie Lee Harvey Oswald, der als 16-Jähriger bei der “Civil Air Patrol” in die Fänge des pädophilen Oberst David Ferrie geriet, oder wie sein damaliger Co-Kadett Barry Seal, der spätere CIA-Chefpilot des “Iran-Contra”-Schmuggels von Waffen und Drogen. (Der Handel mit dem Feind). Als Barry Seal 1986 aus dem klandestinen Geschäft aussteigen wollte und in einem Kugelhagel ums Leben kam, hatte er die private Durchwahl des Vizepräsidenten George Bush sen. in seiner Börse. Oswald traf sich vor dem Attentat auf John F.Kennedy mit seinem alten Mentor Ferrie – und veranstaltete vor der Kamera Schießübungen

Aufgenommen im Frühsommer 1963 zeigt dieser Film ein von der CIA eingerichtetes militärisches Übungslager für Exil-Kubaner in Lacombe am Lake Pontchartrain nördlich von New Orleans, dessen Existenz bis dahin notorisch bestritten worden war. Die fünf Personen, die auf dem Film zu sehen sind, wurden von dem HSCA-Untersuchungsrichter Bob Tannenbaum identifiziert: Es handelt sich um den Piloten David Ferrie, um David Atlee Phillips, den Chef des CIA-Büros Mexico, das nach der Oswald Verhaftung die KGB-Kuba-Gerüchte streute, um Antonio Veciana von der CIA-gestützten Anti-Castro-Truppe “Alpha 66”, um den Ex-FBI-Mann, Waffenschieber und Ausrüster der Anti-Kuba-Front Guy Bannister, aus dessen Büro Oswald seine “Fair Play For Cuba”- Flugblätter verschickt hatte – und um Lee Harvey Oswald selbst: Beim Schießtraining mit CIA-Agenten und kubanischen Anti-Kommunisten in die Kamera grinsend, bevor er kurz darauf als “Kommunist” und Kennedymörder Weltruhm erlangen sollte.

Durchaus vergleichbar, in ähnlich staatstragender Gesellschaft und an der langen Leine der Geheimdienste dürfen wir uns nun also auch den Dutschke-Attentäter Joseph Bachmann bei seinen Schießübungen vorstellen. Denn um als “verrückter Einzeltäter” aktiv werden, bedarf es nicht nur gewisser Grundausbildungen, sondern auch ideologischer Ausrichtung – und die dürfte Bachmann in Sachen Anti-Kommunismus dort ebenso bekommen habe wie heutige Selbstmordbomber die Einschwörung auf den Dschihad.

Von diesem im Namen des Staats organisierten Terrorcamp wusste Rudi Dutschke nichts, als er mit Joseph Bachmann, der sich 1970 im Gefängnis das Leben nahm, in einen Briefwechsel tat – und hätte er es gewusst, hätte seine protestantische Moral ihn wohl auch dann nicht abgehalten, dem Täter zu verzeihen. Doch wären diese Hintergründe in der im Frühjahr 1968 ohnehin brisanten Lage bekannt geworden, hätte dies wahrscheinlich ein politisches Erdbeben ausgelöst.

Ebenfalls weitgehend unbekannt war damals ja auch, dass einer der führenden deutschen Neo-Nazis und Gründer und Vorsitzender der NPD, Adolf von Thadden, seit den 50er Jahren ein Agent desbritischen MI6 gewesen sein soll. Noch bevor also der deutsche Verfassungsschutz die rechtsradikale Partei übernahm, lief sie unter der Regie der Briten, deren MI6 , so der damalige Leiter des Hamburger Landesamts für Verfassungsschutz, Josef Horchem, “seine Operationen wie eine alte Kolonialmacht in der Bundesrepublik weiter geführt habe”.

Es braucht wenig Phantasie, sich den Zündstoff vorzustellen, den diese Nachricht 1968 ff bedeutet hätte: eine vom britischen Geheimdiensten kontrollierte Neo-Nazi-Partei, deren NPD-“Schießwart” einen mittellosen und unbedarften Attentäter trainiert, der den Wortführer der außerparlamentarischen Opposition niederschießt. Die Proteste wären über Demonstrationen gegen die Hetze der “Bild” und anderer Organe des Springer-Verlags sicher weit hinausgegangen.

Heute weiß das Springer-Blatt BZ, dass die “Geschichte um das Attentat höchstwahrscheinlich neu geschrieben werden muss” – und schon ahnt man, nach welchem Motto der Konzern dabei vorgehen möchte: Wenn, wie im verganenen Mai bekannt wurde, ein verdeckter Stasi-Agent, der Westberliner Kripobeamte Karl-Heinz Kurras, den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hat, und jetzt für die Schüsse auf Rudi Dutschke ein “Nazi” verantwortlich ist, dann kann Springer ja wohl nichts damit zu tun haben. Stasi hier, Nazis da, wir sind’s nicht gewesen ? “So war es nicht”, hält die taz fest:

Di
e Kommentarüberschrift “Stoppt den Terror der Jungroten jetzt”, stammt nicht aus einem NPD-Blatt, sondern aus Bild am 7. Februar 1968. In Karikaturen in Springer-Blättern tauchten die Studenten als neuer SA-Mob auf, der den Springer-Verlag attackierte. Eine Selbstinszenierung, in der sich Springer an die Stelle der jüdischen Opfer der Pogromnacht 1938 hallunzinierte. Die Springer-Blätter quollen über vor Gewaltfantasien, die sich nicht erst bei Bachmanns Schüssen auf Dutschke entluden.taz

Wenn also die Geschichte des Attentats auf Rudi Dutschke, der vor 30 Jahren an den Spätfolgen des Anschlags starb, umgeschrieben werden muss, dann weniger im Hinblick auf die Hetze der Springer-Blätter, als auf die Existenz von Extremisten und Terroristen an der Leine von Geheimdiensten. Auch wenn die Überlegungen der Alliierten für die junge Bundesrepublik durchaus nachvollziehbar scheinen – ehe sich alte Faschisten und neue Nazis wieder zu einer Partei zusammentun, gründen wir verdeckt den Laden lieber gleich selbst -, gehen braune Terrorcamps wie das in Peine über legale operative Aktionen natürlich weit hinaus. Ebenso wie die psychologische Kriegsführung mit beeinflussbaren, gewaltbereiten Gescheiterten wie Bachmann oder Oswald, die als Terroristen trainiert und dann als “verwirrte Einzeltäter” instrumentalisiert werden.

Die Geschichte solchen staatlich inszenierten Terrors muss nicht um-, sie muss überhaupt erst einmal in Gänze aufgeschrieben werden. Und insofern ist dieser historische Fund auch mehr als nur eine Fußnote zu einem längst vergangenen Ereignis, denn er reicht strukturell bis in die Gegenwart – wie unlängst etwa die Debatte über die Rolle der Geheimdienste im Fall Buback www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31120/1.html zeigte, deren Akten die Bundesregierung nicht freigeben will, da einige der Beteiligten noch leben. So kann die Geschichte staatlich inszenierten Extremismus und Terrorismus kann meist nur mit größerem Verzug aufgeschrieben werden. Außer bei kleinen Fehlern, wenn die Decke mal kurz hochfliegt und aktuelle Fälle wie der des Hal Turner, einer der führenden Figuren des “National Socialist Movement” (NSM) in den USA, bekannt werden. Fünf Jahre lang, bis 2007, wurde er für seine Propagandabemühungen als rassistischer Radiomoderator regelmäßig bezahlt. Der Scheck für den vorfabrizierten Faschisten Prefabricated Fascists: The FBI’s Assembly-Line Provocateurs www.lewrockwell.com/grigg/grigg-w119.html kam vom FBI.

Source

40 Jahre nach den Schüssen auf John F. Kennedy

“Ein dummer, kleiner Kommunist”

Mathias Bröckers 21.11.2003

40 Jahre nach den Schüssen auf John F. Kennedy – Teil I

“Grassy knoll” heißt eigentlich “grasiges Hügelchen”, doch im heutigen Amerikanisch ist es auch ein Synonym für “gaga”. Wer “Grassy Knoll”-Theorien vertritt, glaubt auch an Außerirdische oder “Men in Black” hinter jeder Ecke. Aus der Richtung eines grasigen Hügels seitlich der Dealey Plaza in Dallas waren bei dem Attentat auf John F.Kennedy am 22. November 1963 Schüsse gehört und Rauchspuren gesehen worden. Gab es außerLee Harvey Oswald, der aus dem sechsten Stock des “Texas School Book Depository (TSBD)” von hinten auf den Präsidenten geschossen haben soll, weitere Schützen? Der von Präsident Johnson eine Woche nach dem Mord eingesetzte Untersuchungsausschuss unter Verfassungsrichter Earl Warren, die Warren-Kommission, veröffentlichte nach zehn Monaten einen 888-seitigen Report, dem später 26 Bände mit Protokollen und Beweismaterial folgen. Das Ergebnis der aufwändigen Untersuchung: Der ehemalige Marines-Soldat und “bekennende Kommunist” Oswald hatte als Einzeltäter gehandelt – weder bei ihm, noch bei dem Nachclubbesitzer Jack Ruby, der Oswald am 24. November im Polizeipräsidium Dallas erschoss, liegen Anzeichen auf Mittäter oder eine Verschwörung vor.

Das “Verbrechen des Jahrhunderts” fand vor 600 Augen- und Ohrenzeugen statt. Davon wurden 216 Zeugen vom FBI und/oder der Warren-Kommission vernommen, darunter 73 Staatsbedienstete: Polizisten, Regierungsagenten, Sicherheitsleute. Eine Analyse ihrer Aussagen – verglichen mit denen der 143 übrigen Zeugen – ergibt ein deutliches Missverhältnis in der Art der Wahrnehmung: 26 der Staatsbediensteten bezeugten Schüsse aus dem TSBD-Gebäude, nur 8 von ihnen berichten von Schüssen vom “grassy knoll”. Von den übrigen Zeugen jedoch lokalisierten 44 die Schüsse aus Richtung des Grashügels und nur 22 aus der anderen Richtung.

Dieses Missverhältnis könnte mit der besseren Wahrnehmung von Polizisten und Sicherheitsagenten zu tun haben oder damit, dass Staatsbediensteste vor Gericht oder Kommission tendenziös aussagen und sich der staatlich gewünschten Version anschließen – die Warren-Kommission nahm diese Ungereimtheiten nicht zur Kenntnis. Wie ihr Report auch ansonsten als ein fabelhaft detailliertes Lehrstück in der Kunst und Wissenschaft der zielführenden Beweiskonstruktion gelten kann. Subtil gesteuert vom Altmeister verdeckter Operationen, dem von Kennedy gerade gefeuerten Gründer und ersten Direktor der CIA, Allan Dulles, kam die Kommission zum gewünschten Ergebnis:

Wir müssen das aus dem Rampenlicht nehmen, dass da irgendwelche Leute aussagen, dass Chrustschow und Castro dies oder das gemacht haben… das treibt uns in einen Krieg, der 40 Millionen Amerikaner in einer Stunde das Leben kosten kann.

Und so rückte der “grassy knoll” aus dem offiziellen Bild. Jeder weitere Schütze hätte eine Verschwörung – ob von einem der beiden Erzfeinde oder von wem auch immer – ins Spiel gebracht und schied, gleichsam aus weltpolitischen Gründen, aus.

Es gibt keine Verschwörung – es gibt nur Verschwörungstheorien

Lyndon B. Johnsons dramatischer Appell, nur in Richtung eines verwirrten Einzeltäters zu ermitteln, beruhte nicht nur auf der zugespitzten Lage im Kalten Krieg. Zwei Jahre zuvor war die Berliner Mauer errichtet worden und die Stationierung von Sowjet-Raketen auf Kuba hatte beinahe zu einer atomaren Auseinandersetzung der Weltmächte geführt. Johnson hatte auch einen sehr konkreten Anlass.

FBI-Chef Edgar J. Hoover hatte dem Präsidenten am Tag nach dem Attentat mitgeteilt, dass einige Wochen zuvor ein Lee Harvey Oswald in der sowjetischen Botschaft in Mexico-City aufgetaucht, man sich anhand von Fotos und Tonbandaufzeichnungen aber sicher sei, dass es sich dabei nicht um die Stimme des Verhafteten gehandelt hätte. Es waren also schon im Vorfeld falsche Spuren gelegt worden, was aber vor der Warren-Kommission nicht zur Sprache kam, weil Hoover dafür die Quelle – Abhörmöglichkeiten in der Sowjetbotschaft, die die Kollegen vom mexikanischen Geheimdienst DFS für die CIA betrieben – hätte preisgeben müssen.

Ebenfalls aus Mexiko kamen in diesen ersten Tagen Nachrichten über Oswalds Kontakte zur (ebenfalls verwanzten) kubanischen Botschaft, die er Ende September bei einem Aufenthalt in Mexico-City besucht hatte. Für Peter Dale Scott, den emeritierten Berkeley-Professor und Dean der JFK- Forschung (Deep Politics and the Death of JFK), markieren diese sofort nach dem Anschlag hochkommenden Verschwörungsgeschichten über Oswald als KGB- bzw. Castro-Agent die “Phase Eins” der Vertuschung:

Phase Eins stellte das Phantom eines internationalen Komplotts vor und verband Oswald mit der UdSSR, Kuba oder beiden Ländern. Dieses Phantom wurde benutzt, die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung herauszubeschwören und den Untersuchungs-Chef Earl Warren und andere politisch Verantwortliche dazu zu bringen, Phase Zwei zu akzeptieren

die ebenso falsche (aber weniger gefährliche) Hypothese, dass Oswald Kennedy ganz allein tötete.

Der Warren-Kommission von 1964 folgten weitere offizielle Untersuchungen: 1967-68 werden die medizinischen Beweise erneut gesichtet und geprüft; 1975 kommt die Rockefeller-Kommission zu dem Ergebnis, dass die CIA zwar illegale Aktivitäten im Inland betrieben hatte aber nicht an der Kennedy-Ermordung beteiligt war; 1976 stellt der Church-Ausschuss fest, dass Polizei und Geheimdienste der Warren-Kommission entscheidende Informationen vorenthalten haben.

1976-78 kommt ein Sonderausschuss, das House Select Comittee of Assasinations (HSCA), das noch einmal sämtliche Aspekte und Beweismaterialien prüft, zu dem Ergebnis, dass die Ermordung des 35. Präsidenten der USA das Resultat einer Verschwörung war, deren Hintermänner aber nicht ermittelt werden konnten – und dass auch vom “grasy knoll” ein Schuss gefeuert worden sein könnte.

1980 untersuchte das FBI den akustischen Beweis für diesen weiteren Schützen – eine Aufzeichnung des Polizeifunks – und kommt zu dem Schluss, dass vom “grassy knoll” nicht geschossen wurde. 1992 richtet der Kongress, in Reaktion auf Oliver Stones Film “JFK” , den Assasination Record Review Board ein, mit dem Auftrag, möglichst viele Dokumente zur Ermordung, die von den Behörden bisher als zu sensibel für die Veröffentlichung eingestuft wurden, zu prüfen und zu veröffentlichen. Seitdem kamen immer wieder neue, wichtige Details ans Licht, die von Kennedylogen nach wie vor heiß diskutiert werden – der Fall ist nicht abgeschlossen. Am 26.01.2001 meldete die Washington Post: Studie stützt Grassy Knoll.

Es gab eine Verschwörung – nur welche Verschwörungstheorie zutrifft, ist umstritten

Das eigentliche Phänomen ist nicht der unbefriedigend geklärte Präsidentenmord, sondern die Verwandlung des Aggregatzustands des gesamten Ereignisses: Das Verdampfen klarer Widersprüche in einen Nebel aus Unklarheit, die Transformation offensichtlicher Ungereimtheiten in ein Gewaber aus Gerüchten, die Kontaminierung der grundlegenden offenen Frage: “Wer steckt dahinter?” durch die Überladung mit Komplexität, mit einem Dschungel aus Fakten und Spekulationen.

Eine Übersicht aus dem Jahr 1979 listete bereits 600 Buchtitel zum Kennedy-Mord auf, ein Konvolut, das mittlerweile sicher auf mehr als die dreifache Menge angeschwollen sein dürfte. Zwar verkündete ein vollmundiges Werk des Rechtsanwalts und Autors Gerald Posner 1993 “Case Closed – Fall erledigt” – und setzte der Warren-Kommission und den “verwirrten” Einzeltätern Oswald und Ruby nach knapp 30 Jahren ein Denkmal. Eine Dekade später indessen haben aus den Archiven sickernde Dokumente – wie das eingangs zitierte Telefonat Präsident Johnsons – die Lage wieder verdunkelt und klar gemacht: Es gab ein Cover-up. Es wurde von der ersten Stunde der Ermittlungen an getarnt, getrickst, getäuscht. Es wurden vorbereitete Spuren “entdeckt”. Innerhalb kürzester Zeit tauchten Geschichten über Oswalds Kommunisten-Connections auf, um sodann jede Art von Verbindungen von Oswald wie auch von Ruby systematisch auszublenden.

Es gab nicht nur eine Verschwörung zur Ermordung Kennedys, es gab auch eine Verschwörung innerhalb der Behörden, sie nicht aufzudecken

Warum? Der Verfasser der Einzeltäterbibel Posner würde antworten: Nur weil FBI/CIA ihre eigene Schlamperei/Unfähigkeit vertuschen wollen (dieses “bürokratische” Argument, eine Art Inkompetenz-Kompensations-Theorie, vertritt er auch in zwei weiteren Büchern über das Martin-Luther-King-Attentat und den 11.9.). Nun gilt allerdings nach dem Geheimdienstexperten und Bond-Vater Ian Fleming die Regel: “Einmal kann passieren, zweimal ist Zufall, dreimal ist Feindeinwirkung.”

Nach JFK werden 1964 Martin Luther King und 1968 sein Bruder Robert F. Kennedy erschossen – die drei fortschrittlichsten Politiker der USA in fünf Jahren. Und alle von Killern, die in unbefriedigenden Verfahren – die King-Nachkommen haben unlängst eine Wiederaufnahme angestrengt – als “verrückte Einzeltäter” identifiziert werden. Das kann, nach geheimdienstlichem Ermessen, kein Zufall mehr sein und so suchen die JFK-Forscher seit vier Jahrzehnten nach der “Feindeinwirkung”. Die meisten Spuren führen nach innen…

Der erste, der in dieser Ri
chtung suchte und schnell fündig wurde, war Staatsanwalt Jim Garrisonin New Orleans – Kevin Kostner spielt ihn als leisen, wahrheitssuchenden Helden in Oliver Stones “JFK”-Film. Im wirklichen Leben war Garrison eher ein Riese und ein Besessener, der sich als einsamen Gerechten und Superhelden im Kampf gegen eine Verschwörung aus Machtelite, Mafia und Geheimdiensten sah – und sich auf das erste Anzeichen einer Spur stürzte, um dies haarklein zu beweisen.

Garrison klagte den Geschäftsmann Clay Shaw an, doch die Zeugenaussagen, die er für dessen Verbindung mit Lee Harvey Oswald (und der CIA) beibringen konnte, erwiesen sich als zu dürftig, um die Jury zu überzeugen. Zumal sich der für Garrisons Anklage zentrale Verbindungsmann zwischen Shaw und Oswald – der Pilot David Ferrie – wenige Tage vor dem Gerichtstermin das Leben genommen hatte. Shaw wurde freigesprochen und mit diesem Debakel für den jungen Staatsanwalt ging “eines der unwürdigsten Kapitel der amerikanischen Rechtsprechung” (New York Times) zu Ende.

Mittlerweile allerdings wurde anhand freigekommener Akten der Grund für diese “Unwürdigkeit” bekannt: Garrison wurde vom Justizministerium und von den Geheimdiensten von Anfang an massiv sabotiert. Als nationale Berühmtheit zog er fortan durch die Talkshows, um Aufklärung und Offenlegung zu fordern: der nicht vorliegenden Röntgenbilder des Präsidenten, der fehlenden Teile des Zapruder-Films (einer privaten Super-8-Aufnahme des Attentats), der gesperrten Dokumente aus dem Nationalarchiv, verschwundener oder toter Zeugen – und das Gehirn Kennedys. Warum, fragte er immer wieder, wird das vor der Öffentlichkeit zurückgehalten, wenn es keine verborgenen Hintergründe gibt?

So sehr sich der Einzelkämpfer Garrison auch verrannt zu haben schien, seine Hartnäckigkeit sorgte dafür, dass nach und nach ein Großteil der von ihm geforderten Beweise offengelegt und eine weitere Regierungskommission eingesetzt wurde, die nun tatsächlich nicht mehr von einem Einzeltäter ausging – sondern von Hintermänner, die nicht ermittelt werden konnten.

Es gab eine Verschwörung zur Ermordung Kennedys, aber Garrisons Verschwörungstheorie war nicht beweisbar

Marita Lorenz, Tochter einer Amerikanerin und des Kapitäns des deutschen Kreuzfahrtschiffs “MS Berlin”, landete 1959 wenige Wochen nach Fidel Castros Machtübernahme in Havanna. Bei einem Dinner an Bord des Luxusliners bot der Revolutionsführer der schönen Kapitänstochter eine Stelle als Privatsekretärin an, was die Eltern lächelnd zurückweisen. Doch kaum wieder in New York setzt sich Marita nach Kuba ab und wird Castros Geliebte.

Bald schon wird die 19-Jährige schwanger, zu einer Abtreibung gezwungen und nach 8 Monaten hat Fidel genug von ihr. Der CIA-Söldner Frank Sturgis, der Castro bei seinem Putsch gegen Battista mit Knowhow und US-Waffen unterstützt hatte und als sein erster Minister für Glückspiel und Casinos fungierte, verhilft ihr zur Rückkehr in die USA, wo sie sich seiner Anti-Castro-Gruppe anschließt, jener verdeckten “Operation 40” oder “Operation Zapata” der CIA, die seit der gescheiterten Kuba-Invasion im April 1961 den Namen “Schweinebucht” trägt.

Zuvor wird Marita Lorenz als amerikanische Mata Hari noch einmal zu Fidel zurückgeschickt, doch transportiert sie die Giftkapseln, mit denen sie ihn ermorden soll, so ungeschickt, dass sie unbrauchbar werden. Unverrichteter Dinge zurück lebt sie in Miami mit dem venezualischen Ex-Diktator Jeminenz zusammen, ist aber weiter für Frank Sturgis und seinen CIA-“Zahlmeister” Howard Hunt aktiv.

Hunt und Sturgis werden 1972 bei ihrem Einbruch ins Watergate-Hotel verhaftet, der zum Sturz Nixons führt. Als dann 1985 im “Spotlight”-Magazin ein Artikel erscheint, der Hunt und Sturgis auch mit der Kennedy-Ermordung in Verbindung bringt, klagt Howard Hunt wegen Verleumdung. In diesem Verfahren sagt Marita Lorenz unter Eid aus, dass sie am 21. November 1963 mit Sturgis un
d Hunt Waffen von Miami nach Dallas transportiert habe – und mit ihnen am Vorabend des Attentats auch zwei Männer getroffen hätte: Lee Oswald und Jack Ruby.

Source1

Die zerrütteten Familienverhältnisse, sein soziopathisches Verhalten, die Gewalttätigkeit gegenüber seiner Frau – das Psychogramm des Täters Oswald ist von vielen Autoren, darunter Norman Mailer, ausführlich nachgezeichnet worden.

“Ich bin der Sündenbock hier!”, hatte er auf der Pressekonferenz nach seiner Verhaftung gesagt – nicht gerade das Statement eines fanatisierten Polit-Mörders. Für wen aber gab Oswald den Sündenbock ab? Erst aus den seit Mitte der 90er Jahre ins Nationalarchiv überführten Akten, insgesamt 2 Millionen Seiten, tröpfelt nach und nach heraus, dass Lee Oswald für die CIA kein unbeschriebenes Blatt war:

Wir können endlich mit einiger Autorität sagen, dass die CIA schon Wochen vor dem Präsidentenmord ein Netz der Täuschung über Oswald spann, eine Tatsache, die direkt zu dem Ergebnis in Dallas geführt haben könnte. Ist es denkbar, dass die CIA… sich in einen undenkbaren Alptraum aus ihrer eigenen Produktion versetzt fühlte ?

Es ist denkbar. 1955 trat Lee Oswald der Civil Air Patrol (CAP) in New Orleans bei, einer paramilitärischen Pfadfindertruppe, bei der man neben dem soldatischen Drill auch schießen und fliegen lernen konnte. Leiter dieser Gruppe war niemand anderes als der Pilot David Ferrie, der unter merkwürdigen Umständen kurz vor seiner Aussage im Garrison-Verfahren ums Leben gekommen war.

Ferrie war einer jener Mentoren von Oswald die ihre direkte Zugehörigkeit zur CIA stets bestritten, deren gesamte Biographie aber unzweifelhaft auf geheimdienstliche Tätigkeit schließen lässt. Im Falle von Ferrie bestand diese Mitte der 50er Jahre, seinen persönlichen Neigungen sehr entsprechend – wegen seiner Homosexualität hatte er gerade einen zivilen Pilotenjob bei “Southern Airlines” verloren – im Rekrutieren junger, abenteuerlustiger Luftkadetten. Außerdem drillte er im Zuge der Schweinebucht-Operation Exil-Kubaner für die Invasion in von der CIA eingerichteten Lagern.

Schon direkt nach dem Kennedy-Mord als Oswalds CAP-Vergangenheit bekannt wurde, war Ferrie vom FBI verhört worden und hatte bestritten, ihn persönlich zu kennen. Auch im Vorfeld seiner Vorladung durch Garrison behauptete er, ihn nicht näher gekannt zu haben. Tatsächlich aber war Lee Oswald einer von Ferries “Elite-Boys”, wie Daniel Hopsicker in Interviews mit zahlreichen Ex-Mitgliedern der New Orleans CAP herausfand – in seinem Buch (“Barry and the Boys”, 2001) über einen weiteren Zögling von David Ferrie, der später ebenfalls Geschichte machen sollte: Barry Seal und Waffenschmuggels, der als “Iran-Contra-Affäre” bekannt werden sollte. Auch Barry Seal, der schon als jugendlicher CAP-Flieger Waffen nach Kuba flog, in den 60ern Heroin aus Laos und Vietnam Waffen einflog und zu seinen Spitzenzeiten Ende der 70er wöchentlich 1,5 Tonnen Kokain transportierte, war offiziell nie Angestellter der CIA oder eines anderen Diensts – obwohl er (wie David Ferrie oder Frank Sturgis) zeitlebens für sie arbeitete.

Es gab eine Verschwörung zur Ermordung Kennedys, die CIA war darin verwickelt und versuchte, dies zu vertuschen

Dass Staatsanwalt Garrison sich 1967 zwar erfolglos in den Fall verbissen hatte, mit seinem plötzlich verstorbenen Hauptzeugen David Ferrie aber genau in der richtigen Richtung lag – hier sein abschließendes Statement – wird spätestens 10 Jahre später klar, als vor dem Sonderauschuss des Parlaments (HSCA) ein Super-8-Film aus dem Archiv der Universität Georgestown auftaucht.

Aufgenommen im Frühsommer 1963 zeigt dieser Film ein von der CIA eingerichtetes militärisches Übungslager für Exil-Kubaner in Lacombe am Lake Pontchartrain nördlich von New Orleans, dessen Existenz bis dahin notorisch bestritten worden war. Die fünf Personen, die auf dem Film zu sehen sind, wurden von dem HSCA-Untersuchungsrichter Bob Tannenbaum identifiziert: Es handelt sich um den Piloten David Ferrie, um David Atlee Phillips, den Chef des CIA-Büros Mexico, das nach der Oswald Verhaftung die KGB-Kuba-Gerüchte streute, um Antonio Veciana von der CIA-gestützten Anti-Castro-Truppe “Alpha 66”, um den Ex-FBI-Mann, Waffenschieber und Ausrüster der Anti-Kuba-Front Guy Bannister, aus dessen Büro Oswald seine “Fair Play For Cuba”- Flugblätter verschickt hatte – und um Lee Harvey Oswald selbst: Beim Schießtraining mit CIA-Agenten und kubanischen Anti-Kommunisten in die Kamera grinsend, bevor er kurz darauf als “Kommunist” und Kennedymörder Weltruhm erlangen sollte.

Bob Tannenbaum glaubte kaum seinen Augen zu trauen, als er den Film zum ersten Mal sah – und fertigte ein Transkript und ein Protokoll des Films. Als jedoch vom Kongres blockiert wurde, den CIA-Mann David Atlee Philipps dazu ins Kreuzverhör zu nehmen – und wenig später der Film aus dem Archiv des Parlaments verschwand (bis heute spurlos), trat Tannenbaum von seinem Amt als HSCA Deputy Counsel zurück.

Das Ergebnis des House Select Commitee of Assasinations von 1978, dass Kennedy einer Verschwörung zum Opfer gefallen sei, deren Hintermänner nicht ermittelt werden könnten, war eine Schutzbehauptung. Sie sollte verbergen, dass Staatsanwalt Garrison sehr richtig gelegen hatte, als er die Mörder Kennedys in Kreisen rechtsgerichteter, von der CIA unterstützterAnti-Castro-Terroristen suchte. Das bezeichnenderweise verschwundene (aber zweifelsfrei dokumentierte) Homevideo über das Lager in Lacombe zeigt die Verschwörer, einschließlich des Fake-Kommunisten Oswald, wie in einer Nussschale. Hätte dieser Film 1967 schon Garrison vorgelegen oder nach seinem kurzen Auftauchen vor dem HSCA-Auschuß öffentlich gezeigt werden können – die Legende des verwirrten “kommunistischen” Einzeltäters Oswald hätte sich ein für alle Mal in Luft aufgelöst.

Die Invasion in der Schweinbucht war schon vor Kennedys Vorgänger Eisenhower von der CIA geplant und vorbereitet worden, doch der neue Präsident zögerte, als man ihm den Plan vorlegte. Die Gefahr, dass dies als offizielle US-Invasion ausgelegt werden und zur Eskalation mit den Sowjets führen könnte, schien ihm zu groß. Unter Druck gesetzt und mit dem Hinweis beschwichtigt, dass ausschließlich Exil-Kubaner und keine US-Truppen beteiligt seien, stimmte Kennedy schließlich zu.

Die CIA-Planer unter Allan Dulles gingen in völliger Verkennung der Lage davon aus, dass sich mit der Invasion die kubanischen Streitkräfte und die Bevölkerung gegen Fidel Castro erheben würden – und Kennedy so zu einer massiven militärischen Intervention gebracht werden könnte. Doch die 2.500 Mann, die am 17. April 1961 den Angriff in der Schweinebucht starteten, wurden innerhalb vier Tagen von vielfach überlegenen und wütenden Castro-Getreuen niedergemacht bzw. gefangengenommen.

Als dieses Debakel schon kurz nach dem Start der Invasion absehbar wurde, forderten CIA-Chef Dulles und militärische Hardliner vom Präsidenten Luftunterstützung durch die Air Force, die Kennedy aber verweigerte. Damit war für alle Beteiligten klar: JFK, und niemand anderes hatte “la casa”, die kubanische Sache, versaut. Zusätzlich war sein Bruder Bobby als neuer Justizminister wie der Teufel hinter denen her, die die ganze Aktion großzügig finanziert hatten: dem Mob der Kasino- und Bordellbesitzer, die an ihre von Castro verstaatlichten Fleischtöpfe in Havanna zurückwollten.

Die Verschwörungstheorie, dass die “Mafia” Kennedy ermordet habe, lenkte gezielt von der eigentlichen Verschwörung ab

Dass die “Mafia”, der Mob, das organisierte Verbrechen hinter dem Kennedy-Mord steckt, ist bis heute eine der populärsten Theorien, was aber weniger mit ihrer beweiskräftigen Fundierung, als damit zu tun haben dürfte, dass die vielen Bücher und Dokumentationen, die sie “beweisen”, eine gewisse Förderung erfuhren – durch CIA und FBI.

Dass Vater Joseph Kennedy, der sein Vermögen in der Prohibitionszeit in enger Kooperation mit der Mafia gemacht hatte, auf diese alten Verbindungen zurückgriff, um seinem Sohn in entscheidenden Stimmbezirken die (denkbar knappe) Präsidentenwahl zu kaufen; dass John F. Kennedy und sein Bruder Robert als Justizminister sich dann nicht an die Abmachungen hielten und weiter gegen den Mobster Jimmy Hoffa und seine “Teamster”-Gewerkschaft ermittelten, ebenso wie gegen die Bosse Santos Trafficante (Florida), Carlos Marcello (New Orleans) und Sam Giancana (Chicago); und dass nun auch noch die von ihnen finanzierte Schweinebucht durch Kennedy zum Desaster wurde – dieser Verrat soll die Mafiachefs so erzürnt haben, dass sie drei französische Profikiller für den Job in Dallas anheuerten und sofort nach der Tat wieder außer Landes schafften.

Soweit, in aller Kürze, die “Mob did it!”-Theorie, die bei aller Güte freilich einen entscheidenden Haken hat: Selbst wenn man dem organisierten Verbrec
hen viel zutraut, so wäre es wohl nicht in der Lage, ein halbes Dutzend Untersuchungskommissionen über Jahrzehnte zu manipulieren – und Beweisstücke aus den Staatsarchiven verschwinden zu lassen. Wie den oben erwähnten Film, der nicht nur die CIA-Verbindung Oswalds und seiner Mitverschwörer aufzeigt, sondern auch ihre Mob-Connections.

Das Trainingscamp für die Anti-Castro-Guerilla, in dem Lee Oswald mit seinem Mentor David Ferrie Schießen übte und dessen Existenz CIA und FBI im Garrison-Prozess noch vehement abgestritten hatten, lag auf dem Grundstück von Mike McLaney – einem Kasinobetreiber in Havana und “Leutnant” des Mob-Moguls Meyer-Lansky, der auf demselben Anwesen ein Jagdhaus hatte. Sein Bruder Bill McLaney betrieb den “Carousel”-Club in Las Vegas und einer ihrer engsten Mitarbeiter, Lewis McWillie, war der beste Freund des Mannes, der den “Carousel”-Club in Dallas betriebt:Jack Ruby.

Dessen gute Verbindungen nicht nur zum Dallas Police Department, das er regelmäßig mit Informationen und Sandwiches versorgte – Polizisten hatten in Rubys Strip-Club freien Eintritt -, sondern auch zur Mafia, wurden von der Warren-Kommission noch heruntergespielt: Man brauchte verwirrte – im Falle von Ruby “emotionale”, “patriotische” – Einzeltäter. Tatsächlich hatte Ruby, wie der HSCA-Ausschuss später fand, schon Ende der 40er Jahre in seiner Heimatstadt Chicago für den Mob Drogen geschmuggelt und erledigte auch später in Dallas diverse illegale Geschäfte – darunter seit 1959 Waffenschmuggel für die Anti-Castro-Guerillas.

Wie Oswald in seiner ersten und letzten Pressekonferenz beteuerte auch sein Mörder Ruby mehrfach “nur der Sündenbock” zu sein – und verlangte von der Polizei und später von der Warren-Kommission nach Washington gebracht zu werden, wo er eine volle Aussage machen würde: In Dallas sei er seines Lebens nicht sicher. Doch so genau wollte man es gar nicht wissen. Rubys Gesuche wurden verweigert – er starb im Gefängnis 1967 an Krebs.

Der Fall ist nicht abgeschlossen und es sind keineswegs nur “grassy knoll”-Spinner, Konspirologen oder Extremisten, die das Verbrechen des Jahrhunderts interessiert. Immer noch bergen freigegebene Akten aus den Archiven neue Details, sorgen neue Dokumente und für erregte Debatten, wie etwa die Belege über die Manipulationen der pathologischen Befunde Kennedys – oder über die tatsächliche CIA-Verbindung von Garrisons Hauptangeklagten Clay Shaw. Noch 2001 sahen sich staatstragende Magazine wie “The Nation” oder “”Foreign Affairs” genötigt, diese neuerlichen Kredite an die “Paranoiker” Garrison und Oliver Stone in aufgeregten Artikelnzurückzuweisen – mit der “Enthüllung”, Garrison sei 1963 einer über die italienische Wochenzeitung Paese Sera lancierte KGB-Desiformation anheim gefallen.

In dem italienischen Artikel ging es aber gar nicht um die Kennedy-Ermordung, sondern um eine internationale Firma, die Geldwäsche betreibt, in den in den Putsch gegen Frankreichs General de Gaulle verwickelt war und des Landes verwiesen wurde. Diese “Centro Mondiale Comerciale [CMC]” und ihre Muttergesellschaft “Permindex” wurden in dem Artikel verdächtigt, Tarnfirmen für CIA-Aktivitäten zu sein und Clay Shaw aus New Orleans als einer ihrer Direktoren benannt. “Alles in den Paese Sera-Artikeln ist Lüge!”, so “Nation”- Autor Max Holland, dessen Artikel die CIA gleich auch auf ihrer eigenen Website publizierte. Als sich das Blatt weigerte, eine Erwiderung Oliver Stones zu drucken, schaltete er sie als Anzeige:

Zwei wichtige Fakten aus der Paese Sera Geschichte bleiben wahr

1.) CMC wurde 1962 gezwungen Italien zu verlassen (nach Johannesburg, Südafrika), unter einer Wolke des Verdachts über seine CIA-Verbindungen 2.) Clay Shaw war Mitglied des CMC Direktoriums.

Die CIA behauptet bis heute, ihr “ehemaliger” Mitarbeiter Clay Shaw sei 1956 ausgeschieden.

Es gab eine Verschwörung zur Ermordung Kennedys, die CIA war darin verwickelt und versucht bis heute, dies zu vertuschen

Es scheint, dass Jacqueline Kennedys Wunsch nach einem würdigen Anlass für den Mord an ihrem Mann in Erfüllung gegangen ist: Es war kein “silly little communist”, es war,alles in allem, Kennedys Kampf für die “Bürgerrechte”, der die Koalition seiner Mörder zusammenschweißte und zum Attentat führte.

Gegen die Intentionen seines FBI-Chefs Hoover ließ er Rassisten wie den KuKluxKlan verfolgen und setzte das Ende der Rassentrennung an den Schulen im Süden mit der Nationalgarde durch. Gegen die Interessen von Wall Street und “Big Oil” sprach er sich für Sozialpolitik und “New Deal” aus. Über Empfehlungen von Generälen und Beratern setzte er sich zunehmend hinweg – und in Sachen Kuba suchte er jenseits der Invasions-Hardliner in CIA und Militär den Verhandlungsweg mit Castro. Als die Nachrichten darüber durchsickerten und gleichzeitig das FBI im Auftrag seines Bruder im Juli 1963 das Lager in Lacombe durchsuchte, ein großes Waffen- und Sprengstofflager beschlagnahmte und 8 anwesende Exil-Kubaner festnahm, war das Maß voll.

Dass die Festgenommenen kurz darauf ohne irgendwelche Anklagen wieder freigelassen werden, gilt einigen Beobachtern als der entscheidende Wendepunkt. Kennedy schien die Macht im Staate zu entgleiten, er war zum Abschuss freigegeben. Und eben jene Koalition aus CIA-Haudegen wie Sturgis, Ferrie und Phillips, deren mühsam aufgebautes illegales Waffendepot gerade beschlagnahmt worden war, macht sich jetzt daran, den finalen Plot zu arrangieren, mit verschiedenen Schützen – möglicherweise von der Mafia beigesteuert – und ihrem Zögling, dem “Kommunisten” Oswald, dem man rechtzeitig einen “aussichtsreichen” Arbeitsplatz verpasst, als potenziellem Sündenbock.

Vorgesorgt wurde, falls etwas schief geht, was dann auch prompt und reichlich geschah, als Oswald, bereits eine Stunde nach der Tat gestellt, einen Polizisten erschießt – und schon im Polizeipräsidium zu plaudern beginnt. Jack Ruby, Sam Giancana’s “Mann in Dallas” und Kumpel aller Polizisten gelangt mühelos ins bewachte Untergeschoss, als Oswald gerade abgeführt wird und erschießt ihn vor laufender TV-Kamera.

Lee Oswald und sein Mörder Jack Ruby waren als Sündenböcke auserkoren und Teile DERSELBEN Verschwörung

Solange nicht die letzten Dokumente ins Licht der Öffentlichkeit gelangen – und die Sperre für die heikelsten beträgt noch weitere 35 Jahre -, ist der Fall nicht geschlossen, die Debatte nicht beendet. Die Lager in Sachen JFK-Mord – “Einzeltäter”-Gläubige hier, “Verschwörungs”-Gläubige da – stehen fest, wobei das Einzeltäterlager mit etwa 25 % der US-Bevölkerung zahlenmäßig zwar weit unterlegen ist (66 % glauben an eine Verschwörung), aber dafür nahezu den gesamten Mainstream von Medien und Meinungsführern auf seiner Seite hat.

Deshalb konnte sich die Einzeltäter-Theorie als offizielle historische Version in den Lexika und Enzyklopädien etablieren, während die Verschwörung dem Bereich der Legende, dem Mythos, dem Volksglauben zugeschrieben wird. Und dies obwohl sich die akademischen Historiker bis heute des Themas Kennedy-Mord weitgehend enthalten haben: Aufgrund der einerseits zwar riesigen, andererseits aber nach wie vor nicht nur lückenhaften, sondern auch fragwürdigen (weil behördlich gefilterten) Menge an Beweismaterial und Dokumenten wäre es, zumindest nach streng wissenschaftlichen Kriterien, schlicht verfrüht, Schlüsse zu ziehen.

Andererseits kann kein Professor mit großer Förderung für den Nachweis rechnen, dass im Namen des Staats Verbrechen begangen und Präsidenten ermordet werden. Und so konnte es kommen, dass nach vier Jahrzehnten trotz aller offensichtlichen Widersprüche und Ungereimtheiten die Einzeltäter-Theorie als historische “Wahrheit” gilt und die der Realität sehr viel näher kommenden Verschwörungstheorien als “Mythos”. Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben – und so haben es auch die Sieger des Staatsstreichs vom 22. November 1963 getan.

Das Wuchern von Verschwörungstheorien über den Kennedy-Mord dient nach wie vor der Tarnung der eigentlichen Verschwörung

Nur zweimal sah ich als kleiner Junge meine Mutter morgens am Frühstückstisch weinen: als mein Großvater gestorben war und nach dem Mord an Kennedy. Ich kam in die Küche, die Zeitung mit der Schlagzeile lag vor ihr und ich fragte, warum sie weint: “Ach”, sagte sie und nahm mich in den Arm, “die Welt ist so schlimm.”

Der Sunnyboy aus Massachusetts, der “Berliner” aus Amerika, hatte nicht nur in seinem Land in kürzester Zeit die Hirne und Herzen der Menschen erobert. Weder seine notorischen Hurengeschichten, noch der mafiose Vater, der schon eine Dynastie von 30 Jahren voraussah, wenn alle seine Söhne zweimal kandierten, noch außenpolitische Debakel wie die Schweinebucht und Vietnam konnten daran etwas ändern. Der Mythos Kennedy als Synonym für ein demokratischeres, freieres Amerika hat bis heute Bestand, auch wenn Entmythologisierer wie Seymour Hersh – in seinem Buch “The dark side of camelot, 1998 – ihr Bestes getan haben.

Wie die Harvard-Historiker May und Zelikow anhand freigegebener Tonbandaufzeichnungen über die Beratu
ngen im Weißen Haus angesichts der in Kuba stationierten Sowjetraketen analysierten, war Kennedy “oft der einzige Mann im Raum, der nicht zum Krieg entschlossen war” (Ernest R. May & Philip D. Zelikow: The Kennedy Tapes, 1997). Ihr Kollege Howard Jones stellt zu den Beratungen über das Engagement in Vietnam fest, “dass das einzige hochrangige Mitglied der Kennedy-Administration, das sich stets gegen eine Entsendung von US-Truppen aussprach, der Präsident selbst war.” (Howard Jones: Death of a Generation – How the Assassinations of Diem and JFK Prolonged the Vietnam War, 2003). Kennedys Biograph von der Boston University, Robert Dallek (An Unfinished Life – John F. Kennedy 1917 – 1963, 2003) fügt dazu ein Original-Zitat an, das den Kern der Materie trifft:

Der erste Rat, den ich meinem Nachfolger gebe, ist, auf die Generäle zu achten und das Gefühl zu vermeiden, dass nur, weil sie Militärs sind, ihr verdammter Rat etwas wert ist.

Kennedy war in den 1.055 Tagen seiner Präsidentschaft zu einer Herausforderung geworden: für die Machtelite, für den militärisch-industriellen Komplex, für die Geheimdienste. Der Strahlemann, dem niemand viel zugetraut hatte, machte sich zunehmend selbstständig. Er hatte, unterstützt von seinem Bruder, intern mehrfach gedroht, die CIA “in tausend Stücke zu zerschlagen”. Eine zweite Amtszeit für John F. Kennedy, da sind sich viele Historiker mittlerweile einig, hätte einen entscheidenden Politikwechsel mit sich gebracht. Die Killer, die am 22. November 1963 in Dallas zuschlugen, wussten das zu verhindern – und ihren Auftraggebern ist es bis auf den heutigen Tag gelungen, die Tat zu verschleiern.

Der “dumme kleine Kommunist” mag uns auch künftig besser schlafen lassen, ansonsten aber gilt: “Die Welt ist so schlimm”.

Source2

Antisemitismus-Forscherin Monika Schwarz-Friesel zu Günter Grass

“Dieser Text bedient moderne antisemitische Klischees”

Antisemitismusforscherin über das Israel-Gedicht von Günter Grass

Monika Schwarz-Friesel im Gespräch mit Klaus Pokatzky

Die Berliner Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel hat Günter Grass für sein Gedicht “Was gesagt werden muss” scharf kritisiert. Im Gewand der Israelkritik verbreite es antisemitische Klischees.

Klaus Pokatzky: “Der ewige Jude” hieß einer der widerwärtigsten antisemitischen Propagandafilme der Nazis, in denen von Juden gesprochen wurde und dabei wimmelnde Rattenhaufen gezeigt wurden. Im September 1940 kam er in die deutschen Kinos. Das Drehbuch stammte von Eberhard Taubert. Der war ein hoher Funktionär in Goebbels Propagandaministerium, und nach dem Krieg wirkte er als Jurist in der deutschen Industrie und als Berater von Franz-Josef Strauß, dem CSU-Politiker. Wenn am letzten Mittwoch auf der Seite Eins der Tageszeitung “Die Welt” als Aufmacher ein Artikel im Feuilleton angekündigt wird mit der Schlagzeile “Günter Grass. Der ewige Antisemit”, dann kann tiefer unter die Gürtellinie nicht geschlagen werden. Am Telefon begrüße ich nun Monika Schwarz-Friesel, die Leiterin des Fachgebietes Allgemeine Linguistik an der Technischen Universität Berlin. Guten Tag, Frau Friesel!

Monika Schwarz-Friesel: Guten Tag!

Pokatzky: Frau Friesel, Sie beschäftigen sich seit einigen Jahren wissenschaftlich damit, wie sich der Antisemitismus heute äußert. Hat Günter Grass diese Schlagzeile verdient, “Der ewige Antisemit”?

Schwarz-Friesel: Nein. Diese Schlagzeile ist in der Tat vielleicht etwas, aus journalistischen Gründen, zu hoch gegriffen. Aber: Die ganze Debatte wird ja sehr emotional und verkürzt geführt und umso wichtiger ist es, tatsächlich auch den Finger auf seinen Text zu legen und zu schauen: Was hat er denn tatsächlich geschrieben. Und dieser Vorwurf des Antisemitismus, bleibt der bestehen, wenn man sich den Text nach wissenschaftlichen Kriterien anschaut? Und da wiederum kommt man zu dem traurigen Ergebnis: Ja, dieser Text bedient moderne antisemitische Klischees, die im Gewand des Anti-Israelismus auftauchen. Das ist ein bekanntes Phänomen. Wir wissen seit vielen Jahren, dass man nicht das Wort Jude benutzen muss, um sich antisemitisch zu artikulieren. Das heißt aber andererseits natürlich nicht, dass wir Günter Grass auch einen sogenannten Einstellungsantisemitismus unterstellen können oder müssen. Wir differenzieren ja in der Forschung zwischen der bewussten Einstellung, wie wir sie vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert gefunden haben, wo tatsächlich beispielsweise Goebbels und Hitler gesagt haben, wir sind Antisemiten, und das ist der Unterbau unserer Bewegung. Das alles taucht natürlich bei Günter Grass nicht auf, aber wenn man, wie wir in unserer Forschergruppe seit vielen Jahren es tun, zahlreiche historische und aktuelle antisemitische Texte analysiert hat und auch so einen Katalog mittlerweile aufgestellt hat: Wann ist ein Text antisemitisch? Dann muss man ganz objektiv feststellen, dass Günter Grass in diesem Text tief in die Verbalisierungsmechanismen von modernem Antisemitismus gegriffen hat.

Pokatzky: Welche Klischees, welche antisemitischen Klischees bedient er denn da genau?

Schwarz-Friesel: Also ein uraltes Klischee, was vor allem im 19. Jahrhundert, aber auch in der Zeit der Nationalsozialisten immer wieder bedient wurde, war die bedrohende Gefahr. Also Juden und Judentum sind eine Gefahr für die Welt, für Deutschland. Deshalb wurden sie ja am Ende entsprechend auch ausgerottet vor dem Hintergrund dieser Ideologie. Und man hat immer betont, es sind Fakten, es sind Tatsachen. Solche Äußerungen finden wir übrigens auch in diesem Gedicht und auch in den nachfolgenden Äußerungen von Günter Grass. Und er scheint hier also nicht zu wissen, dass das fast im Wortlaut die Legitimierungsstrategien sind, die Antisemiten seit über 200 Jahren benutzen. Und wenn wir uns den Text anschauen, dann sehen wir, dass er nahezu alle Muster und Strategien benutzt, also ich nenne einige konkrete Sachen – wenn wir diesen vielzitierten Satz nehmen: “Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.” Das ist natürlich eine groteske Übertreibung. 

Pokatzky: Oder die Auslöschung des iranischen Volkes.

Schwarz-Friesel: Genau. Genau. Das ist nicht nur eine Übertreibung, es ist ganz einfach falsch. Es ist falsch, und wir haben hier die klassische Täter/Opfer-Umkehr. Das ist eine Strategie, die wir seit vielen Jahrzehnten im antisemitischen Diskurs sehen. Also die Welt wird einfach auf den Kopf gestellt. Die Juden, die eigentlich die Verfolgten waren und immer noch Opfer von Diskriminierung heute sind, werden plötzlich zu Tätern stilisiert. Und das ist in diesem Text in Bezug auf Israel ganz klar gemacht worden. Und man darf natürlich nicht vergessen, also viele haben ja in den Medien dann gesagt: Aber ich sehe nichts Antisemitisches. Man muss nicht das Wort Jude in einem Text haben heutzutage. Wir haben nach 1945 eine Tabuisierung von offenem Antisemitismus und wenn wir uns anschauen, auch Rechtsextremisten und Linksextremisten, die glühende Ant
isemiten sind, benutzen fast exakt die Strategien, die wir in diesem Gedicht von Günter Grass finden. Also zum Beispiel, sie behaupten ein angebliches Meinungsdiktat. Das findet sich in dem Text von Grass auch. Allein der Titel: “Was gesagt werden muss” – da ist die Implikatur, das hätte vorher noch niemand gesagt, und es würde ein moralischer Anspruch bestehen.

Pokatzky: Aber Frau Schwarz-Friesel. Wenn Sie jetzt darauf hinweisen, dass es sich hier sozusagen um sprachliche Defizite handelt, also dass er mit der Sprache nicht sensibel genug umgegangen ist – der Mann ist Literaturnobelpreisträger.

Schwarz-Friesel: Genau. Das ist eine eigentlich für ihn sehr peinliche und beschämende Komponente. Denn er ist ja nicht irgendwer, der diesen Text geschrieben hat. Er hat einen Nobelpreis für Literatur bekommen. Und man müsste doch zumindest von jemandem, der sich sein Leben lang mit Literatur beschäftigt hat, erwarten, dass eine gewisse Sensibilität bei einem so heiklen Thema und bei einer noch heikleren Vergangenheit sollte doch eigentlich eine gewisse Sensibilität im Umgang mit Sprache vorhanden sein. Die vermisse ich eklatant. Und das Traurige ist, dass selbst wenn er das nicht intentional verwendet hat, er bedient aber eben die alten Ressentiments und Stereotype durch diese Täter/Opfer-Umkehr, durch die Stilisierung, es gebe ein angebliches Meinungsdiktat – das stimmt nicht. Man muss sich ja vor Augen halten, dass Israel nachweislich, aufgrund aller Statistiken dasjenige Land ist, was am meisten und am heftigsten in den Medien in den letzten zehn Jahren kritisiert worden ist. Und auch seine Atompolitik ist schon des Öfteren kritisiert worden. Also alles, was er eigentlich geschrieben hat, ist falsch oder dumm.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Monika Schwarz-Friesel, die Leiterin des Fachgebietes Allgemeine Linguistik an der Technischen Universität Berlin. Frau Schwarz-Friesel, was bitte ist denn heute Antisemitismus?

Schwarz-Friesel: Sie wissen, das ist die Gretchenfrage, die uns seit vielen Jahrzehnten beschäftigt. Das heißt, mit einem Satz kann ich es nicht beantworten. Ich kann es aber versuchen, in zwei, drei Sätzen zumindest zu skizzieren. Wir unterscheiden bei uns in der Forschung zwischen einem konzeptuellen Antisemitismus, das heißt, dass wenn wirklich die Einstellung vorliegt, man hat etwas gegen Juden, man ist ein Feind von Juden und Judentum. Das möchte ich Günter Grass nicht unterstellen. Ich hoffe sehr, dass das auf keinen Fall vorliegt, das glaube ich auch nicht. Aber wir haben eine ebenso gefährliche Variante, den Verbalantisemitismus. Das sind alle sprachlichen Äußerungen, die Stereotype, Ressentiments, Vorurteile bedienen …

Pokatzky: Wann wird denn eine Kritik an Israel antisemitisch?

Schwarz-Friesel: Genau in dem Moment – und hier möchte ich kurz noch vorher darauf hinweisen, dass diese Feststellung, die seit vielen Jahren durch die Medien geistert, man könne diese beiden Phänomene nicht klar voneinander abgrenzen, die stimmt einfach nicht. Aus strikt wissenschaftlicher, textanalytischer Sicht können wir diese beiden Texttypen sehr klar voneinander abgrenzen. Ich habe bislang noch nie einen Text von einem souveränen Journalisten oder Politiker gesehen, der tatsächlich ernsthafte Israelkritik übt, so scharf sie auch sein mag, dem man dann Antisemitismus vorwirft. Aber jemand, der nur so tut, als ob er Israel kritisiert, tatsächlich aber alte Klischees und Ressentiments bedient, benutzt, und jetzt kommt die Sprache ins Spiel, automatisch auch eine sehr verräterische Sprache. Er dämonisiert, er delegitimiert, er stellt Realitäten falsch dar. Und diese Komponenten finden wir in dem Gedicht von Günter Grass.

Pokatzky: Ist damit das Einreiseverbot für ihn in Israel gerechtfertigt, Ihrer Meinung nach?

Schwarz-Friesel: Also ich bin Wissenschaftlerin, keine Politikerin und keine Diplomatin. Deshalb ist es für mich sehr schwer, auf diese Frage zu antworten.

Pokatzky: Haben Sie Verständnis dafür?

Schwarz-Friesel: Ja. Ich habe Verständnis dafür, aber ich denke auch, dass es ihm eigentlich zu viel an Bedeutung beimisst. Ich denke, da hat jemand sich auf ein Podium geschwungen, der vielleicht einfach mal gerne wieder in der Aufmerksamkeit stehen wollte. Und deshalb halte ich dieses Einreiseverbot nicht für die beste Strategie.

Pokatzky: Der israelische Autor Uri Avneri hat dazu gesagt: Es ist antisemitisch, darauf zu bestehen, dass Israel in Deutschland nicht kritisiert werden darf.

Schwarz-Friesel: Ja, wissen Sie, ich habe Probleme mit Herrn Uri Avneri. Er schreibt so Einiges, wo man sich als Wissenschaftler an den Kopf greift. Also es gibt in Israel – nochmal: es gibt nachweislich kein Kritik-Tabu an Israel, an seinen Aktionen, an seiner Politik. Schauen Sie sich die Presse an, schauen Sie sich das Internet an, wir erleben tagtäglich sehr scharfe, sehr harsche Kritik an Israel, und wenn sie nicht in diese alten Strategien des Antisemitismus verfällt, dann kommt auch niemand, auch nicht aus der Antisemitismusforschung auf die Idee, dies antisemitisch zu nennen. Aber es gibt eben Menschen, die obsessiv sich auf Israel fixieren. Und das sind leider nicht nur Rechts- und Linksextremisten, sondern, wie wir in unserer Forschung gezeigt haben, Antisemitismus war und ist immer auch dein Phänomen der Mitte. Also Bildung schützt nicht vor Antisemitismus. Das ist ein altes Vorurteil.

Pokatzky: Danke an Monika Schwarz-Friesel, die Leiterin des Fachgebietes Allgemeine Linguistik an der Technischen Universität Berlin.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Source : dradio.de

40 Jahre Rote Armee Fraktion

40 Jahre Rote Armee Fraktion

Ernst Corinth 19.04.2010

Michael Sontheimer, der ein Buch über die Geschichte der RAF geschrieben hat, über den Einfluss der Geheimdienste, die Abenteuerlust, die Rolle der Frauen und die “Stalingrad-Mentalität” der RAF

Äußerer Anlass für das Erscheinen von Michael Sontheimers Buch “Natürlich kann geschossen werden” – Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion, ist der 14. Mai 1970, der Tag, an dem ein Mann und vier Frauen darunter Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof in West-Berlin den Strafgefangenen Andreas Baader befreiten. Nicht nur für Sontheimer war dies die Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion (RAF), die dann fast drei Jahrzehnte lang auch mit Mitteln des Terrors gegen Staat und Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland kämpfte.

Erst im April 1998 erklärte die RAF schließlich ihren Kampf für beendet. Sie ermordete in der Zeit 33 Menschen, 21 ihrer Mitglieder kamen ums Leben. Der entstandene Sachschaden beläuft sich nach Schätzungen auf rund 250 Millionen Euro.

Michael Sontheimer selbst wurde 1955 in Freiburg im Breisgau geboren. Er zählt zu den Gründern der Berliner tageszeitung (taz), war Redakteur und Autor bei der Zeit und arbeitet seit 1995 für den Spiegel. Außerdem schrieb er zehn Bücher zu politischen und zeitgeschichtlichen Themen. Sein Buch wird am 12. Mai um 19 Uhr im taz-Café in Berlin präsentiert mit einem Gespräch des Autors mit dem ehemaligen RAF-Mitglied Astrid Proll.


Für Sie ist die Befreiung von Andreas Baader am 14. Mai 1970 gleichzusetzen mit der Gründung der RAF. War deren Gründung nicht eher zufällig, also die Folge dieser Befreiungsaktion? Oder war sie schon zuvor gleichsam in den Köpfen der Beteiligten?

Michael Sontheimer: Schon als Gudrun Ensslin und Andreas Baader Anfang des Jahres 1970 noch in Rom waren, diskutierte in West-Berlin eine Gruppe um Horst Mahler, Manfred Grashof und andere die Gründung einer Stadtguerilla-Gruppe. Bei dem Versuch, Waffen zu beschaffen, verhaftete die Polizei dann den nach West-Berlin zurückgekehrten Baader. Gudrun Ensslin sorgte dafür, dass eine bewaffnete Aktion zu seiner Befreiung gestartet wurde. Die Gruppe trug zu diesem Zeitpunkt noch nicht den Namen Rote Armee Fraktion, beziehungsweise RAF. In der von Ulrike Meinhof verfassten Erklärung zur Baader-Befreiung findet sich allerdings die Parole: “Die Rote Armee aufbauen!”

Seit wann hieß die RAF denn dann RAF?

A. In der zweiten Schrift der Gruppe, dem im April 1971 veröffentlichten “Konzept Stadtguerilla” heißt es dann zum Beispiel: “Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis.” In dieser in der linken Szene klandestin verbreiteten Schrift taucht auch erstmals das RAF-Logo auf, der fünfzackige Stern mit der Heckler-&-Koch-Maschinenpistole davor.

Haben schon bei den Anfängen der RAF Geheimdienste eine wichtige Rolle gespielt? Stichwort: Unterwanderung.

Michael Sontheimer: Schon vor der Gründung der RAF tauchte in der Kommune 1 ein Mann namens Peter Urbach auf, der bei der Reichsbahn arbeitete, in Wahrheit aber Mitarbeiter des West-Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz war. Urbach brachte Brandbomben in die Kommune 1, und er war es auch, der Horst Mahler und Andreas Baader vorschlug, auf einem Friedhof in Berlin-Neukölln nach dort versteckten Feuerwaffen aus dem Zweiten Weltkrieg zu graben. Auf der Fahrt von erfolglosen Grabungen auf diesem Friedhof wurde Andreas Baader verhaftet. Der Verfassungsschutz war also mit einem Agent provocateur an der Entstehung des Terrorismus in West-Berlin und der Bundesrepublik direkt beteiligt. Dies ist ein kaum beachteter politischer Skandal ersten Ranges. Was der Verfassungsschützer Urbach zur Entstehung der Terror-Szene in West-Berlin tatsächlich beitrug, wurde nie aufgeklärt. Es gibt Hinweise darauf, dass er, nach seiner Enttarnung mit einer falschen Identität ausgestattet, sich in den USA niederließ.

Sie betonen den großen Anteil und sogar die Dominanz von Frauen in der RAF. So haben beispielsweise vier Frauen und nur ein Mann Baader befreit. Oder Finanzchefin war Gudrun Ensslin, Chefideologin Ulrike Meinhof, und auch später waren meist Frauen z. B. auf den Fahndungsplakaten in der Mehrheit. Haben Sie für all das eine Erklärung?

Michael Sontheimer: Die dominanten RAF-Frauen verstanden sich nicht vorrangig als Frauen, die für die Rechte der Frauen kämpften, sondern als antiimperialistische Militante. Heute muss man eingestehen: Die RAF war in punkto Gleichberechtigung eben Avantgarde. In der Gruppe spielte die sexuelle Orientierung auch keine Rolle. Lesben waren beispielsweise absolut akzeptiert.

Die bis zum Schluss in den Erklärungen der Gruppe verwendete radikale Kleinschreibung war sie eher zufällig oder steckte dahinter eine Absicht?

Michael Sontheimer: Die systematische Kleinschreibung sollte den radikalen Bruch symbolisieren, den die RAF-Kader mit allem Bestehenden vollzogen hatten.

Andreas Baader wird ja meist gezeichnet als Macker, Macho, Frauenheld und als Autonarr, also als eher unpolitischer Typ. Bei Ihnen dagegen kommt er “besser weg”, er besitzt also durchaus planerische Qualitäten und ist nicht nur ein “Schwanz gesteuerter” Rebell. Woher haben Sie dieses Bild? Und mit wie vielen ehemaligen RAF-Mitgliedern konnte Sie über die Geschichte und Struktur der Gruppe sprechen?

Michael Sontheimer: Mit vier Mitgliedern der Gründergruppe der RAF konnte ich ausführliche Gespräche führen und sie auch zur Person und zur Rolle von Andreas Baader befragen. Außerdem habe ich mit drei Anwälten und einer Anwältin gesprochen, die ihn verteidigt haben. Das Baader-Bild des beschränkten Machos geht auf Stefan Aust zurück, der Ulrike Meinhof, mit der der zusammengearbeitet hatte, zu positiv und Baader dafür zu negativ beschreibt.

Die RAF genoss ja vor allem unter jüngeren Leuten eine Zeitlang durchaus deren Sympathie das zeigen Umfragen in den 70ern. Und es gab zahlreiche Sympathisanten auch und gerade in der eigentlich autoritätsfeindlichen Spontiszene der Hochschulen. Was war für diese Leute der Reiz des bewaffneten Kampfes, des Lebens im Untergrund usw.?

Michael Sontheimer: Abenteuer; Bonnie and Clyde; David gegen Goliath. Das spielte alles eine Rolle. Die RAF-Leute riskierten ihr Leben für die Revolution. Ihr bewaffneter Existenzialismus imponierte manchen. Allerdings gingen ja nur vernünftigerweise die allerwenigsten der klammheimlichen Sympathisanten selbst in den Untergrund.

Sie sprechen ja vom Krieg der RAF gegen den Bonner Staat? Wann war dieser Krieg endgültig verloren?

Michael Sontheimer: Der Krieg war gar nicht zu gewinnen, das ahnten schon die RAF-Gründer. In der im April 1971 veröffentlichten Schrift heißt es: “Das Konzept Stadtguerilla der Roten Armee Fraktion basiert nicht auf einer optimistischen Einschätzung der Situation in der Bundesrepublik und Westberlin.” Aber die RAF-Gründer ertrugen es nicht, angesichts des brutalen Krieges in Vietnam einfach nichts zu tun oder auf friedlichen Demonstrationen mitzumarschieren, die ihrer Meinung nach nichts brachten. Endgültig besiegt hat Helmut Schmidt die RAF im Herbst 1977, als er ihren Forderungen nicht nachgab, und die Befreiung der Geiseln in der “Landshut” glückte. Davon hat sich die RAF nie mehr erholt. Alles, was dann noch kam, waren Nachhutgefechte.

Und warum machten einige dann dennoch weiter?

Michael Sontheimer: Die ehemalige RAF-Frau Birgit Hogefeld hat diese sture Konsequenz einmal “typisch deutsch” genannt. Es klingt zynisch, aber man könnte diese immer weiter machen auch mit einer “Stalingrad-Mentalität” der RAF begründen. Man kämpft auch in aussichtsloser Situation für den Endsieg. Wenn man aufhören würde, müsste man ja eingestehen, dass man sich geirrt hat und würde dem Feind recht geben. Es ist interessant, dass sowohl Faschisten, als auch radikale Kommunisten glaubten, die realen Kräfteverhältnisse aushebeln zu können. Mit dem “revolutionären Bewusstsein”, das glaubten Mao Zedong und die Roten Khmer von Pol Pot, ließen sich Berge versetzen. Hitler und Goebbels glaubten an den “fanatischem Willen”, mit dem sich der Endsieg gegen die übermächtigen Alliierten erzwingen ließe.

Die RAF löste sich ja selbst 1998 auf. Wie viele Mitglieder der dritten Generation werden aktuell noch gesucht?

Michael Sontheimer: Das Bundeskriminalamt sucht aktuell noch drei einstige RAF-Mitglieder: Ernst-Volker Staub, Daniela Klette und Burkhard Garweg. Die letzten Spuren von Staub und Klette wurden nach der Auflösung der RAF bei einem Überfall auf einen Geldtransporter in Duisburg am 30. Juli 1999 gefunden, bei dem über eine Million Mark erbeutet wurden. Es sieht danach aus, dass die beiden ihre handwerklichen Kenntnisse noch einmal zur Sicherung ihrer Altersversorgung eingesetzt haben. Neben dem noch gesuchten Trio kann es allerdings auch bei der dritten Generation der RAF noch ein, zwei Mitglieder gegeben haben, die nie Spuren hinterlassen haben und nach denen überhaupt nicht gefahndet wurde. Das weiß niemand.

Source


Bombenterror gegen jüdische Gemeinde – nach 30 Jahren packt der Täter aus



Rundfunk
Berlin-Brandenburg / Kontraste – Sendung
Beitrag vom
10.11.2005

Bombenterror gegen jüdische Gemeinde nach 30
Jahren packt der Täter aus

Vor 36 Jahren legte ein Mitglied der linken radikalen Gruppierung
,,Tupamaros West-Berlin” eine Bombe in das jüdische Gemeindehaus in
Berlin. Sie sollte während der Gedenkfeier zur Pogromnacht am 9. November 1969
gezündet werden, doch der Sprengsatz explodierte nicht. Zum ersten Mal stellt
sich der Bombenleger von damals den
Fragen zu
seinen Motiven. Steffen Mayer und Susanne Opalka begeben
sich auf Spurensuche.

Gestern Abend gedachte wie in jedem Jahr die Jüdische
Gemeinde in Berlin der Pogrom-Nacht vom 9. November 1938. Der Nacht, als die Synagogen brannten, als SA und
SS und ihre
Helfer ihre mörderische Jagd auf Juden machten. Am 9.
November 1969 wurde in der Jüdischen Gemeinde in Berlin eine Bombe gelegt.
Nicht von Rechtsextremen. Steffen Mayer und Susanne
Opalka erinnern an ein beschämendes Kapitel
verdrängter linker
westdeutscher Geschichte.

9. November 1969. Das Haus der Jüdischen Gemeinde in
West-Berlin.
Kurz vor der Gedenkveranstaltung schmuggelt ein linksradikaler Terrorist eine Bombe ins Gebäude.

Das ist
der Bombenleger: Albert Fichter, heute 61 Jahre alt. Er spricht das erste Mal vor der Kamera.

Albert Fichter

,,Das
Wichtige mit dem Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus ist ja, dass damit ein
Tabu gebrochen worden ist. Dafür bin ich besonders in Verantwortung jetzt zu
nehmen. Deswegen will ich das jetzt auch öffentlich eingestehen, dass das einer
der größten Fehler meines Lebens war.”

Am 9. November 1969 sind im Jüdischen Gemeindehaus 250 Gäste
versammelt. Darunter: der Berliner Bürgermeister und der
Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Heinz
Galinski.

Der Zeitzünder hätte die Bombe genau während der Gedenkveranstaltung
gezündet. Doch sie explodiert nicht. Der
Sprengsatz im Gemeindehaus wird erst
am
nächsten Tag in einem Getränkeautomaten entdeckt. Die Polizei
entschärft ihn auf einem Sprengplatz. Die Zündkapsel
der Bombe war zu alt, deswegen konnte sie nicht explodieren. Der Zeitzünder
aber hatte ausgelöst. Ruth Galinski, die Witwe des Vorsitzenden der jüdischen
Gemeinde war damals auf der Gedenkveranstaltung. Sie wäre möglicherweise ein
Opfer des Anschlages geworden.

Ruth Galinski

,,Ich weiß nicht, was in den Köpfen dieser Menschen
vorgeht, das ist reiner Mord, an und für sich. Es ist Mord und da wollten sie
ein Symbol setzen, an diesem Tag sind sie
die Helden, die die Juden wieder
umgebracht haben, so stell ich es mir
vor.”

Ausgerechnet an einem Gedenktag für die ermordeten Juden
sollten Holocaust-Überlebende in die Luft gesprengt werden. Das hat in ihr die
schlimmsten Erinnerungen geweckt:

Ruth
Galinski

,,Das war
Entsetzen und Wut und Traurigkeit dabei auch.”



KONTRASTE

Worüber?”



Ruth Galinski

,,Wut, dass es das an dem Tag und
auch heute noch gibt.

Er wollte niemanden töten, sagt Albert Fichter. Er hätte
schon vorher genau gewusst, dass die Bombe nicht explodieren kann.

Albert Fichter

,,Mir war
das klar, dass nie jemand davon irgendwie körperlichen Schaden genommen hätte,
weil das Ding würde nie explodieren, das war mir klar, weil ich hatte die Bombe
früher schon mal auseinander genommen, in
einem ganz anderen Zusammenhang.”

Angeblich wollte er mit einer Bombenattrappe nur ein
Zionistentreffen
bedrohen.

Albert Fichter

,,Damals in meinem verrückten Bewusstsein,
das damals existiert hat, da glaubte ich wohl daran, dass das richtig gewesen
wäre. Es wäre ja nur ein
Psychoschock gewesen. Das Ding wäre ja nie hochgegangen.”

Davon wussten seine Mittäter aber nichts. Sie hatten fest
mit einer Explosion gerechnet. Sie wollten töten. Sie nannten sich Tupamaros
Westberlin. Albert Fichter war damals Mitglied dieser ersten
linksradikalen Untergrundgruppe. Der Boss der Gruppe:
Dieter
Kunzelmann. Er äußert sich bis heute nicht
dazu.

Wolfgang Kraushaar ist Historiker am Hamburger Institut
für Sozialforschung. In kriminalistischer Kleinarbeit hat er den Anschlag
von damals recherchiert.

Wolfgang Kraushaar, Historiker

,,Die Tupamaros Westberlin sind die erste klassische Untergrundgruppierung
der radikalen Linken gewesen, am Ende der 60er Jahre. Ein halbes Jahr vor
Gründung der RAF bereits ins Leben gerufen.
Man kann dies daran erkennen, dass sie aus geheim gehaltenen Wohnungen heraus
operiert haben, dass sie Decknamen
benutzt haben und dass viele ihrer
Mitglieder Waffen trugen.”

Schon in der Nacht vor dem versuchten Bombenanschlag auf
die
jüdische Gedenkveranstaltung hatten die
Tupamaros Gedenkstätten
beschmiert.

Am Abend des 9. November legen sie ein Bekennerschreiben
mit dem Titel ‚Schalom und Napalm’ aus. Darin bezeichnen sie die Opfer des
Holocaust als Faschisten:

Zitat:

,,Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst
Faschisten
geworden, die … das palästinensische Volk ausradieren
wollen.”

Die Tupamaros übernehmen die Verantwortung für die
Schändung der Gedenkstätten und den versuchten Bombenanschlag. Die Aktionen
seien

Zitat:

„… ein entscheidendes
Bindeglied internationaler sozialistischer Solidarität.”

Sozialisten bedrohen Juden mit Bomben? Wie konnte es dazu
kommen? Links sein hieß auch für die Palästinenser sein – und gegen
Israel

Wolfgang Kraushaar, Historiker

,,Es wird
immer wieder deutlich gemacht, dass man gegen Israel sei, weil Israel als Vorhut des großimperialistischen
Staates USA begriffen worden ist. Und man hat gleichzeitig sich keiner weiteren
Gedanken
und Reflexionen über die deutsche Vergangenheit bemüßigt
gesehen,”

Sogar das Existenzrecht Israels wurde in Frage gestellt.
Die Parole: Zionismus gleich Rassismus. Fakten interessierten nicht. Das
Weltbild
der radikalen Linken ist antisemitisch – so der Publizist Henryk
M. Broder.

Henryk M. Broder, Publizist

,,Das ist
erschreckend, weil: diese Haltung galt ja nicht nur gegenüber Israel. Gegenüber
Israel war sie am meisten pointiert, am meisten profiliert, am klarsten aus diesem braunen Holz geschnitzt. Aber die
gleiche Realitätsverweigerung gab
es auch
gegenüber der Sowjetunion
oder
gegenüber China oder gegenüber der eigenen Geschichte, also
Realitätsverweigerung war sozusagen der Boden auf dem
sich das alles
abspielte,

Gefangen in ihrer Ideologie erklärt sich eine kleine
Splittergruppe zur Avantgarde. Die meisten ihrer Mitglieder wurden durch die
Ereignisse
in Berlin radikal.

Schahbesuch. 2. Juni 1967, Außerparlamentarische Opposition
und
Studentenbewegung protestieren, Persische
Agenten verprügeln
Demonstranten. Am Abend erschießt ein Polizist
Benno Ohnesorg,
einen unbeteiligten Studenten. Viele Linke
fühlen sich fortan von der
Staatsmacht bedroht.

Albert Fichter

,,Benno Ohnesorg ist auch mehr oder minder hingerichtet
worden, in
Vertretung für die ganzen protestierenden Studenten ~ so hat man
das empfunden, dass man das nächste Mal
selber fällig ist,
so ungefähr. Das hat
zur Radikalisierung beigetragen,”

Die Stimmung ist geladen, immer mehr Demonstrationen
eskalieren. Der Protest wird zunehmend gewalttätig. Das Attentat auf Rudi
Dutschke, die Stimme der Studentenbewegung, ist für Fichter
ein traumatisches Erlebnis.

Kurz darauf wird Fichter Mitglied der Kommune 1 um Dieter
Kunzelmann, Rainer Langhans und Fritz Teufel. Happening und Aktion stehen im
Vordergrund. Doch der harte Kern wird schließlich immer
radikaler.

Eine kleine Gruppe um Kunzelmann fährt zur Kampfausbildung
nach
Jordanien. In ein Trainingslager der
palästinensischen Terrorgruppe Al Fatah. Fichter ist dabei. Ausbildung an
Waffen und Sprengstoff. Sie
treffen Jassir Arafat.

Zurück in Berlin geht die Gruppe sofort in den Untergrund.
Nennt sich jetzt Tupamaros Westberlin, versteckt sich in einer geheimen Wohnung
und plant Anschläge.

Albert Fichter

,,Man sieht die ganze Umwelt als Feind, sich selber als Opfer oder missverstanden,
die ganzen Perspektiven werden verschoben. Man ist
ja in der
Illegalität, das bedeutet ja, dass man irgendwie ein schlechtes Gewissen hat,
sich versteckt, nicht offen argumentiert wie früher, sondern man hat gesagt,
das bringt nichts, jetzt müssen wir Aktion machen.”

Die Waffen und Bomben für die Aktionen bekommen sie von
Peter
Urbach, einem Freund Kunzelmanns. Später stellt
sich heraus, Peter Urbach ist vom Verfassungsschutz. Er ist als Spitzel und
agent
provocateur in die Szene eingeschleust. Die
freut sich über seine Waffenlieferung, So kommen die Bomben in die geheime
Wohnung.

Albert Fichter

,,Als wir
dort waren, ist der Urbach dann später erschienen mit seinem Waffenarsenal,
aber er hatte das Wissen, wo wir waren, er hätte die Polizei warnen können, der Blödsinn wäre nie gelaufen.

Bis heute ist es nicht möglich, die Rolle des
Verfassungsschutzes bei dem Bombenanschlag zu klären. Die Akten sind noch über
20 Jahre
gesperrt. Die
Polizei hatte damals die Tatverdächtigen schnell ermittelt, wusste,
dass Fichter dabei
war. Der Leiter der zuständigen Sonderkommission war Wolfgang
Kotsch.

Wolfgang Kotsch, Kriminalhauptkommissar i. R,

,,Mit einem so genannten Schlussbericht haben wir
also der
Staatsanwaltschaft unsere Ermittlungsergebnisse, das heißt also
die Zeugenbefragungen und die Beweismittel von der Kriminaltechnik überwiesen.
Und nun war
es an der Staatsanwaltschaft, jetzt Anklage zu erheben.”

KONTRASTE

,Ist denn Anklage erhoben worden?”

Wolfgang Kotsch, Kriminalhauptkommissar i, R,

Soweit ich
weiß, nicht.”

KONTRASTE

vHaben Sie irgendeine Erklärung dafür?”

Wolfgang Kotsch, Kriminalhauptkommissar i. R.

vHabe ich
nicht.

Niemand wurde angeklagt für den versuchten Anschlag auf die
jüdische Gemeinde. Der damals zuständige
Staatsanwalt will sich dazu
auch heute nicht äußern.
Es bleibt ein böser Verdacht.

Wolfgang Kraushaar, Historiker

Es hätte
auf jeden Fall einen großen Ansehensverlust der Bundesrepublik bedeutet, dass von staatlicher Seite die Mittel beigesteuert worden sind, um diesen Anschlag auf
das Jüdische
Gemeindehaus zu verüben.

Für Albert Fichter war der Staatsanwalt weniger gefährlich
als der Kopf
der Gruppe: Dieter Kunzelmann. Denn nach dem
Scheitern des Anschlages kommt es in der Gruppe zum Eklat: Fichter wirft
Kunzelmann vor, ihn eingespannt zu haben für eine antisemitische
Aktion.

Albert Fichter

,,Als ich die Züge entdeckt habe beim
Kunzelmann, da bin ich natürlich
aufgestanden und habe gesagt: Du bist ein Judenhasser, du
bist ein
Antisemit, du hast mich da an der Nase
herumgezogen‘ und da hat er reagiert und hat
dann aus dem Hosenbund die Pistole gezogen und mir an die Schläfe gesetzt”

Albert Fichter flieht ins Ausland. Für ihn ist der
bewaffnete Kampf beendet.

Die Linke und der Antisemitismus. Bis heute haben sich die sonst so wortgewaltigen 68er eher wortkarg zu diesem Kapitel ihrer eigenen Geschichte geäußert.

Beitrag von Steffen Mayer und Susanne Opalka

 

Verfassungsschutzchef Eduard Vermander tritt wegen zahlreicher Pannen ab



taz Berlin lokal Nr. 6172 vom 21.6.2000 Seite 19
Traditionsbewusster Chef verlaesst den Horchposten
Verfassungsschutzchef Eduard Vermander tritt wegen zahlreicher Pannen
zum 1. Juli ab. Skandale haben auf seinem Posten Tradition – seit
1952

Gestern hatte Eduard Vermander seinen letzten oeffentlichen Auftritt als Chef
des Landesamtes fuer Verfassungsschutz (LfV). Zum Monatsende wird er – zwei
Jahre vor der Zeit – seinen Sessel “auf eigenen Wunsch” raeumen und in den
Ruhestand gehen. Diese Formulierung wird immer dann gewaehlt, wenn einem
schmachvollen Hinauswurf entgangen werden soll. Und der hatte Vermander
gedroht. Eine peinliche Prozessschlappe gegen die Partei der Republikaner
und falsche Scientology-Vorwuerfe gegen den Polizeidirektor Otto Dreksler
hatten seinen Ruf ruiniert.

Seinen Amtsvorgaengern ist es nicht viel anders gegangen. Von den zehn
LfV-Leitern haben bislang nur zwei Interimskandidaten den Posten ohne
Blessuren gemeistert. Die Serie der Fehlbesetzungen begann 1952. Nach nur
wenigen Monaten wurde Werner Otto, der erste Amtsleiter, wieder abgeloest:
“auf eigenen Wunsch”. Dahinter steckten politische Intrigen und ein “wild
wogendes Privatleben” auf Kosten der Steuerzahler. Viel laenger hielt sich
auch Gotthard Friedrich (1952 – 53) nicht. Ausgerechnet die Berliner
Abgeordneten hatte er unter die Lupe nehmen lassen. Er wurde “beurlaubt”.

Erst mit Heinz Wiechmann (1953 – 65), dem dritten Chef der Schlapphuete,
endeten die fliegenden Wechsel. Skandale, wie etwa die Ausspaehung der
Berliner Arbeitslosenvereinigung, hatte es auch bei ihm gegeben. Bis zur
“Affaere Pension Clausewitz” meisterte Wiechmann diese aber besser als seine
Vorgaenger. Die Pension Clausewitz, ein bei Unterweltlern, sowjetischen
Agenten und deutschen Politikern gleichermassen beliebtes Bordell, befoerderte
dann auch ihn 1965 aus dem Amt. Dem Verfassungsschutz war damals eine
Auflistung des illustren Kundenkreises in die Haende gefallen. Auf Anweisung
der alliierten Sicherheitsoffiziere wurde deren Existenz dem Innensenator
jedoch verschwiegen. Als Wiechmann selbst auf Nachfrage noch leugnete, war
er beim dritten Nein gefeuert.

Die Aufgabe von Heinz Fahs (1965 – 66), seinem Nachfolger, bestand darin,
den Sessel fuer Eberhard Zachmann warm zu halten. Zachmann (1966 – 74)
residierte knapp zehn Jahre. Mit ihm begann die grosse Zeit professioneller
Vertuschung, die sein Nachfolger Franz Natusch (1975 – 86) perfektionierte.
Dass der CDU-Abgeordnete und spaetere Innensenator Heinrich Lummer 1971 einer
rechtsradikalen Gruppe unter den Augen der Verfassungsschuetzer Geld
zugesteckt hatte, die eigene Verstrickung des Amtes in den Mordfall
Schmuecker 1974 oder Lummers Techtelmechtel mit der Stasi in den Jahren 1970
bis 1984, alles verschwand im LfV-Tresor. Erst Jahre nach ihrer
Pensionierung holten die Skandale das Gespann Zachmann/Natusch 1990 doch
noch ein.

Nach Natuschs Abgang 1986 glich der Chefsessel wieder einem Karussell.
Dieter Wagner (1986 – 89), wie Vermander ein Geheimdienstimport aus
Baden-Wuerttemberg, hielt sich dort nur zweieinhalb Jahre. Er hatte versucht,
den SPD-Abgeordneten Erich Paetzold ausforschen zu lassen. Als dieser 1989
Innensenator und damit sein oberster Dienstherr wurde, war Wagners Karriere
schlagartig zu Ende. Ihm folgte sein bisheriger Stellvertreter, der Berliner
Kripo-Mann Dieter Schenk. Der sollte das chronisch skandaltraechtige Amt
eigentlich “ausmisten” und fuer rechtsstaatliches Arbeiten sorgen. Doch nach
neun Wochen wurde ein Nachfolger benannt.

Nun uebernahm der Verwaltungsbeamte Heinz Annussek (1990 – 95) die Leitung des
Amtes. Der fand am Geheimdienstflair zwar rasch Gefallen, fuehrte die Behoerde
ansonsten aber so fantasielos und buerokratisch, wie er zuvor in der
Innenverwaltung Haushalts- und Personalfragen bearbeitet hatte. Genau dies
loeste 1993 den “Mykonos”-Skandal aus: Im Herbst 1992 waren vier kurdische
Exilpolitiker von iranischen Geheimdienstagenten ermordet worden. Der
Drahtzieher des Attentates war dem LfV seit langem bekannt, auf eine
Telefonueberwachung war jedoch verzichtet worden, da man keinen Dolmetscher
hatte. Trotz dieses Versagens durfte Annussek seinen Posten bis zur
Pensionierung behalten.

1995 folgte nun Eduard Vermander. Mit seinem Ausscheiden will Innensenator
Werthebach das Verfassungsschutzamt nun formell aufloesen und neu
strukturieren. Viel helfen wird dies Vermanders Nachfolger kaum.
OTTO DIEDERICHS

taz Berlin lokal Nr. 6172 vom 21.6.2000 Seite 19 Foto-Text
reisswolfaffaere
Verfahren eingestellt

Eduard Vermander (63) kann unbelastet in den Ruhestand gehen. Mangels
Tatverdacht hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen den
Geheimdienstchef eingestellt. Der Fraktionschef der Gruenen, Wolfgang
Wieland, hatte Vermander wegen des Verdachts der Aktenvernichtung angezeigt.

In der “Reisswolfaffaere” war in Vermanders Amt eine Aktennotiz zerrissen
worden. Die Notiz belegte mangelnde Sicherheitsvorsorge von Innensenator
Eckart Werthebach (CDU) vor erwartbaren Kurdenprotesten im Fruehjahr 1999.
Als Kurden nach der Verhaftung des PKK-Fuehrers Abdullah Oecalan auf das
Gelaende des weitgehend ungeschuetzten israelischen Generalkonsulats zogen,

erschossen israelische Wachleute vier Kurden.

Source

Aus der Geschichte des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz

01.01.1997 
Spitzen des Eisberges
Aus der Geschichte des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz

Von Klaus Lederer

Diese Betrachtung wurde für die Broschüre VS-VERTRAULICH!, 1997 herausgegeben von der PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, verfasst.

Als US-Vizepräsident Bush im Juni 1983 Krefeld besuchte, kam es im Zusammenhang mit dem Besuch zu schweren Ausschreitungen, die für Bundesinnenminister Zimmermann (CDU) Anlaß waren, erneut einmal in der Öffentlichkeit über die Uferlosigkeit des geltenden Demonstrationsrechtes nachzudenken. Ernsthafte Schwierigkeiten in derselben Öffentlichkeit bekam sein Parteigänger Innensenator Lummer, als der Verdacht aufkam, daß ein V-Mann des diesem unterstellten Landesamtes für Verfassungsschutz Berlin (LfV) einer der aktivsten Mißbraucher der Demonstrationsfreiheit gewesen sein könnte. Im September 1983 erließ die nordrhein-westfälische Justiz nämlich einen Haftbefehl wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und schweren Landfriedensbruchs gegen den Berliner LfV-Mitarbeiter Peter Troeber und eröffnete ein Ermittlungsverfahren. Ihm wurde vorgeworfen, einer der Rädelsführer der Ausschreitungen gewesen zu sein. Gleich nach seiner Festnahme erhielt Troeber Besuch aus Berlin. Ein hochrangiger LfV-Beamter unterhielt sich zwei Stunden lang ohne Zeugen mit seinem V-Mann. Die Innenverwaltung begründete dies mit einem „notwendigen Mindestmaß an Fürsorge” und gestand zu, daß Troeber, der als Verdeckter sich bereits vorher durch auffallende Militanz das Vertrauen der Szene zu erobern versucht hatte und dort als „Harter” einschlägig bekannt war, mit Berichtsauftrag in Krefeld geweilt hatte. Eine Tätigkeit als Agent provocateur könne jedoch nur auf eine Kompetenzüberschreitung zurückzuführen sein, weil, so Lummer, auch ein V-Mann „Fehler begehen” könne.

Die Gewerkschaft der Polizei Nordrhein-Westfalen meldete Zweifel an der Eigenmächtigkeit Troebers an und forderte politische Konsequenzen. Diese blieben natürlich aus. Statt dessen versuchte die politische Staatsanwaltschaft Berlin, das Ermittlungsverfahren aus dem SPD-geführten Nordrhein-Westfalen in die Hände der Westberliner Justiz zu überführen. Die Innenverwaltung zog sich völlig hinter eine Informationssperre zurück und unternahm keinerlei Anstrengungen, der Öffentlichkeit zu erklären, weshalb sich die Berliner Behörden für ihren fehlerhaften V-Mann so intensiv bemühten.

Das juristische Nachspiel ist kurz beschrieben. Sah es die erste Instanz noch als erwiesen an, daß Troeber die genannten Delikte verwirklicht hatte, wurde er in der zweiten Instanz freigesprochen.

Pleiten, Pech und Pannen?

Der längste Prozeß der bundesdeutschen Justizgeschichte zog sich über anderthalb Jahrzehnte hin und verschlang Verfahrenskosten in der Höhe einiger Millionen Mark. Sein Ende fand dieser Mordprozeß nach 591 Verhandlungstagen am 28. Januar 1991. Das Verfahren wurde eingestellt, weil keine Aufklärung mehr möglich war. Sieben Instanzen befaßte der Fall, dreimal waren bereits gefällte Urteile mit hohen Freiheitsstrafen wegen gravierender Verfahrensmängel vom Bundesgerichtshof wieder aufgehoben worden.

Die Vorgeschichte reicht lange zurück. Am 5. Juni 1974 wurde der zweiundzwanzig Jahre alte Student Ulrich Schmücker, ein Informant des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz, im Grunewald schwer verletzt aufgefunden und starb wenige Zeit später an den Folgen seiner Schußverletzung. Die „Bewegung 2. Juni” bekannte sich gegenüber dpa in einem Schreiben zu dem Mord, einer „Hinrichtung eines Konterrevolutionärs und Verräters”. Schmücker, der 1972 wegen der Vorbereitung eines Bombenanschlags auf die türkische Botschaft verhaftet worden war, bekam in Haft vielmaligen Besuch durch einen Mitarbeiter des LfV, den „V-Mann-Führer” Grünhagen alias Rühl. Gegen den Preis seiner Mitarbeit gelangte Schmücker auf freien Fuß und wurde erneut in der „Szene” aktiv. Obwohl er bereits als Verräter galt, bemühte er sich um seine Rehabilitierung und knüpfte neue Kontakte. Durch seine Auftraggeber wurde er auf die „Bewegung 2. Juni” angesetzt.

Sechs Tatverdächtige wurden kurze Zeit später festgenommen. Die These vom „Fememord” schien sich zu bestätigen und seine Aufklärung denkbar einfach. Es fand sich der (damals noch rechtlich unzulässige) Kronzeuge Jürgen Bodeux, der ein Geständnis ablegte und die anderen Mitangeklagten schwer belastete. Die Hauptverdächtige, Ilse Schwipper, damals Bongartz, wurde daraufhin zu lebenslanger Haft verurteilt. Die erfolgreiche Revision der Verteidiger führte zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung des Verfahrens. Aussagegenehmigungen für Mitarbeiter des Verfassungsschutzes waren vom verantwortlichen Innensenator nicht erteilt worden, Akten standen nur bruchstückhaft oder überhaupt nicht zur Verfügung. Begründung: Sicherheitsinteressen des Landes!

Das Ausmaß der Verstrickungen des Landesamtes ließ sich hingegen erst im dritten Anlauf erahnen:

Im Jahr 1986 wurde durch eine Veröffentlichung des „Spiegel” bekannt, daß die verschwundene Tatwaffe seit 1974 in den Asservatenräumen des Amtes lagerte. Gleich nach der Tat hatten am Verfahren unmittelbar beteiligte V-Leute die Waffe beiseite geschafft und dem LfV übergeben. Es stellte sich heraus, daß das Opfer bis kurz vor dem Mord und möglicherweise sogar während der Tat unter Observation stand, nachdem es vorher telefonisch übermittelt hatte, daß es sich bedroht fühle. Plötzlich ergab sich ein völlig neuer Verdacht: das LfV ließ möglicherweise einen Mann „hochgehen”, um andere zu decken.

Zwei weitere Jahre später, im Februar 1988, tauchten bei der Kölner Polizei Akten auf, die bis dahin als angeblich verschwunden galten. Aus ihnen ging hervor, daß die im Gerichtsprozeß 1979 der Verteidigung zur Verfügung gestellten Verfahrensakten manipuliert und um Spuren „reduziert” worden waren, die in Richtung Verfassungsschutz wiesen. Vermutlich war danach sogar der Kronzeuge Mann des LfV und sollte im Prozeß gedeckt werden. Anfang 1989 mußte der CDU-Innensenator Wilhelm A. Kewenig einräumen, daß der Schwipper-Verteidiger Heinisch bis 1989 unter Beobachtung des Landesamtes stand. Hierzu bediente sich das Amt auch eines V-Mannes in der Kanzlei des Anwalts. Darüber hinaus wurde das Telefon abgehört. Im Juli 1989 wurde die Verteidigung unter Hinweis auf belastende Enthüllungen über ihre Person von einem hochrangigen Mitarbeiter des VS bedroht. Erst nach dem Regierungswechsel im Berliner Senat 1989 legte der neue SPD-Innensenator Erich Pätzold die Tatwaffe auf den Tisch und erteilte die jahrelang verweigerten Aussagegenehmigungen. Dies half nicht, den Fall zur Klärung zu bringen, verschaffte aber der Öffentlichkeit einen Einblick in die Praxis der Berliner Sicherheitsbehörden: Strafvereitelung im Amt und Beweisunterschlagung auf höchster Ebene!

Auch in der Folgezeit war die Muße des Amtes gering, sich in die Karten schauen zu lassen. Verschiedene Untersuchungsausschüsse des Abgeordnetenhauses hatten versucht, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Noch im Juni 1990 „stürmten” die Mitglieder des sogenannten Schmücker-Untersuchungsausschusses das Landesamt, weil sie es leid waren, sich nach monatelangem Warten auf längst zugesagte Akten noch länger hinhalten zu lassen. Letzter Paukenschlag: der Einblick in geheime Akten enthüllte, daß auch die Richter im zweiten Durchgang des Verfahrens im Einvernehmen mit dem zuständigen Staatsanwalt Wolfgang Müllenbrock Beweismaterial unterdrückten. Im November 1990 sagte Kronzeuge Bodeux erneut vor Gericht aus und bezichtigte den mittelbar beteiligten V-Mann Volker Weingraber, vom Mordkomplott gegen Schmücker gewußt zu haben. Daß das LfV Weingraber rund eine Million DM (Schweigegeld?) für seine Dienste gezahlt hatte, die das Land Berlin vor einem Florenzer Zivilgericht teilweise zurückzuerlangen versuchte, nahm die Öffentlichkeit 1990 nur noch als Justizposse wahr.

Der in der politischen Staa
tsanwaltschaft für die Ermittlungen im Fall Schmücker zuständige Staatsanwalt Hans-Jürgen Przytarski konvertierte später zum Vizechef des LfV und blieb es bis Dezember 1987. Dann wurde er, nachdem seine Verwicklung in den Antes-Baukorruptionsskandal bekannt wurde, in das Landesverwaltungsamt versetzt. Unklar ist bis heute, wie weit seine Manipulation im Schmücker-Verfahren wirklich reichte. Gleiches gilt für Wolfgang Müllenbrock, der von der Staatsanwaltschaft in die Senatsinnenverwaltung wechselte. Dort blieb er bis 1988 als Staatssekretär unter Lummer und Kewenig unter anderem für den Verfassungsschutz zuständig.

Verschleierung „von Amts wegen”, Unterschlagung von Beweismaterial, Abbruch einer Observation, die den Mord womöglich verhindert hätte, Steuerung und Manipulation von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, Beobachtung der Verteidigung und Einflußnahme auf die richterliche Unabhängigkeit – Tätigkeit des LfV, gedeckt von mehreren Innensenatoren und Staatssekretären mit der Begründung, das „Wohl des Landes” sei bei einer Offenlegung in Gefahr! Der Hintergrund dieser Skandalchronik bestand, vordergründig betrachtet, in der zwangsläufigen Erklärungsnot des Umfanges und des Zwecks der Verwicklung des Amtes in den Mord für den Fall einer Offenlegung der Fakten.

Geschichten aus dem Landesamt

Ab 1954 war es üblich, Stellenbewerber im „sicherheitssensiblen Bereich” durch den Verfassungsschutz checken zu lassen. Mit dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik im Mai 1955 galten auch in dieser die Sicherheitsgrundsätze der NATO, so daß innerhalb der Verfassungsschutzbehörden Geheimschutzreferate gegründet wurden. Diese Spionageabwehr- und Geheimschutzabteilungen begannen mit der Überprüfung in allen als sensibel verstandenen Bereichen, was zu einer Kontrolle selbst der Funkamateure führte. Daß die Anzahl dieser Bereiche vergleichsweise gering gewesen sei, kann wohl angesichts der Tatsachen in Zweifel gezogen werden, die durch Presseveröffentlichungen an das Tageslicht gerieten:

Erst Anfang 1989 wurden Informationen öffentlich, daß durch den Verfassungsschutz bis in die siebziger Jahre hinein Mitglieder der FDP im Auftrage der Partei überprüft worden sind und die Ergebnisse an die Partei weitergegeben worden sind. Sprecher von CDU und SPD wollten eine ähnliche Praxis zumindest nicht ausschließen, wenn sich auch der Umfang möglicher Kontrolle nicht mehr feststellen ließ. Schon seit 1980 ist bekannt, daß es gang und gäbe war, die von den Bezirksverordnetenversammlungen gewählten Vorschläge für die ehrenamtlichen Laienrichter am Verwaltungsgericht vor ihrer Berufung in das Schöffenamt sicherheitshalber zu durchleuchten.

Das Berliner Verwaltungsgericht hatte 1982 über ein Auskunftsersuchen zweier seinerzeit einundzwanzig- bzw. zwanzigjähriger „Verfassungsfeinde” beim Landesamt zu entscheiden, denen 1977 eine Einstellung als Lehrling bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) versagt worden war, nachdem das LfV von sich aus über deren vermeintliche politische Überzeugung informiert hatte. Drei Jahre darauf wurde einem Ausbilder der Ziegner-Stiftung der Zugang zu einer Berliner Haftanstalt durch die Justizbehörden verweigert, weil er sich lange zurückliegend angeblich fragwürdig politisch betätigt haben soll. Die diese Behauptung vermeintlich stützenden Angaben stammten vom LfV und waren durch dieses, so räumte der Justizsprecher ein, unberechtigt weitergegeben worden. Bis 1987 stritt der Berliner Politikprofessor Wolf-Dieter Narr vor Verwaltungsgerichten, nachdem seine Bewerbung um eine Professur an der Universität Hannover 1974 aus politischen Gründen abgelehnt worden war. Die Informationen stammten aus Berlin, Landesamt für Verfassungsschutz. Im gleichen Jahr wurde auf AL-Anfrage im Berliner Abgeordnetenhaus bekannt, daß beim Berliner Landesamt „schwarze Listen” über Personen geführt werden, die an „sicherheitsempfindlichen Stellen” in „schutzbedürftigen Unternehmen” der Privatwirtschaft tätig waren. Von 1955 an bediente sich in der Bundesrepublik auch die private Wirtschaft der Verfassungsschutzbehörden für Allround-Überprüfungen.

Im Juni 1982 gab der Senat auf eine Anfrage der Fraktion Alternative Liste (AL) bekannt, daß das Landesamt eine vertrauliche Studie aus der Überwachung entstandener Alternativkultur und Hausbesetzerszene angefertigt hatte. Darin wurde der von „gescheiterten Anarchisten, Studies, Jobbern, Punks und Anarchospontielementen” getragenen militanten Hausbesetzerszene der Kampf mit einem „Terrorismus des Alltags” bescheinigt, der in seiner Gefährlichkeit hinter dem der RAF nicht zurückbleiben werde. Dieser Guerilla diffusa, die als Basis neuen Terrorismus gelten könne, müsse der Nährboden entzogen werden, hieß es in dem von der Innenverwaltung bestätigten Bericht. Mit welchen Mitteln das geschehen könnte, verhieß das Landesamt im darauffolgenden Jahr: die Berliner Tageszeitung veröffentlichte den Bericht eines zwanzigjährigen Studenten, der vom LfV auf ziemlich plumpe Weise als V-Mann geködert werden sollte.

Sammelleidenschaften

Zeitgleich mit dem Inkrafttreten des „Extremistenbeschlusses” 1972, mit dem sich die Herrschenden vor dem angedrohten „Marsch durch die Institutionen” der spätsechziger Studentenschaft zu schützen versuchte, wurde die Regelanfrage bei den Verfassungsschutzämtern zu Bewerbern für den öffentlichen Dienst installiert. Von 1973 bis Juni 1975 wurden auf Basis des „Radikalenerlasses” bundesweit knapp 425.000 Fälle bearbeitet. In Berlin gab es insgesamt 24.000 Überprüfungen, wobei in 1.800 Fällen Erkenntnisse vorlagen. Dies führte zu letztlich 93 Ablehnungen aus offiziell politischen Gründen. Gekennzeichnet war dieses Verfahren mit einer über die Terrorismushysterie geschaffenen vergleichsweise breiten öffentlichen Akzeptanz, eine Einsicht in die vermeintliche Notwendigkeit dieser „Maßnahmen”, sowie eine rechtliche Handhabe und verfassungsgerichtliche Bestätigung der Überprüfung. Ein Vergleich zwischen den Zahlen an durchgeführten Überprüfungen und dem „Output”, welcher sicherlich auch noch einmal politisch in Frage zu stellen sein dürfte, läßt erahnen, welche Menge an Daten und Informationen dieses gesellschaftlich und rechtlich gebilligte Werkzeug den Verfassungsschutzämtern einbrachte. Dabei fiel notwendig „Informationsbeiwerk” ab.

Genau hier begann eine Welle der Schnüffelei, die im Ergebnis in einer flächendeckenden Sammlung von Informationen aller und jeder Art mündete, welche für das Aufstöbern von „sicherheitsrelevaten” Gruppen und Privatpersonen von Bedeutung sein konnten. Die durch Pressetätigkeit öffentlich gewordenen Fälle, die oben beispielhaft aufgezählt worden sind, ließen nur ansatzweise erahnen, was die Archive der Sicherheitsbehörde beinhalteten. Selbst als Anfang der achtziger Jahre die Gefahr der Unterwanderung des Staatsapparates durch „Linksextremisten” gebannt schien, gab es kein Ende der behördlichen Sammelleidenschaften. Im Land Berlin vollzog sich die ungehemmte Ausforschung in zweifacher Hinsicht ohne jede Form der Kontrolle:

Zum einen unterlag Westberlin dem alliierten Vorbehaltsrecht. So erstreckte sich bis 1990 das Anordnungsgebot für Maßnahmen der Fernmeldekontrolle nicht auf das Land Berlin, im übrigen war die Nachprüfbarkeit von Maßnahmen der Landesverfassungsschutzbehörden im Land Berlin nahezu vollständig suspendiert. Die Tätigkeit des LfV unterlag rechtlich damit nahezu allein westalliierter Kontrolle. Die Folge war, daß über das mit dem Bundesamt und anderen Landesämtern vernetzte LfV Daten über den Umweg alliierter Geheimdienste ohne jede Überprüfung an „befreundete Dienste” weitergegeben werden konnten. So sah sich eine Redakteurin der alternativen Berliner Tageszeitung 1985 in Jerusalem mit konkreten Informationen aus dem Munde eines israelischen Gesprächspartners konfrontiert, die von den Sicherheitsbehörden Westberlins stammen mußten. Bis heute besteht ein Auskunftsverbot gegenüber allen Stellen und allen Bürgern i
n Hinblick auf Kontakte zwischen alliierten Dienststellen (also auch Nachrichtendiensten) und dem Berliner Verfassungsschutz. Über Mutmaßungen kommt man hier nicht hinaus.

Zweitens existierte im Berliner Landesparlament keine Instanz, die die (zumindest formelle) legislative Kontrolle über den Verfassungsschutz ausübte. Zwar wurde diese bis 1981 durch den Ausschuß für Sicherheit und Ordnung des Abgeordnetenhauses ausgeübt. Als jedoch in diesem Jahr die AL in das Parlament einzog und den erklärten Verfassungsschutzgegner und Kommune-1-Veteran Dieter Kunzelmann für den Ausschuß nominierte, schaffte die CDU-FDP-Koalition den Ausschuß mit dieser Aufgabenstruktur kurzerhand ab.

Unter der Ägide der Amtshilfe und in der Deckung alliierten Rechtes nutzte das Berliner Landesamt seine Möglichkeiten, weitgehend unkontrolliert mitzuspitzeln, weitreichend aus. Die westlichen Alliierten begegneten dem Staatssicherheitsbedürfnis des Berliner Senats, wie sich zeigen sollte, äußerst verständnisvoll. In Berlin war, bedingt durch die Entwicklung erheblichen alternativen Potentials, sei es in der Anti-AKW-Bewegung, Friedensbewegung oder der HausbesetzerInnenszene, einerseits und durch die „Frontstadtlage” Westberlins im kalten Krieg andererseits, das Hauptaugenmerk verfassungsschützerischer Tätigkeit auf die Linke weitgehend vorgegeben.

Kontrollierte Kontrolleure

Doch zunächst weiter im „Fall Schmücker”. Während der „Spiegel” am 29. September 1986 dem Berliner CDU-Innensenator Wilhelm Kewenig Strafvereitelung und Meineid von leitenden Verfassungsschützern vorgeworfen und das Bundesverwaltungsgericht eine Woche zuvor in einem Urteil explizit rechtswidriges Verhalten des Innensenators durch Herausgabe- und Aussagegenehmigungsverweigerung konstatiert hatte, enthielt dieser sich jeder Stellungnahme. Konsequenz war die parlamentarische Forderung der AL, die Praktiken des LfV nun genauer unter die Lupe zu nehmen. Zufällig fiel in diese Zeit auch das Ausscheiden des LfV-Chefs Franz Natusch (SPD), als dessen Nachfolger der CDU-nahe baden-württembergische LfV-Chef Wagner berufen wurde. Damit war die SPD nicht mehr in der bis dahin nach Parteienproporz verteilten LfV-Spitze vertreten. Damit hatte die SPD keinen Grund zur Zurückhaltung mehr.

Dem so entstandenen Druck galt es entgegenzuwirken, weshalb der CDU-FDP-Senat sich noch im Oktober entschloß, der offenen Forderung nach Einrichtung einer Parlamentarischen Kontrollkommission nachzukommen. Selbstverständlich sollte die PKK ohne Beteiligung des „Sicherheitsrisikos” AL konstituiert werden. Dies wiederum stieß auf den Widerstand der SPD.

Bis zum Dezember des Jahres lehnte Kewenig selbst im Innenausschuß des Abgeordnetenhauses weiterhin jede Stellungnahme kategorisch ab. Dies brachte die AL-Fraktion dazu, die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zu fordern, der sich mit den Vorwürfen gegen das Landesamt im „Fall Schmücker” befassen sollte. Die SPD schloß sich dem für den Fall verbal an, daß die Koalition auf dem Ausschluß der AL aus der PKK beharre. Konservatives Medienecho: „Übrigens soll der beabsichtigte Parlamentsausschuß Vorgänge bei der Bekämpfung des Terrorismus untersuchen, die in die Regierungszeit der SPD fallen. Weit wichtiger aber ist, daß seit der Gründung der AL Extremisten unter den Mitgliedern der Partei in Berlin die westlichen Alliierten ihres Charakters als Schutzmächte entkleiden wollen. Diese Strategie zielt zugleich auf die Zerschlagung des Verfassungsschutzes, am Ende steht die Verbrüderung mit den Sozialisten der Ostberliner Einheitspartei” und es wäre natürlich verhängnisvoll, wenn die „demokratischen Parteien” dieser furchtbaren Entwicklung tatenlos zusehen würden. Die Einrichtung der PKK erfolgte in diesem Sinne unter Ausschluß der AL. Durch die SPD-Fraktion wurden die Abgeordneten Hans-Georg Lorenz und Erich Pätzold in die Kommission entsandt.

Am 22. Oktober 1987 überraschte das PKK-Mitglied Pätzold im Schöneberger Rathaus die Presse mit der Erklärung, daß „angebliche Mitglieder des Verfassungsschutzes in den letzten Tagen die SPD telefonisch auf unglaubliche Überwachungsmaßnahmen angesprochen haben”. Zielobjekte dieser Überwachung seien die SPD-Spitzenpolitiker Momper, Meisner und Kremendahl. Dieser Verdacht wurde seitens der Senatsinnenverwaltung als ungeheuerlich verworfen und strikt zurückgewiesen. Tags darauf bestätigte auch die AL, in jüngster Zeit mit solchen Anrufen konfrontiert worden zu sein, allerdings über keine Indizien für die Richtigkeit solcher Behauptungen zu verfügen.

Einen guten Monat später berichtete die Presse von flächendeckender, systematischer Überwachung der AL bis in die Bezirksgruppen unter Angabe einer Ordnungsnummer und der Information, „in der Berliner VS-Zentrale am Fehrbelliner Platz … (seien) allein vier sogenannte ´Auswerter´ damit beschäftigt, die Ergebnisse der AL-Ausspähungen zu sichten, auszuwerten und für den Innensenator aufzubereiten”. Die AL forderte sofortigen Einblick in die Unterlagen und die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes und die Bestätigung der Vorwürfe bzw. die Möglichkeit der Überprüfung, daß diese abwegig seien. In der Sitzung des Innenausschusses am gleichen Tag bestritt der Innenstaatssekretär Müllenbrock die Generalüberwachung. Er gestand aber zu, daß es möglich sei, daß einzelne Mitglieder der AL zeitweilig beobachtet worden seien, wenn es um den Verdacht verfassungsfeindlicher Betätigung ging. Ex-Innensenator Heinrich Lummer habe, so der Abgeordnete Pätzold darauf, bereits zu seiner Amtszeit eine Untersuchung über die Verfassungsfeindlichkeit der AL anstellen lassen, sei aber „klug genug” gewesen, den Bericht zurückzuhalten. Im übrigen, wiederholte Pätzold, gebe es Anzeichen, daß auch die SPD vom LfV sehr kritisch beobachtet werde. Damit griff Pätzold die Vorwürfe der AL indirekt auf, denn „wenn der damalige Innensenator Lummer (CDU) festgestellt hat, die Alternative Liste sei eine verfassungsfeindliche Organisation, dann ist der Verfassungsschutz schon von Gesetz wegen her verpflichtet, die Alternativen zu überwachen”.

Das öffentliche Echo war enorm, sahen sich inzwischen doch all jene bestätigt, die eine solche flächendeckende Überwachung immer vermutet hatten. Dafür gab es nämlich auch weit vorher schon handfeste Anhaltspunkte. Der damalige Staatssekretär im Bundesinnenministerium Carl-Dieter Spranger (CDU) war 1985 in die Schlagzeilen gelangt, weil er sich durch das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Material über die oppositionellen Grünen im Bundestag hatte spicken lassen. „Mitglieder von K-Gruppen halten die Grünen und grün-alternativen Listen nach wie vor für geeignete Vehikel, um revolutionären Zielen nahezukommen” schrieb der Verfassungsschutzbericht 1986.

Eine entsprechende Reaktion der CDU blieb auch in diesem Falle nicht aus. Bereits in der Innenausschußsitzung am 2. Dezember 1987 konfrontierte der Abgeordnete Wienhold (CDU) die AL mit der „kommunistischen Vergangenheit” ihres Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Wieland und beklagte, die AL wolle Täter zu Opfern machen. Keine Partei sei vor Unterwanderung sicher – AL-Mitglieder schrien ständig nach dem „gläsernen Abgeordneten”, wollten aber nichts mehr davon wissen, wenn es um sie selbst ginge. SPD-Landesvize Norbert Meisner äußerte noch am gleichen Abend den Verdacht der Überwachung seiner Partei, da 1985 Innensenator Lummer bereits Einzelheiten über eine Friedensreise nach Genf gewußt habe, bevor diese veröffentlicht worden seien.

In den folgenden Tagen ging die CDU in die Offensive, indem sie einerseits die Überwachung rechtfertigte, sie aber im Ganzen bestritt, und andererseits in den Bereichen, in denen sie erfolgte, der SPD in die Schuhe zu schieben versuchte. Immerhin habe diese, was zutrifft, bis 1981 den Innensenator gestellt. Kewenig erklärte urplötzlich, er halte nichts von Geheimniskrämerei im Innenausschuß und vertrete die öffentliche Erörterung des Themas: eine „Infiltrationsakte” im Zusammenhang
mit der AL wurde 1978 unter dem damaligen Innensenator Ulrich (SPD) angelegt. In ihr wurden „Bestrebungen” von „Linksextremisten” registriert, die AL zu unterwandern und zu durchdringen. Bei dieser Akte handele es sich um einen „Sachvorgang” und keine „Expertise”. Eine „erfreuliche Kontinuität” in der Beobachtung des Vorganges hätten vier Senatoren (davon zwei aus der SPD) gewährleistet. Im Innenausschuß bestätigte am 7. Dezember 1987 auch Landesamtschef Wagner die Überwachung einzelner AL-Mitglieder, schloß aber Telefonüberwachung aus. Bezüglich der SPD bestätigte Wagner, daß es beim LfV auch „5, 6, 7 Berichte” über „Anbiederungsversuche” aus der SEW an die SPD gebe.

„Dem Verfassungsschutz gehe es hauptsächlich darum, die Alternativen vor ´Unterwanderung durch Linksextremisten zu schützen´” zitierte die „taz” den Amtsleiter. Nicht nur die AL, sondern auch die SPD würde an „Schnittstellen” zu vermeintlichen Linksextremen mit nachrichtendienstlichen Mitteln ausgespäht und es widme sich der Verfassungsschutz auch Treffpunkten und Veranstaltungen der Autonomen sowie dem größten Berliner Alternativzentrum Mehringhof. Fakten, die Tage vorher noch vehement bestritten wurden…

„Halb Berlin wird überwacht”

Dennoch kratzten die Parlamentarier längst noch an der Oberfläche, denn „wir sind heute hier in der Beantwortung der Fragen sehr weit gegangen, aber es gibt Fragen, die werden nicht öffentlich beantwortet”. Am 16. Dezember forderte die AL erneut die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses über die Aktivitäten des LfV, diesmal bezogen auf die Überwachung von AL, SPD und SEW. Die SPD war wiederumg grundsätzlich bereit, wollte hingegen zunächst die Entwicklung abwarten. Kewenig bestritt abermals gebetsmühlenartig die Überwachung der SPD und wollte diese Bewertung in einem Schreiben an den Berliner SPD-Vorsitzenden Walter Momper sorgfältig differenziert wissen. Wenn fälschlicherweise von einer Beobachtung der SPD die Rede sei, dann handele es sich um einen „Komplex”, der die kommunistische SEW und eines ihrer wichtigsten Tätigkeitsfelder, die sogenannte Aktionseinheits-Politik, betreffe. „Daß hierzu auch Infiltrations- und Anbiederungsversuche gegenüber der SPD und ihren Mitgliedern zählen, folgt aus dem gesetzlichen Auftrag des Landesamtes für Verfassungschutz und ist daher nicht zu vermeiden”. Wenige Tage später verkündete Kewenig seine Absicht, daß SPD-Mitglied Dieter Schenk zum Vizepräsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz zu machen – mit der leicht durchschaubaren Strategie, dem Engagement der SPD in Sachen Verfassungsschutz die Spitze zu nehmen.

Das Betreiben der AL, in der Folgezeit an genauere Hintergründe der Spitzelaffäre zu gelangen, lief zunächst ins Leere. Parlamentarische Anfragen nach Namen überwachter Mitglieder blieben unbeantwortet. Der Senat sehe auch keine Notwendigkeit, sich zu der Frage Wolfgang Wielands zu äußern, ob der Berliner Senat gleich Niedersachsen Journalisten für „gewöhnlich gute Gelegenheitsinformanten” der Verfassungsschutzbehörden halte. Schon am 26. Januar hielt Kewenig Angebote des LfV an Journalisten für „völlig legitim”, was erneut Proteste erregte und Anlaß für die Ausweitung von Mutmaßungen über die LfV-Arbeit hervorrief.

Als schließlich die Senatsinnenverwaltung Mitte Februar 1988 einen Verfassungsschutzbericht veröffentlichte, der sich mit „Infiltrationstätigkeit von Rechtsextremisten und von Linksextremisten in Berlin (West)” beschäftigte, warf die SPD dem Innensenator „Diffamierung der demokratischen Oppositionspartei” vor. Der Bericht, der 39 Seiten umfaßte, kam zu dem interessanten Ergebnis, daß „Infiltration” von links alltäglich sei, während es nur einen Fall der „Infiltration” durch rechtsextremistische Gruppierungen gebe. In den Jahren 1984 und 1985 sei es einer Gruppe von Neonazis gelungen, in Schlüsselpositionen des Landesverbandes der Grünen (!) zu gelangen. Im Abgeordnetenhaus erklärte Hans-Georg Lorenz (SPD) am 25. Februar, die ursprüngliche Originalversion des Berichtes sei um die rechtsextremen Aktivitäten verkürzt, also auf der oberen LfV-Ebene umgeschrieben worden. Der Streit um die Manipulation hielt bis Ende März an und endete mit einem de-facto-Eingeständnis der CDU.

Als das Stadtmagazin „Zitty” am 6. April 1988 mit „Reichlich Arbeit für einen Untersuchungsausschuß” titelte, hatte die Koalition Stück für Stück eingestehen müssen, was sie vorher energisch bestritt: Journalisten arbeiten für den Verfassungsschutz, V-Leute spitzeln in Anwaltskanzleien, Politiker von AL und SPD werden überwacht, das Telefongeheimnis steht nur noch auf dem Papier. „Alle diese Hinweise stammen aus einer Quelle, nämlich aus dem Verfassungsschutz selbst. Und bis jetzt waren sie immer zutreffend wie jene Indiskretion Ende November vergangenen Jahres, daß sowohl SPD als auch AL Objekte der geheimdienstlichen Begierde des Landesamtes seien”.

Zu diesem Zeitpunkt ahnten die Journalisten vielleicht schon, daß sie auch weiterhin recht behalten sollten. Aber zunächst sperrten Ende September 1988 CDU und FDP im Rechtsausschuß des Abgeordnetenhauses die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zu Fehlentwicklungen (sic!) im LfV, da zunächst ein Gutachten über die Zulässigkeit eines solchen Ausschusses einzuholen sei. Daraufhin verließen AL und SPD den Saal.

Die PKK kam mittlerweile zu der offiziellen Feststellung, daß das LfV eine von ihr angeforderte Akte über einen Zeit-Journalisten vernichtet hatte. Als Pätzold Ende November davon erfuhr, daß ihm der „Verfassungsschutz … einen bei Krawallen in Erscheinung getretenen Mann geschickt habe, um ihn auszuhorchen”, verließen er und sein Kollege Lorenz auch noch die PKK. Der „Spiegel” zog daraufhin unter der Überschrift „Die Freiheit stirbt scheibchenweise” eine bemerkenswerte Konsequenz. „Erstmals in der westdeutschen Parteiengeschichte haben damit gewählte Volksverteter öffentlich eingestanden, daß sich die angeblich demokratische Kontrolle eines Nachrichtendienstes als Farce erweist, wenn die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) von der Regierungsmehrheit beherrscht wird und die Mitglieder zudem strengen Geheimhaltungsvorschriften unterliegen”.

Pätzold schätzte die Zahl der beim LfV registrierten Personen auf 100.000 bis 200.000 und kündigte an, die SPD werde gleich zu Beginn der kommenden Wahlperiode einen Untersuchungsausschuß beantragen, der die Arbeit des LfV unter die Lupe nehmen solle. In einem Brief erhob SPD-Landeschef Momper gegenüber dem Regierenden Bürgermeister Diepgen den Vorwurf, dem Verfassungsschutz lägen über „eine Reihe von Abgeordneten” Aufzeichnungen, Observationsergebnisse und Daten vor. Erkenntnisse über alle Mitglieder eines früheren geschäftsführenden Landesvorstandes der SPD, einen Innensenator eingeschlossen, seien gespeichert. Am Tag darauf berichtet die Tageszeitung – „Operation ´taz´ aufgeflogen” – von der jahrelangen Observation des Blattes „im ganzen” durch Telefonabhörung und V-Leute. Auch die Berliner Alternative Liste sei „in wichtigen Teilen, wenn nicht praktisch im ganzen” überwacht worden, meldet die Zeitung unter Bezugnahme auf Momper. „´Einige wenige Punkte´, so räumte Diepgen in einem gestern bekanntgewordenen Antwortbrief an Momper ein, bedürften der Aufklärung, um die er inzwischen Innensenator Kewenig gebeten habe”. Mit Strafanzeigen, Schadensersatz- und Auskunftsklagen reagierte die „taz” auf diese Enthüllungen. Ein Protest der Redakteure vor dem Innenausschuß wurde mit Polizeigewalt und Anzeigen wegen Hausfriedensbruchs beendet.

Big brother is watching you

Auch MitarbeiterInnen von SFB und „Tagesspiegel” seien überwacht worden, wird am nächsten Tag bekannt. Die SPD fordert daraufhin erneut einen Untersuchungsausschuß. Am 15. Dezember 1988 antwortete Innensenator Kewenig auf die „Anklageschrift” der SPD. In dieser Reaktion wies er erneut weite Teile der Vorwürfe zurück und bestritt insbesondere den Vorwurf
von Lauschangriffen.

Nachdem ein Antrag der AL, das LfV aufzulösen, abgelehnt worden war, setzte das Berliner Landesparlament ohne Gegenstimmen den geforderten Untersuchungsausschuß unter Vorsitz von Klaus Finkelnburg (CDU) ein. Von nun an ging es Schlag auf Schlag:

Der Chef des LfV gestand den V-Mann-Einsatz gegen das PKK-Mitglied Pätzold mit Abstrichen zu – die Kontrollierten kontrollieren die Kontrolleure. Hierbei habe er gegen eine Weisung Kewenigs vom 4. Oktober verstoßen, zu diesem V-Mann, der als „Steinewerfer” verurteilt worden und in der linken Szene eingesetzt war, „die Taue zu kappen”.

Durch V-Leute, die auf Zeitungsanzeigen reagiert haben, erfuhr die AL, daß seit Gründung der „taz” V-Leute in der Redaktion eingesetzt gewesen seien. Sämtliche für die „taz” tätigen Journalisten seien im Geheimdienstverbundsystem NADIS gespeichert worden. Berlins Datenschutzbeauftragter Kerkau sagte im Januar 1989 aus, daß die „taz” Observationsobjekt gewesen sei, sich jedoch keine Anhaltspunkte für eine „breite Beobachtung” von Journalisten ergeben haben. Es habe Überlegungen zu solchen operativen Maßnahmen gegeben, es seien aber nie V-Leute bei der „taz” eingesetzt worden, so Staatssekretär Müllenbrock vor dem Untersuchungsausschuß. Am 13. Januar 1989 traf die „Sachakte taz” beim Untersuchungsausschuß ein. Die „Tageszeitung” fand nach eigenen Recherchen in ihrer Geschichte einen V-Mann, der 1982 fünf Monate im Verwaltungsbereich der Zeitung eingesetzt war. Lügen könne man Müllenbrock allerdings nicht unterstellen, denn es habe sich um keinen ausgewachsenen, sondern um einen „V-Mann auf Probe” gehandelt. Am 18. Januar 1989 bot das Blatt in einer Anzeige Platz für „Erfahrungsberichte – selbstverständlich mit allen gewünschten Anonymisierungen” an …

Der SPD-Politker Arne Börnsen, im schleswig-holsteinischen Landtag Vorsitzender der PKK, bat Senator Kewenig um Zusendung seiner Akte, die er dem Schleswis-holsteinischen Landesamt zur Verfügung stellen werde, damit dies „stets über ein realistisches Lehrstück für demokratiefeindliche Umtriebe (verfüge)”. Jedoch „dürfte sich die Ausschuß-Arbeit demnächst zur unfreiwilligen Vergangenheitsbewältigung der SPD entwickeln”, schrieb die „Welt am Sonntag” unter Bezugnahme auf die sozialdemokratische Verantwortung für das LfV bis in die frühen achtziger Jahre. In einem Interview resümiert Hans-Georg Lorenz: „Die SPD nach 1945 war eine Partei, die sich vehement gegen kommunistische Bedrohung gewehrt hat. Deshalb drängten auch Hardliner unserer Partei in den Verfassungsschutz. Für solche Relikte aus der Zeit des Kalten Krieges kam der Regierungswechsel 1981 geradezu gelegen. Unter einem SPD-Senat hätten sie auf Dauer jedenfalls nicht so weiter machen können, als wäre die politische Entwicklung stehengeblieben. Unter CDU-Ägide aber konnten sie etwas fortsetzen, was mittlerweile wie eine paranoide Gesinnung anmutet”.

Die Bilanz von AL-Fraktionschef Wolfgang Wieland: „Alle Vorwürfe treffen zu, die schlimmsten Befürchtungen haben sich bestätigt”. Neun Jahre lang, bis zum Mai 1988, war die „taz” im Fadenkreuz des Verfassungsschutzes. Am gleichen Tag wurde öffentlich, daß mindestens zwei Polizeibeamte als V-Leute in der linken Szene eingesetzt waren, womit das Trennungsgebot zwischen Polizeibefugnissen und geheimdienstlicher Tätigkeit abgeschafft worden ist.

Die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses des Abgeordnetenhauses endete kurz vor der Wahl, also einen Monat später, mit einem bereits bekannten Phänomen. Die Mitgleider von AL und SPD nahmen an der letzten Sitzung nicht mehr teil, weil der Innensenator Kewenig einzelnen Mitarbeitern des LfV die Genehmigung zur Aussage verweigert hatte. Deshalb kam es auch nicht zu einem Abschlußbericht.

Die Koalitionen kommen und gehen …

… der Verfassungsschutz bleibt. Am 2. März 1989 trat das neugewählte Landesparlament erstmalig zusammen. Es bescherte der Stadt einen rot-grünen Senat und dem Verfassungsschutzamt einen neuen Boß.

Dieser, Innensenator Erich Pätzold, entließ mit Zustimmung der Alliierten als erstes den bisherigen LfV-Chef. Eine dreiköpfige Arbeitsgruppe sollte die „Fehlentwicklungen” im Amte umfassend aufklären und ein parlamentarischer Verfassungsschutzausschuß künftig über dessen Aktivitäten wachen. Pätzold blieben einige Überraschungen nicht erspart, als er sich Einblick in die Unterlagen verschaffte: Das Landesamt hatte Akten vorgehalten und die PKK belogen. Die Akte des Zeit-Journalisten Sontheimer war dieser als vernichtet verkauft worden, fand sich nun allerdings wieder an. Die Akte über den V-Mann-Angriff auf Pätzold selbst war nur unvollständig aufzufinden und „erkennbar sachlich unrichtig”. Auch der Landesdatenschutzbeauftragte Kerkau war mit falschen Informationen hinreichend versorgt worden. Ab Juni 1989 konnten alle bespitzelten Berliner ihre Akten vom LfV anfordern, sofern diese nicht „erkennbar sachlich unrichtig” geworden sind.

Im Juli 1989 erschien der Bericht der Arbeitsgruppe des Innensenators, in welchem die Frontstadtideologie, die fehlende konzeptionelle und methodische Ausrichtung in Bezug auf neue Entwicklungen des politischen Extremismus und die mangelnde zielgerechte Steuerung durch die politische Führung der Senatsinnenverwaltung als Hauptursachen für die „Fehlentwicklungen” des Landesamtes benannt wurden. Die Arbeitsgruppe kommt zu folgendem Schluß: „Die Problematik des Amtes liegt nicht so sehr in seinen Fehlentwicklungen, sondern vielmehr in seinem Unvermögen, sich überhaupt zu entwickeln”. Empfehlungen der Projektgruppe waren die Einrichtung eines parlamentarischen Ausschusses zur Kontrolle des LfV und eine intensivierte Öffentlichkeitsarbeit. Außerdem sollte die Personalpolitik parteipolitisch nicht zu einseitig ausgerichtet werden! Alles in allem fällte die Gruppe ein vernichtendes Urteil und bestätigte die öffentlichen Vorwürfe weitgehend. Die Bespitzelung der AL war seit ihrer Gründung erfolgt und sie war rechtswidrig. Während die Arbeitsgruppe davon ausging, daß 12 V-Leute auf die AL angesetzt waren, erfuhr Pätzold im März 1990, daß es sich um 65 V-Leute handelte. Insgesamt 50 Berichte waren über die AL angelegt worden. Um nicht aufzufliegen, ließen sich verbeamtete verdeckte Ermittler des LfV sogar verurteilen und gaben falsche Geständnisse ab, so bei den Maikrawallen 1988. Die Berliner Staatsanwaltschaft gab offenbar im Rahmen der Amtshilfe regelmäßig Akten von Ermittlungsverfahren an das LfV weiter. Insgesamt 226 Berliner Rechtsreferendare und Anwälte waren zu Unrecht Zielobjekte des Verfassungsschutzes, wie noch im November 1990 Pätzold bestätigte. Und schließlich erhielt im Jahre 1988 ein V-Mann eine Prämie von 300 DM für die Begehung einer Sachbeschädigung, § 303 StGB, weil er mit dem Bolzenschneider einen Fluchtweg freigehalten hatte.

„Es ist bezeichnend, daß im Amt nur eine einzige Sammlung der Vorschriften des Bundesamtes für Verfassungsschutz existierte, die ein leitender Mitarbeiter des Amtes unzulässigerweise vor Monaten mit nach Hause nahm und erst nach längeren Nachforschungen jetzt wiedergefunden hat”, konstatierte die Pätzold-Arbeitsgruppe. Ob der leitende Mitarbeiter sie dort wenigstens gelesen hat, bleibt leider im Dunklen.

Verfassungschutz ja – aber nicht so. Damit kann die Konsequenz der Chronik von Skandalen kurz umrissen werden. Das Bemühen des Innensenators, den „Saustall auszumisten”, war möglicherweise ernst gemeint, blieb aber notwendig oberflächlich. Zwei Jahre hatte er dazu Gelegenheit. Doch bereits zwei Tage nach der Wahlniederlage des rot-grünen Senats vom 2. Dezember 1990 erteilte der stellvertretende Leiter des LfV, Müller, hinter dem Rücken des Noch-Senators den Auftrag, ihm eine Aufstellung sämtlicher Disziplinarvorgänge und Verwaltungsermittlungen in Sachen LfV in der abgelaufenen Legislaturperiode vorzulegen. Falsche Signale seien das, so Pätzold, was schwer wiege, „weil man es im Amt trotz mehrfacher Abmahn
ungen nicht geschafft oder hier und da auch bewußt verzögert hat, seit längerem erteilten präzisen Aufträgen … für das Aufarbeiten früherer Versäumnisse nachzukommen”. Daß das Problem nicht im Amt liegt, sondern das Amt selbst das Problem ist, wurde zwar oft genug öffentlich festgestellt. Jedoch schien auch die rot-grüne Koalition noch ein Arbeitsfeld für Verfassungsschützer gesehen zu haben. So nützte auch Pätzolds „letzter Rüffel” nichts – der Verfassungsschutz schlägt zurück.

„Im Berliner Amt … haben sich jetzt die ´Traditionalisten´ wieder durchgesetzt. Lothar Jachmann zum Beispiel, der Abteilungsleiter für ´politischen Extremismus´, war als Hoffnungsträger des rot-grünen Senates für eine Reform an die Spree versetzt worden. Er hat im November bekanntgegeben, daß er wieder nach Bremen an seine frühere Stelle als stellvertretender ´Leiter´ zurückkehren will. Nicht einmal ein Jahr im Amt, stellte er resigniert fest, daß das Berliner Amt nicht zu reformieren ist”.

Erneuter Koalitionswechsel – neuer Innensenator wird der Juraprofessor Dieter Heckelmann (CDU). Gekennzeichnet war das öffentliche Bild des Landesamtes seitdem unter anderem durch die Meldungen zum Mykonos Anschlag im September 1992, als vier kurdische Exilpolitiker am Rande einer Tagung der Sozialistischen Internationale (SI) in einem Berliner Restaurant erschossen wurden. Hier mußte sich der Verfassungsschutz erneut „Fehlverhalten” vorwerfen lassen, weil er das Attentat möglicherweise hätte verhindern können. Vermeintliche „Fahndungspannen” genügten hier der FDP, allerdings mittlerweile in Opposition, die Auflösung des Amtes zu fordern. Wieder einmal wurde ein Untersuchungsausschuß gebildet.

Nichtsdestotrotz bekam das Landesamt 1992 einen neuen Aufgabenbereich zugeordnet. Es übernahm die Überwachnung des Telefonverkehrs, die bis zum Beitritt den westalliierten Behörden oblag. Auch stiegen die Ausgaben im gleichen Jahr gegenüber dem Vorjahr um 831.000 DM auf damit 21,7 Millionen DM.

Beobachtung der PDS?

Eine weitere Aufgabe des Landesamtes ist seit 1991 die Beobachtung der PDS. Im November 1992 erklärte der LfV-Chef Heinz Annußek, daß die PDS derzeit nur ein „Prüffall” sei. Lediglich anhand öffentlicher Quellen werde untersucht, ob sich die PDS verfassungskonform verhalte. Nachrichtendienstliche Mittel würden nicht eingesetzt. Man wolle der PDS anrechnen, daß sie sich im Umbruch befinde. Eventuell habe sie den Weg zu einer linkssozialistischen Partei einschlagen wollen. Heute jedoch gebe es Anhaltspunkte für „verfassungsfeindliche Bestrebungen”.

Es lief wie ein Ping-Pong-Spiel. Wenige Tage später schon verlangte der CDU-Abgeordnete Hapel die unverzügliche Beobachtung der PDS, um genauere Informationen über mögliche verfassungsfeindliche Bestrebungen zu erlangen. Der Verfassungsschutz solle seine Mitarbeiter in der PDS aktivieren (sic!) und extremistische Funktionäre unter die Lupe nehmen.

Am 28. April 1994 wiederholte der LfV-Chef im Verfassungsschutzausschuß seine Informationen zur PDS. Diese habe internationale Kontakte zu kommunistischen Organisationen. Innerhalb der Partei trage die sogenannte „kommunistische Plattform” wesentlich zur Meinungsbildung bei. Zu deren Zielen gehöre weiterhin die kommunistische Weltrevolution. Der Heckelmann-Sprecher Bonfert, der später über seine Kontakte zu Rechtsextremisten stolpern und damit beinahe einen Koalitionskrach herbeiführen sollte, erklärte Mitte Mai 1994, daß im Herbst über eine Observierung der PDS mit nachrichtendienstlichen Mitteln entschieden werden solle. Erst Ende des Jahres werde entschieden, ob die PDS auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu beobachten sei, erklärte Innensenator Heckelmann selbst im Juli, ohne allerdings neue Informationen zu liefern, weshalb weiter „nur” zu prüfen sei.

Diese gibt es aber einen guten Monat später von anderer Seite, nämlich vom Koalitionsfreund. Für eher wahrscheinlich hält es der innenpolitische Sprecher der SPD, Hans-Georg Lorenz, daß die PDS Kontakte zum linksextremistischen Spektrum unterhält. „Einige Genossen von der PDS würden auch garantiert vom Verfassungsschutz beobachtet, glaubt Lorenz, ´was nicht heißt, daß die ganze Partei beobachtet wird … Angesichts der bisherigen Entwicklung der PDS und des Zustroms von Linksextremisten aus den westlichen Bundesländern erscheint es zweifelhaft, ob sich die PDS an der freiheitlich demokratischen Grundordnung orientieren wird´, lautet die Begründung”. Also Unterwanderung? Na, was gemerkt?

Am 20. Januar 1995 berichtet die aktuelle Tagespresse von der Übergabe eines 340-Seiten-“PDS-Dossiers” durch das LfV an Diepgen. Die amtliche Heimlichtuerei um dieses Dossier schaffte das beabsichtigte Medieninteresse, allerdings seien „politische Schlüsse aus diesen Erkenntnissen … noch nicht gezogen” worden.

Na, macht ja nichts. Hauptsache, das Medieninteresse bleibt erhalten, denn was geheim ist, ist immer interessant. Jedoch, so die Presse, empfehle das Amt eine Teilüberwachung der PDS, weil es Verdacht auf linksextremistische Bestrebungen in der Partei gebe. Der „Rheinische Merkur”, der sogar vom Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel berichtet hatte, sah sich amtlichen Dementis ausgesetzt.

Erstaunlicherweise lag das Dossier termingerecht eine Woche vor dem Bundesparteitag der Partei vor, den Diepgen abwarten wolle, bevor er die Einstufung der PDS als (zumindest teilweise) verfassungswidrig feststellt. Der Ruch der politischen Einflußnahme, der Diepgen nun umgebe, liege nicht in seinem, sondern höchstens im Interesse Dritter, die ihn möglicherweise zu einem freiwilligen Rücktritt zwingen wollten, mutmaßte die „taz”. Warum sonst sei das Dokument vor Kenntnisnahme durch den Regierenden Bürgermeister an den konservativen „Merkur” weitergegeben worden? Die Inhalte des Dossiers müssen schon erstaunlich gewesen sein. Selbst das „Volkshandbuch des Abgeordnetenhauses” stehe im vertraulich gestempelten Quellenverzeichnis, beschwerte sich der Lichtenberger CDU-Parlamentarier Günter Toepfer, nachdem das Werk am 9. März dem Verfassungsschutzausschuß vorgelegt worden war.

Mit der Zeit hat auch Hans-Georg Lorenz gelernt. Gerade weil eine dezidierte Auseinandersetzung mit der PDS notwendig sei, müsse eine „intelligente öffentliche Interpretation” des PDS-Erscheinungsbildes erfolgen. „Geheimdienstliches Brimborium desavouiert nur die Demokratie”.

Anfang März verkündete Diepgen über den Verfassungsschutzausschuß hinweg seine Entscheidung, vier einzelne Gruppen innerhalb der PDS durch den Berliner Verfassungsschutz mit nachrichtendienstlichen Mitteln observieren zu lassen: die Kommunistische Plattform (KPF), den Bund Westdeutscher Kommunisten (BWK), die AG Junge GenossInnen (AGJG) und die AG Autonome Gruppen (AGAG). Hierbei informierte er auch, daß BWK und KPF als „Orthodoxe Kommunisten seit eh und je beobachtet werden”! Das war neu! Ziel sei es, mögliche Verbindungen zu „terroristischen Milieus” festzustellen. Im Mai verteidigte Diepgen seine Entscheidung vor dem Verfassungsschutzausschuß. Diese „Maßnahme” sei aus rechtlichen Gründen geboten, weil das Landesamt bei der SED-Nachfolgepartei „tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen” festgestellt habe. Es gebe eine „erhebliche personelle Identität” der PDS mit der Vorgängerpartei, eine erstaunliche Erkenntnis, wenn man bedenkt, daß es dazu des Sammelns von Zeitungsausschnitten bedurfte. Gewalt anderer Gruppen werde von der PDS „verständnisvoll” betrachtet. Das Landesamt für Verfassungsschutz gehe davon aus, daß die PDS Gewalt für das „sozialistische Ziel” dann einsetzt, „wenn sich alle eingesetzten Mittel als erfolglos erwiesen haben”. Hans-Georg Lorenz befand die Entscheidung für rechtlich korrekt, beklagte jedoch wieder einmal die „ärgerliche Argumentation”.

Im August 1985 erkannte das Landesamt nach Abschluß „langjähriger Prüfung”, daß nicht die PDS selbst, aber einzelne ihrer Grupp
ierungen verfassungsfeindlich seien. Anfang 1996 war die Benennung des Abgeordneten Freke Over für den Verfassungsschutzausschuß durch die PDS Grund genug für das LfV, seine eigenen Prüfungsergebnisse in Zweifel zu ziehen. Nicht zuletzt solle auf Betreiben der CDU durch Ausgrenzung „politisch unliebsamer Abgeordneter” der parlamentarische Verfassungsschutzausschuß zum „Anhängsel” des LfV gemacht werden, resümierten daraufhin Bündnis 90 / Die Grünen, denen dieses Spiel schon aus dem Jahre 1981 bekannt vorkam. Ohnehin rief die Entscheidung, die PDS teilüberwachen zu lassen, bereits Anfang 1995 bei einem Mitglied des Ausschusses, Renate Künast, Erinnerungen wach. „Auch damals hieß es, nicht die Berliner AL sei Observierungsobjekt, sondern ´linksextreme Infiltrationsversuche´ in die ungestüme Öko-Partei hinein. Immerhin kamen auf diese Weise 60 Aktenordner Material über die Partei zusammen, die heute – der historischen Forschung zugänglich – im Berliner Landesarchiv stehen. ´Was Sie vorhaben, klappt nicht´, warnte die Grünen-Politikerin den Regierenden Bürgermeister. ´Sie werden damit in Teufels Küche kommen´”. Es sei nicht möglich, einzelne Teile der PDS zu überwachen: „Was machen Sie, wenn jemand von der Kommunistischen Plattform mit Herrn Gysi diskutiert?”.

Tatsächlich war auch die AL bis zum Schluß nie offizielles Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. Die offizielle Begründung für die Überwachung bestand in der staatlicherseits empfundenen Notwendigkeit, „Schnittstellen” zum als extrem verstandenen Spektrum kontrollieren zu können. Hierbei wurden, zumindest offiziell, einzelne Mitglieder oder Gruppierungen observiert, die angeblich verfassungsfeindliche Bestrebungen „unter dem Deckmantel der Demokratie” verfolgten. Das daraus notwendig eine flächendeckende Beobachtung erwuchs, ist folgerichtig. Die suggerierte Trennung in „Parteipartikel”, die für sich genommen zu beobachten wären, ist in einer Parteistruktur überhaupt nicht möglich. Das weiß selbst das Landesamt und das wissen auch die politisch für das Amt Verantwortlichen. So wird die „Schnittstellenthese” zum Begründungsversuch für die Öffentlichkeit, obwohl eine de-facto-Gesamtüberwachung längst stattfindet. Insofern ist es auch ohne Belang, daß Innensenator Schönbohm drei weitere Strukturen innerhalb der PDS als „Verfassungsfeinde” entlarvt hat, die seit 1996 unter nachrichtendienstlicher Observation stehen, den Bezirksverband Kreuzberg der PDS, das Marxistische Forum sowie das Forum West.

Daraus folgt wiederum, daß es auf die „endgültige Entscheidung” zur Überwachung der PDS als formellem Akt überhaupt nicht ankommt. Entsprechendes ergibt sich auch aus dem Verhalten der Regierungskoalition und insbesondere der CDU. Die offizielle Entscheidung wurde immer und immer wieder vertagt mit dem postulierten Hintergrund, es müsse erst Klarheit gewonnen werden, ob die PDS als Gesamtpartei verfassungsfeindlich sei oder nicht. Substantiell neue Fakten wurden dabei freilich nicht geliefert, lediglich der Begründungszusammenhang wechselt. Aber genau darauf kommt es an. In der Öffentlichkeit kann so das Bild einer schemenhaften Bedrohung des Rechtsstaates durch die PDS aufrechterhalten werden. In losen Zeitabständen werden die Medien mit der Frage befaßt. Gierig werden die neuen Sachstände verarbeitet, denn der Geruch des Geheimen macht sie interessant. Selbst der Ausschuß für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses eignet sich als mediale Bühne. Für das Verständnis, die „Fakten” in der geschlossenen Sitzung im Geheimschutzraum verkünden zu müssen, bedankt sich der Innensenator und kann sich der journalistischen Aufmerksamkeit sicher sein.

Das Prinzip ist denkbar einfach: „Wir müssen überwachen, weil wir wissen, daß es konkrete Anhaltspunkte gibt. Daß es konkrete Anhaltspunkte gibt, können wir aber nicht beweisen, weil es geheim bleiben muß. Das muß man uns erst einmal glauben!”.

Einfacher läßt sich geheimdienstliche Tätigkeit nicht legitimieren. Die Geschichte des Berliner Amtes zeigt beispielhaft, wozu diese Legitimation genutzt wird.

Source

Wilhelm Stuckart – Der normale Beamte = SS


Der normale Beamte

Diesem Buch – viel zu teuer, in einem wissenschaftlichen Verlag erschienen – droht das übliche Schicksal: dass es in einer Handvoll Bibliotheken verstaubt. Und dabei hätte es alle Aufmerksamkeit verdient. Der Autor Hans-Christian Jasch, selber ein Beamter, hat sich Leben und Wirken eines typischen deutschen Beamten vorgenommen, eines Rechtsanwalts und Richters, der im Innenministerium des „Dritten Reiches“ rasch zum Staatssekretär aufstieg und es von 1943 an, als es von Heinrich Himmler übernommen wurde, faktisch führte. 
Dieser Wilhelm Stuckart, der an der Entstehung der „Nürnberger Gesetze“ beteiligt war und sie zusammen mit dem Oberregierungsrat Hans Globke kommentierte, dieser Stuckart, der früh in die NSDAP eingetreten war und in der SS den Rang eines Obergruppenführers erreichte, der an der Wannseekonferenz teilnahm und die Tötung angeblich minderwertigen Lebens so fanatisch unterstützte, dass er sogar sein eigenes Kind in die Mordmaschine gab, weil dieser Sohn den Standards des staatlichen Rassewahns nicht entsprach, dieser mustergültige Beamte konnte sich nach Kriegsende auf ein Entlastungskartell von Kollegen verlassen, die ihrerseits auf die Fortsetzung ihrer Laufbahn in der endlich demokratischen Bundesrepublik hoffen durften. Globke brachte es zum Staatssekretär Adenauers, für den er erfolgreich und beamtenfleißig die Geschäfte führte.
Sein ehemaliger Vorgesetzter Stuckart, den Jasch als „juristischen Täter“ be-greift, war ein gewöhnlicher Rassist und stritt nach 1945 eine Kenntnis vom Massenmord ab. Dafür wurde er als „Mitläufer“ eingestuft und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, die er mit Rücksicht auf seine angegriffene Gesundheit nicht antreten musste. Ehe er noch aktiver in der NS-Nachfolgepartei SRP werden konnte, starb Stuckart 1953 bei einem Unfall, allerdings nicht, ohne sich noch beamtenrechtliche Versorgungsbezüge erstritten zu haben.
Jasch lässt in seinem Buch größte Gerechtigkeit walten, er billigt Stuckart zu, dass ihn manchmal doch das Gewissen schlug; aber er kann nicht anders, als in Stuckart den typischen Beamten zu sehen, der karrierebewusst mitmachte und hinterher das Schlimmste verhindert haben wollte. 
WILLI WINKLER
HANS-CHRISTIAN JASCH: Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung. Oldenbourg, München 2012. 536 Seiten, 74,80 Euro.

SZ, Feb 2012

Source: http://sz-shop.sueddeutsche.de/mediathek/shop/Produktdetails/Buch+Staatssekretaer_Wilhelm_Stuckart_und_die_Judenpolitik+Hans-Christian_Jasch/7139272.do;jsessionid=769DAAAD63262992D3068812D941E0BC.rilke:9009?extraInformationShortModus=false&currentExtraInformationTab=%3E–

Verfassungsschutz Berlin: Die große Zeit der Vertuschung


taz Berlin lokal Nr. 6172 vom 21.6.2000 Seite 19
Traditionsbewusster Chef verlaesst den Horchposten
Verfassungsschutzchef Eduard Vermander tritt wegen zahlreicher Pannen
zum 1. Juli ab. Skandale haben auf seinem Posten Tradition – seit
1952

Gestern hatte Eduard Vermander seinen letzten oeffentlichen Auftritt als Chef
des Landesamtes fuer Verfassungsschutz (LfV). Zum Monatsende wird er – zwei
Jahre vor der Zeit – seinen Sessel “auf eigenen Wunsch” raeumen und in den
Ruhestand gehen. Diese Formulierung wird immer dann gewaehlt, wenn einem
schmachvollen Hinauswurf entgangen werden soll. Und der hatte Vermander
gedroht. Eine peinliche Prozessschlappe gegen die Partei der Republikaner
und falsche Scientology-Vorwuerfe gegen den Polizeidirektor Otto Dreksler
hatten seinen Ruf ruiniert.

Seinen Amtsvorgaengern ist es nicht viel anders gegangen. Von den zehn
LfV-Leitern haben bislang nur zwei Interimskandidaten den Posten ohne
Blessuren gemeistert. Die Serie der Fehlbesetzungen begann 1952. Nach nur
wenigen Monaten wurde Werner Otto, der erste Amtsleiter, wieder abgeloest:
“auf eigenen Wunsch”. Dahinter steckten politische Intrigen und ein “wild
wogendes Privatleben” auf Kosten der Steuerzahler. Viel laenger hielt sich
auch Gotthard Friedrich (1952 – 53) nicht. Ausgerechnet die Berliner
Abgeordneten hatte er unter die Lupe nehmen lassen. Er wurde “beurlaubt”.

Erst mit Heinz Wiechmann (1953 – 65), dem dritten Chef der Schlapphuete,
endeten die fliegenden Wechsel. Skandale, wie etwa die Ausspaehung der
Berliner Arbeitslosenvereinigung, hatte es auch bei ihm gegeben. Bis zur
“Affaere Pension Clausewitz” meisterte Wiechmann diese aber besser als seine
Vorgaenger. Die Pension Clausewitz, ein bei Unterweltlern, sowjetischen
Agenten und deutschen Politikern gleichermassen beliebtes Bordell, befoerderte
dann auch ihn 1965 aus dem Amt. Dem Verfassungsschutz war damals eine
Auflistung des illustren Kundenkreises in die Haende gefallen. Auf Anweisung
der alliierten Sicherheitsoffiziere wurde deren Existenz dem Innensenator
jedoch verschwiegen. Als Wiechmann selbst auf Nachfrage noch leugnete, war
er beim dritten Nein gefeuert.

Die Aufgabe von Heinz Fahs (1965 – 66), seinem Nachfolger, bestand darin,
den Sessel fuer Eberhard Zachmann warm zu halten. Zachmann (1966 – 74)
residierte knapp zehn Jahre. Mit ihm begann die grosse Zeit professioneller
Vertuschung, die sein Nachfolger Franz Natusch (1975 – 86) perfektionierte.
Dass der CDU-Abgeordnete und spaetere Innensenator Heinrich Lummer 1971 einer
rechtsradikalen Gruppe unter den Augen der Verfassungsschuetzer Geld
zugesteckt hatte, die eigene Verstrickung des Amtes in den Mordfall
Schmuecker 1974 oder Lummers Techtelmechtel mit der Stasi in den Jahren 1970
bis 1984, alles verschwand im LfV-Tresor. Erst Jahre nach ihrer
Pensionierung holten die Skandale das Gespann Zachmann/Natusch 1990 doch
noch ein.

Nach Natuschs Abgang 1986 glich der Chefsessel wieder einem Karussell.
Dieter Wagner (1986 – 89), wie Vermander ein Geheimdienstimport aus
Baden-Wuerttemberg, hielt sich dort nur zweieinhalb Jahre. Er hatte versucht,
den SPD-Abgeordneten Erich Paetzold ausforschen zu lassen. Als dieser 1989
Innensenator und damit sein oberster Dienstherr wurde, war Wagners Karriere
schlagartig zu Ende. Ihm folgte sein bisheriger Stellvertreter, der Berliner
Kripo-Mann Dieter Schenk. Der sollte das chronisch skandaltraechtige Amt
eigentlich “ausmisten” und fuer rechtsstaatliches Arbeiten sorgen. Doch nach
neun Wochen wurde ein Nachfolger benannt.

Nun uebernahm der Verwaltungsbeamte Heinz Annussek (1990 – 95) die Leitung des
Amtes. Der fand am Geheimdienstflair zwar rasch Gefallen, fuehrte die Behoerde
ansonsten aber so fantasielos und buerokratisch, wie er zuvor in der
Innenverwaltung Haushalts- und Personalfragen bearbeitet hatte. Genau dies
loeste 1993 den “Mykonos”-Skandal aus: Im Herbst 1992 waren vier kurdische
Exilpolitiker von iranischen Geheimdienstagenten ermordet worden. Der
Drahtzieher des Attentates war dem LfV seit langem bekannt, auf eine
Telefonueberwachung war jedoch verzichtet worden, da man keinen Dolmetscher
hatte. Trotz dieses Versagens durfte Annussek seinen Posten bis zur
Pensionierung behalten.

1995 folgte nun Eduard Vermander. Mit seinem Ausscheiden will Innensenator
Werthebach das Verfassungsschutzamt nun formell aufloesen und neu
strukturieren. Viel helfen wird dies Vermanders Nachfolger kaum.

OTTO DIEDERICHS

Source