Juden und die DDR – eine unheimliche Liebe …

Vincent von
Wroblewsky
Juden und die DDR – eine unheimliche Liebe …

Vor vielen Jahren – ich war noch Student – nutzte ich mit Freunden einige
freie Tage, um im Norden Berlins das Kloster Chorin und seine Umgebung
kennenzulernen. Wir fanden Unterkunft bei der Witwe eines Kunstschmiedes, der
vor kurzem gestorben war. Unbeholfen artikulierten wir unser Beileid, worauf
uns die Witwe zu unserem Erstaunen erzählte, warum der Tod ihres Mannes ihr
nicht nur Grund zur Trauer war. Sie hatten jung geheiratet – die große Liebe.
Beim ersten gemeinsamen Frühstück gab sie ihm das Gelbe von ihrem
weichgekochten Ei. Nicht, weil sie es nicht mochte, im Gegenteil! Einen
größeren, selbstloseren Liebesbeweis hätte sie kaum erbringen können. Und so
geschah es auch am nächsten Morgen, und am übernächsten, Tag um Tag, Woche um
Woche, ein halbes Jahrhundert lang… Nun aß die Witwe wieder ihr morgendliches
Ei, nicht nur in seiner faden weißen Unschuld, sondern mit dem schmackhaften
cholesterinreichen Eigelb, das vielleicht den Anbruch ihrer neuen Freiheit
beschleunigt hatte.

An diese Geschichte habe ich in den folgenden Jahren immer mal wieder denken
müssen – und vielleicht hat sie mich auch beeinflußt, als ich zusagte, hier vor
Ihnen zu sprechen, und ein derart vieldeutiges und verfängliches Thema wählte.
Was mich am Thema “Juden und die DDR” interessiert, die gegenseitige
Beziehung, die Wechselseitigkeit, kurz die Problematisierung des Themas, oder
auch – philosophisch gesprochen – die Bedingung der Möglichkeit einer
derartigen Beziehung.

Zahlen und Daten sind wichtig, sie sind jedoch nur die Hülle, unter der sich
komplexere Gebilde verbergen. Vielleicht ist mir deshalb die Liebe in die
Überschrift gerutscht. Gibt es denn intensivere, und zugleich problematischere,
gefährdetere, mißdeutigere Beziehungen als die der Liebe? Dieses
widersprüchliche Ensemble von mehr oder weniger asymmetrischen Erwartungen und
Bedürfnissen, von Tagträumen, Phantasien, Projektionen und Obsessionen, von
überraschenden Reaktionen, die von verdrängten frühen Prägungen mitgesteuert
werden, entzieht sich erschöpfenden rationalen Erklärungen, läßt sich nicht auf
Kausalketten reduzieren. Sie taugt deshalb für mein Thema als Metapher wie als
Paradigma.

Unheimlich war die Liebe zwischen Juden – wir werden genauer sehen, welche
besonders gemeint sind – und der offiziellen DDR nicht primär in der
umgangsprachlichen Bedeutung von “besonders groß”, so wie man von
einem “unheimlichen Glück” spricht. Es geht mir eher um die Bedeutung
von “unheimlich” als “unerwartet”,
“beunruhigend”, auch als “undurchschaubar”, “nicht zu
trauen”, so wie man von einem unheimlichen Menschen spricht, oder einer
Landschaft, in der man nicht heimisch ist.

Damit die Unheimlichkeit, die Bedrohung, die Fremdheit nicht noch größer
werde – wir wissen ja, daß sie zwar nicht die Ursache, jedoch häufig fördernder
Begleitumstand von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus ist -, will ich
versuchen, die auf den ersten Blick seltsam anmutende Beziehung von Juden und
DDR etwas vertrauter zu machen.

Beziehungen beginnen meistens mit einer ersten Begegnung, jedoch nicht immer
voraussetzungslos und ohne Vorgeschichte. So auch in unserem Fall. Wie konnten
Juden nach 1945, nach dem fast geglückten Versuch, sie aus Europa zunächst zu
vertreiben, dann in Europa (fürs erste in Europa:”… und morgen die ganze
Welt…”) als Volk umzubringen, überhaupt auf den Gedanken kommen, in
Deutschland zu bleiben (insofern sie dort überlebt hatten oder sich aus Lagern
befreit auf dessen Territorium befanden) oder gar aus der Emigration
zurückzukehren?

Helmut Eschwege beschreibt die damalige Situation: “Vorherrschender
Gedanke nach der Befreiung war bei Juden des In- und Auslandes, die letzten
Reste des jüdischen Gemeindelebens in Deutschland zu liquidieren und für die
Auswanderung der Überlebenden zu sorgen. Zutiefst saß der verständliche Haß bei
ihnen gegen ein System von Verbrechern, die das deutsche Volk in seiner Masse
hatte gewähren lassen. So wurde die Berliner Gemeinde damals
‘Liquidationsgemeinde’ genannt. Aber ganz so einfach war die ‘Liquidation’
nicht. Die Engländer hielten die Grenzen Palästinas verschlossen und die USA
ließen nur wenige neue Einwanderer in ihr Land.

Der harte Winter 1945/46 und das Erkennen des tragischen Endes ihrer
Familien ließ eine ganze Reihe von Juden den Freitod wählen. Nicht wenige
verließen verbittert Deutschland. Groß waren damals auch als Folge der
KZ-Leiden die Sterbefälle. Erwähnt werden sollte, daß das ‘American Joint
Distribution Commitee’ und die MRO’ großzügig halfen, die bitterste Not zu
lindern. Viele Juden besaßen nur die Kleidung, die sie aus dem KZ mitgebracht
hatten. Die meisten waren ausgehungert, oft krank, noch ohne Arbeit, ohne
Einkommen und nur notdürftig untergebracht.”E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[1]

Ein geringer Teil dieser Überlebenden blieb in Deutschland, meistens in den
Westzonen, auf die Weiterwanderung nach Palästina oder andere Länder hoffend.
Einige Hundert jedoch blieben in der SBZ, der sowjetisch besetzten oder auch Ostzone.E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[2]
 Ihre Bindung zum Judentum war meistens
schon vor der Nazizeit sehr schwach gewesen. Die Überlebenschancen orthodoxer
Juden – sie waren keine Mischehen eingegangen und hatten keine christlichen
Freunde – waren minimal.

In den ersten Nachkriegsjahren kehrten jedoch Juden in die Sowjetische
Besatzungszone (SBZ) zurück – ihre Zahl wird auf etwa 3.500 geschätztE;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[3],
denen es gelungen war, Deutschland zu verlassen, nicht in erster Linie, weil
sie Juden, sondern weil sie als Sozialdemokraten, Kommunisten … Gegner der
Nazis waren. Auf diese Gruppe von Juden (und deren Nachkommen) – früh politisch
engagiert und der Religion, damit auch den Gemeinden entfremdet – will ich mich
im folgenden beschränken, der “unheimlichen Liebe” zwischen ihnen und
der SBZ bzw. ab 1949 DDR will ich nachgehen, schon deshalb, weil es mich selbst
betrifft, aber auch, weil sie innerhalb der zweifachen Minderheit – Minderheit
der Juden in Deutschland, Minderheit der Juden in der DDR innerhalb der Juden
in Deutschland – eine Mehrheit darstellen, die in der Literatur bisher kaum
wahrgenommen wurde.E;mso-fareast-language:
DE;mso-bidi-language:AR-SA”>[4]

Warum wechselte meine Mutter 1950 von Paris nach Berlin, unterbrach meine
zehnjährige französische Kindheit, um ihr plötzlich (und für mich unerwartet,
unvorbereitet) eine deutsche Fortsetzung zu geben? Zu Beginn des Jahrhunderts
in Berlin geboren als Tochter von Berta Wohlgemuth (Wohlgemuth – wie der Lehrer
Albrecht Dürers), diese eine geborene Rosenthal, eine in bescheidenen
Verhältnissen lebende gläubige, noch nicht völlig assimilierte Jüdin mit
osteuropäischen Vorfahren, wuchs meine Mutter nach dem frühen Tod ihres Vaters
in einem jüdischen Waisenheim auf, den Auerbachschen Anstalten, und erhielt auf
dem Sophien-Lyzeum eine gute Ausbildung – deutsche Literatur, englische und
französische Sprache absolvierte sie mit besonderem Erfolg, was ihr bald, nach
der Entlassung aus dem Hause Ullstein und der Emigration 1933, sehr nützlich
sein sollte. Ihre “Identität” war gleichermaßen jüdisch und deutsch –
vielleicht dominierte letztere mit den Jahren. Die Glanzstunden ihrer Jugend
waren die Aufführungen deutscher Klassiker an Reinhardts Deutschem Theater, und
bis in ihr hohes Alter kannte sie des “Faust” ersten Teil auswendig.
Mit viel Entbehrungen und auch Glück überlebte sie in Frankreich die Zeit der
deutschen Besatzung – anders als ihr Mann, der 1944 vierzigjährig an den Folgen
des Widerstandskampfes qualvoll starb.

Überlebt hatte sie zwar – auch dank der Hilfe großartiger Franzosen -, war
jedoch in all den Jahren die Fremde geblieben: für die deutschen Besatzer und
für das offizielle Vichy-Frankreich die zu jagende bzw. auszuliefernde Jüdin
und Kommunistin, für die “normalen” Franzosen die so oder so verdächtige
Deutsche. Und letztere war sie durch ihre Sozialisation viel zu sehr, um sich
je in Frankreich heimisch, wirklich dazugehörig fühlen zu können.

In den ersten Jahren nach der Befreiung öffneten sich ihr neben der
Möglichkeit, weiter in Frankreich zu leben, zwei Wege, für oder gegen die sie
sich zu entscheiden hatte. Vom ersten wollte 1946 Golda Meir sie überzeugen,
die spätere israelische Ministerpräsidentin, damals Leiterin eines jüdischen
Waisenheims in Toulouse, in dem meine Mutter uns provisorisch untergebracht
hatte, um vom Dorf Moutier-Rozeille in der Creuse wieder nach Paris zu kommen,
und in dem sie selbst als Schneiderin arbeitete. Die Option, die Golda Meir
anbot: eine jüdische Identität in einem eigenen Staat Israel (sie war 1946 von
dessen bevorstehender Gründung überzeugt und wirkte intensiv in diesem Sinne)
war die zionistische, die meine Mutter wie bereits vor 1933 trotz der seitdem
gemachten historischen Erfahrungen ablehnte. Die nächste Wegscheide zeigte ihr
Ende 1949 ein deutscher Genosse, der im Spanienkrieg zur Verteidigung der
Republik einen Arm verloren hatte und den sie nun in Paris traf.

Er erzählte ihr von der Gründung eines deutschen Staates mit
antifaschistisch-demokratischem Programm, geführt von Antifaschisten, ein
neues, ganz anderes Deutschland, ohne Ausbeutung, weil ohne große Kapitalisten
und ohne Junker, ohne Militarismus und natürlich ohne Rassendiskriminierung und
Antisemitismus. Sie könnte nicht nur in die Stadt ihrer Kindheit und Jugend
zurückkehren, die ihr vertraute Sprache sprechen, sondern vor allem: dort würde
sie gebraucht, da könne sie mitwirken an der Verwirklichung der Ideale, für die
sie mit vielen anderen gekämpft hatte, für die ihr Mann gestorben war, und, für
eine jüdische Mutter wohl noch wichtiger – dort hätten ihre beiden Söhne eine
Zukunft. Diese Argumente, die ihre Vergangenheit und die Zukunft ihrer
Kinder
einschlossen, überzeugten sie wohl, und nach den entsprechenden
nicht leichten Vorkehrungen kehrte sie im Mai 1950 nach Berlin, in den
sogenannten demokratischen Sektor, zurück. Zwar begannen bald die
Desillusionierungen und herben Enttäuschungen, doch die Brücken nach hinten
waren abgerissen, und auf die andere deutsche Seite wechseln kam für sie erst
recht nicht in Frage: dort saßen für sie (und nicht nur für sie) die alten
Nazis; die Globke, Oberländer, Abs, Gehlen und Kompagnie waren wieder und immer
noch einflußreich, der kalte Krieg mit der wechselseitigen Legitimierung von
Antikommunismus hie, Antikapitalismus und Verkennen der tatsächlichen, wenn
auch zähen und widerspenstigen Demokratisierung dort tat ein Übriges, ein
derartiger Wechsel wäre Verrat an ihrem bisherigen Leben gewesen.

Warum habe ich diese private Geschichte so ausführlich erzählt? Zum einen
ist sie typisch für einen beträchtlichen Teil jener Juden, die aus der
Emigration in die DDR kamen und die in der Literatur bisher auch deshalb kaum
wahrgenommen wurden, weil die Jüdischen Gemeinden und die DDR-Regierung, wenn
auch aus verschiedenen Motiven, sich darin einig waren, Juden religiös zu
definieren.E;mso-fareast-language:
DE;mso-bidi-language:AR-SA”>[5]
Zum
anderen aber erlaubt sie Verallgemeinerungen, die mit dem Oberthema unserer
Tagung enger verbunden sind, als es bisher scheinen konnte.

Wie viele Juden ihrer Generation war meine Mutter in ihrem Leben mit den
vier bis fünf “Lösungen” auf die sogenannte “Judenfrage”.E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[6]
In ihrer Kindheit und Jugend hatte sie die oft im Rückblick verklärte
deutsch-jüdische Symbiose erlebt,E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[7]
die gegenseitige Anerkennung und Befruchtung, Bereicherung verschiedener
Kulturen. Auch als sie sich von der Religion ihrer Vorfahren entfernt hatte,
lebte sie in Deutschland mit dem stolzen Selbstbewußtsein, einem Volk
anzugehören, ohne dessen Beitrag ihr Heimatland in jeder Hinsicht ärmer wäre,
und empfand es als Glück, in diesem Land zu leben – die Antisemiten, die
sie auch wahrnahm, waren für sie ein Teil der universellen menschlichen
Dummheit und Gemeinheit, die man auch in der besten Gesellschaft als Randerscheinung
ertragen muß.

Die zionistische Antwort – Bürger eines eigenen Nationalstaates zu werden,
um nicht in einem fremden Nationalstaat den alltäglichen Beleidigungen und
Erniedrigungen und gelegentlich, vor allem in Krisenzeiten, den Launen der Geschichte,
das heißt den Brutalitäten der Rechtgeborenen und Rechtgläubigen ausgeliefert
zu sein – kam für sie nicht in Betracht. Lieber trennte sie sich von dem
Zahnarzt, mit dem sie verlobt war – einem überzeugten Zionist – als dieser
tatsächlich nach Palästina ging.

Nach tiefen ökonomischen und politischen Krisen des Landes gelang es dieser
unvermeidlichen Randerscheinung in Deutschland eine Mehrheit der Bevölkerung zu
gewinnen und – zunächst erfolgreich – blutige Lösungen anzubieten: angefangen
bei der “Reinheit” des eigenen Blutes (das Beispiel des ehemaligen
Jugoslawien zeigt einmal mehr, wie schnell die Reinheit des eigenen Blutes zum
Vergießen des fremden Blutes führt). Die unreine Minderheit begann ebenso wie
die mit dieser “nationalen” Lösung nicht einverstandenen politischen
Minderheiten sich in Deutschland ihres Lebens nicht mehr sicher zu sein. Für
die politische jüdische Minderheit war das schneller offensichtlich,
unpolitische Juden hielten sich, noch von der Illusion deutsch-jüdischer
Symbiose zehrend, fest an den Glauben an einen schnell vorübergehenden, in
einem zivilisierten, kulturvollen Land wie Deutschland nicht haltbaren Spuk. Im
Unterschied zu den anderen Mitgliedern ihrer Familie – zum Beispiel ihrem
Bruder, der wähnte, das ihm im Ersten Weltkrieg verliehene Eiserne Kreuz weise
ihn hinreichend als guten Deutschen aus – war meine Mutter zuerst Angehörige
der politischen Minderheit. Deshalb folgte sie 1933 meinem Vater in die
französische Emigration und kämpfte nach der Besetzung Frankreichs durch
Nazi-Deutschland an seiner Seite in der französischen Résistance.

Dieser Kampf hat auf den ersten Blick nichts mit der “Judenfrage”
zu tun. Betrachtet man jedoch die Motive näher, die wahrscheinlich viele Juden
zur kommunistischen Bewegung führten, wird der Zusammenhang zwischen ihrem
kommunistischen Engagement und der marxistischen Lösung der
“Judenfrage” erkennbar.E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[8]
Marx sah bekanntlich in der Nachfolge linkshegelianischer Religionskritik
Religion als verkehrten Schein realer irdischer Verhältnisse, als falsches
Bewußtsein, das entfremdeten menschlichen Verhältnissen entspringt. Die Ursache
der vielfältigen Formen der Entfremdung des Menschen – Entfremdung von der
Natur, von seinen eigenen Produkten und von den Mitmenschen – entdeckte er
“in letzter Instanz” in den ökonomischen Verhältnissen, das heißt in
der Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Klassen, in Besitzende und
Nichtbesitzende (von Produktionsmitteln) und damit in Ausbeuter und
Ausgebeutete. Und diese Spaltung war für Marx nichts Statisches, sich immer
gleich bleibend. Im Gegenteil, in ihr sah er die Kraft, die die Geschichte
vorantrieb, bis zu seiner Zeit vorangetrieben hatte und die Widersprüche auf
den Gegensatz von Kapital und Arbeit vereinfacht hatte. Damit eröffnete sich
für ihn eine Perspektive, die vorangegangenen Geschichtsperioden versagt
geblieben war: zum ersten Mal in der Geschichte war mit dem Industrieproletariat
eine Klasse entstanden, die – anders als zuvor das Bürgertum in seinen
Revolutionen – mit ihrer Befreiung keine neue Form von Herrschaft und
Ausbeutung etablieren würde, sondern eine klassenlose Gesellschaft, frei von
Ausbeutung, in der jeder seine Fähigkeiten voll entfalten und nach seinen
Bedürfnissen leben könnte. Erst dann würden die Ideale der französischen
Revolution, die den Juden zwar die Emanzipation als Staatsbürger gebracht, sie
jedoch in das Dilemma der nationslosen nationalen Minderheit gestürzt hatte –
Wirklichkeit werden können. Dann verschwänden auch Entfremdung und trügerischer
Schein, Ausbeutung und falsches Bewußtsein.

Jetzt zeichnet sich ab, was dieser längere, wenn auch arg verkürzte Exkurs
mit unserem Thema zu tun hat, obwohl ich hier nicht die überaus fragwürdigen
Aspekte von Marx’ “Zur Judenfrage” diskutieren kann, in der er Juden
und Geld und Geld und Bourgeoisie gleichsetzt, was ihm ermöglicht, durch die
wahre Emanzipation die bürgerliche Gesellschaft in der klassenlosen und den
Juden im Menschen aufgehoben zu denken – die “Frage” ist gelöst, in
dem ihr “Gegenstand” verschwunden ist.E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[9]
Für eine Bemerkung zu dieser Jugendschrift von Marx – 1843 verfaßt, 1844
veröffentlicht – sollte jedoch noch Raum sein: Als Kritik an Bruno Bauers
“Die Judenfrage” (1843) intendiert, übernimmt Marx von diesem einige
Auffassungen, die sich – gewiß nicht in bewußter Nachfolge – in der
DDR-Ideologie wiederfinden. Wie Bruno Bauer sieht auch Marx in den Juden kein
Volk, sondern “eine Sammlung von Atomen”, “eine Summe von
atomistischen Individuen”, eine “schimärische Nationalität” und
schließlich eine “Kaste”, die lediglich durch ihre Religion definiert
ist.E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[10]
Auch in der DDR wurde offiziell nur von “Bürgern jüdischen Glaubens”
gesprochen – wenn es um die Opfer ging, galt allerdings die Ergänzung
“jüdischer Abstammung”, denn der Rassismus der Nazis fragte nicht
nach der Religion. Letzteres ist wahrscheinlich auch ein entscheidender Grund
für die Abweichung von dem sonst mit musterschülerhaftem Eifer kopierten
Vorbild der Sowjetunion, wo die Juden als eigene Nationalität galten. Die
Übereinstimmung zwischen Marx und Bauer macht eindringlich auf eine andere,
unerwartete Verwandtschaft aufmerksam. Bei Marx rettete die Aufhebung der
bürgerlichen Gesellschaft und des Juden diesen als Menschen und ließ ihn als
Juden verschwinden. Er war nichts als eine zeitweilige, vorübergehende, zum
Untergang verurteilte Partikularität, eine Form der Entfremdung, der es
historisch bestimmt war, in die Universalität der befreiten Menschheit
überzugehen. Sehen wir, wie Jean-Paul Sartre in seinen “Überlegungen zur
Judenfrage”, nachdem er sehr eindringlich das “Porträt des
Antisemiten” gezeichnet hat, von einem zwar gutwilligen, jedoch nicht sehr
hilfreichem Freund der Juden spricht: “Die Juden haben jedoch einen
Freund: den Demokraten. Aber das ist ein erbärmlicher Verteidiger. […] Seine
Verteidigung besteht darin, die Individuen davon zu überzeugen, daß sie in
isoliertem Zustand existieren. ‘Es gibt keine Juden’, sagt er, ‘es gibt keine
Judenfrage.’ Das bedeutet, er möchte den Juden von seiner Religion, seiner
Familie, seiner ethnischen Gemeinschaft trennen, um ihn in den demokratischen
Schmelztiegel zu stecken, aus dem er allein und nackt wieder herauskommen wird
als ein individuelles und einsames Partikel, das allen anderen Partikeln
gleicht (…) für einen selbstbewußten und stolzen Juden, der auf seiner
Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft besteht, ohne deshalb die Bande zu
verkennen, die ihn an eine nationale Kollektivität binden, besteht zwischen dem
Antisemiten und dem Demokraten kein so großer Unterschied. Jener will ihn als
Menschen vernichten, um nur den Juden, den Paria, den Unberührbaren in ihm
bestehen zu lassen; dieser will ihn als Juden vernichten, um in ihm nur den
Menschen zu bewahren, das abstrakte und allgemeine Subjekt der Menschen- und
Bürgerrechte. Noch beim liberalsten Demokraten kann man eine Spur von
Antisemitismus entdecken: er steht dem Juden feindselig gegenüber, sobald es
dem Juden einfällt, sich als Jude zu denken.”E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[11]

Diese strukturelle Verwandtschaft zwischen marxistischer und
demokratisch-universalistischer Haltung findet sich in der Haltung der DDR
gegenüber den Juden wieder. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinden wurden als
religiöse Minderheit wie alle Religionsgemeinschaften in dem Maße offiziell
anerkannt und toleriert, wie sie nicht in Gegensatz zu essentials des
sozialistischen Staates gerieten, zu sogenannten Grundlagen der sozialistischen
Gesellschaft. Dagegen wäre prinzipiell nichts einzuwenden, soweit es
konsequenter Ausdruck der Trennung von Kirche und Staat war und die DDR – mit
der französischen Republik vergleichbar – in dieser Hinsicht eine modernere
Gesellschaft als die alte und neue Bundesrepublik Deutschland war. Es hatte
jedoch besondere Folgen: Beispielsweise gerieten die evangelischen Kirchen in
Konflikt zur herrschenden Militärpraxis, die eine Kriegsdienstverweigerung aus
Gewissensgründen ausschloß, oder zur staatlichen atheistischen Erziehung, und
die Jüdischen Gemeinden unterließen es, sich zur israelfeindlichen Politik zu
äußern. Ja, die jüdischen Gemeinden erfuhren sogar proportional eine wesentlich
stärkere Förderung als andere Religionsgemeinschaften – ohne erhebliche
materielle Zuschüsse hätte beispielsweise die Synagoge in Berlin nicht
restauriert und funktionsfähig gemacht werden können, hätte die koschere
Fleischerei in der Eberswalder Straße, für die der Schacher wöchentlich aus
Budapest eingeflogen wurde (und zu deren Stammkundschaft die Köche der
arabischen Botschaften gehörten) nicht arbeiten können. Das war allerdings
nicht in allen Phasen der DDR-Entwicklung so. Julius H. Schoeps faßt
verschiedene Berichte und Untersuchungen darüber zusammen: “Bis zur Zeit
des mit Todesurteilen und Hinrichtungen endenden Slánskyprozesses 1952 in der
CSSR herrschte in der DDR eine durchaus freundschaftliche Atmosphäre zwischen
den Jüdischen Gemeinden und den führenden Repräsentanten von Partei und Staat.
Durch den Slánskyprozeß und die antisemitischen Vorfälle in der Sowjetunion im
Zusammenhang mit einem angeblichen Mordkomplott jüdischer Ärzte gegen Josef
Stalin wuchs jedoch 1952/53 auch in der DDR das Mißtrauen gegenüber
Juden.” An diese Zeit habe ich einige Erinnerungen. Wir – meine Mutter,
mein Bruder und ich – lebten damals in einer gemeinsamen Wohnung mit Trautl
Feigl, die in den dreißiger Jahren jenen Feigl geheiratet hatte, der im
Außenministerium als Staatssekretär arbeitete und im Slánsky-Prozeß zu
lebenslanger Haft verurteilt wurde. Sie war über Prag nach Paris und London
(Feigl dagegen nach Palästina) emigriert. Bei ihr trafen sich regelmäßig
Reemigranten und sprachen natürlich – auch in meiner Gegenwart, vielleicht
nahmen sie an, der Dreizehnjährige würde nicht verstehen, worüber gesprochen
wurde, vielleicht wollten sie auch, daß die nächste Generation mehr erfährt als
die begrenzte Schulweisheit vorsah – über den Prozeß und die dabei
dominierenden Vorwürfe gegen die “zionistischen Agenten des
Imperialismus”. Später schenkte sie mir aus ihrer Bibliothek sowohl das in
Prag deutsch erschiene Protokoll des Slánsky-prozesses als auch, quasi als
Beigabe, die Broschüre von Hermann Matern, Mitglied des Politbüros der SED,
über “Die Lehren aus dem Slánsky-Prozeß”. Später erfuhr ich mehr über
die Hintergründe aus dem Buch Arthur Londons “Das Geständnis”, das
mir französische Freunde in der französischen Fassung in die DDR
einschmuggelten. Schoeps fährt fort:”… der Staatssicherheitsdienst
durchsuchte zahlreiche Gemeindebüros und die Privatwohnungen von Menschen, die
allein auf Grund ihres jüdischen Glaubens als “verdächtig” galten.
Jüdische Parteimitglieder wurden von ihren Aufgaben relegiert, aber auch
Personen, die den Gemeinden nicht nahestanden und schon vor 1933 Mitglied der
KPD gewesen waren, wurden aufgrund ihrer jüdischen Herkunft von hohen
Positionen in Partei und Staat ausgeschlossen, wie beispielsweise der
Gesellschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski, den man seines Amtes als
Präsident der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft enthob. Diese
Repressalien führten zur Flucht vieler führender Gemeindemitglieder und ganzer
Jüdischer Gemeinden aus der DDR in den Westen. Der Schock für die damals in der
DDR lebenden Juden war beträchtlich, schien es doch nun, als hätte sich
grundsätzlich nichts geändert, als sei die über Jahre beschworene Freundschaft
zwischen dem Staat DDR und seinen jüdischen Bürgern nichts als eine
vorgeschobene taktische Behauptung und der überwunden geglaubte Antisemitismus
in der DDR nach wie vor existent.”E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[12]

Nach Stalins Tod 1953 und dem XX. Parteitag der KPdSU 1956  “normalisierte” sich jedoch das
Verhältnis zwischen der DDR und den verbliebenen Juden zunehmend. Die Gemeinden
waren wieder willkommenes Aushängeschild für die demokratische und
humanistische Grundhaltung der DDR, und mehr noch für ihren antifaschistischen
Charakter, der während der gesamten DDR-Geschichte den Legitimationsboden für
diesen zweiten deutschen Staat bot. Und innerhalb der DDR-Ideologie nahmen die
Jüdischen Gemeinden ansonsten den Platz ein, den alle anerkannten
Religionsgemeinschaften einnahmen: Sie hatten ihren Platz als
Übergangserscheinung, solange sich auch die sozialistische Gesellschaft
transitorisch, als Übergang zur klassenlosen, kommunistische Gesellschaft
verstand – dann würden sie mit dem Verschwinden der Religion sich selbst
auflösen.

Und die nichtreligiösen Juden? Obwohl viele von ihnen 1952/53 und
gelegentlich auch später vom herrschenden Mißtrauen betroffen warenE;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[13]
– der auch mit den Herrschaftsinteressen der mit Ulbricht aus der Sowjetunion
zurückkehrten Emigranten zu tun hatte, die potentielle Konkurrenten aus der
“Westemigration” auszuschalten bestrebt waren – spielten sie in
wesentlichen Bereichen der Gesellschaft eine erhebliche Rolle. Doch das ist das
Paradoxe, das vielleicht durch die vorangegangenen Exkurse in die Ideologie, in
die Zukunftserwartungen und damit auch in die Motivationen etwas verständlicher
geworden ist: Obwohl bei vielen ohne Zweifel die jüdische Identität, wenn auch
in der Form des Bruchs, am Anfang des kommunistischen Weges stand, obwohl sie
als Kommunisten und als Juden verfolgt worden waren und gekämpft hatten,
war diese jüdische Identität von ihnen selbst so gründlich verdrängt oder
verleugnet worden, daß sie sich mit dem gesellschaftlichen Blick
identifizierten, für den es Jüdisches außerhalb des Religiösen nicht gab. Dabei
spielten sie in der DDR, im Unterschied zum westlichen Teil Deutschlands, im
Verhältnis zu ihrem Anteil in der Bevölkerung eine ungleiche größere Rolle.E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[14]

In einer Broschüre vom Ende der sechziger Jahre, die die antifaschistische
Basis der DDR in Form von 95 Kurzbiographien belegen sollte, erkenne ich 17
“jüdische Herkünfte”, ohne daß auch nur bei einem darauf hingewiesen
wird.E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[15]
Ja, im Gegenteil, gerade im Nichterwähnen sah die offizielle Lehrmeinung einen
Beweis für den nichtvorhandenen Antisemitismus. Gegen Ende der DDR erzählte der
Schriftsteller Stefan Hermlin in einem Artikel in der Zeitung der
Jugendorganisation FDJ, “Junge Welt”, die damals eine millionenstarke
Auflage hatte, wie ihm ein Schriftstellerkollege in einem Streitgespräch als
Beweis für den in der DDR angeblich nicht vorhandenen Antisemitismus sagte:
“Sieh’ mal, mein Sohn weiß nicht einmal, was ein Jude ist.” Auch im
fünften Jahr nach dem Ende der DDR ist das Problematische dieser Tabuisierung
(und ihrer Folgen) noch Streitgegenstand. So schreibt der Karikaturist Harald Kretzschmar:
“Jude. Das Wort war suspekt geworden durch Nazigebrauch. Und ist es noch.
Beschmutzt. Spreche ich heute, ja heute noch, mit einem x-beliebigen Menschen
in Ost oder West und erwähne das Wort, so zuckt mein Gegenüber kaum merklich
zusammen. Jeder. Deutschland nach Auschwitz.”E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[16]

Wollte ich polemisieren, würde ich sagen, durch Nazigebrauch ist das Wort
Deutscher mehr beschmutzt worden, gewiß in anderer Weise, und viele in der
Welt, selbst einige in Deutschland zucken ebenfalls bei seiner Erwähnung
vielleicht kaum merklich zusammen. Doch ich will nicht polemisieren, ich
zweifle nicht an der guten Absicht von Harald Kretzschmar, noch an der
weitgehenden Richtigkeit seiner Beschreibung. Doch liegt diese bleibende
“Beschmutzung”, die unvermeidlich vom Wort, vom sprachlichen Zeichen,
auf die so bezeichnete Person übergeht, nicht auch an der langanhaltenden
Tabuisierung, Verdrängung, nur verklemmten, fast heimlichen, schamhaften
Wahrnehmung des anderen in seinem Anderssein? Obwohl es nicht in seiner Absicht
liegt, beschreibt der Karikaturist auch diese Aspekte sehr treffend und er hat
dabei das Verdienst, besonders auf die nichtreligiösen Juden aufmerksam zu
machen: “Juden in der DDR waren in ihrer Aktivität un-überhörbar,
unübersehbar, unüberlesbar. Sie wurden als Genosse oder Kollege angeredet wie
du und ich. Als Deutsche unter Deutschen, selbstverständlich. Sie waren
geachtet, die Älteren geehrt.”

Juden waren also sehr gegenwärtig – nur nicht als Juden. Vielleicht
unterschieden sie sich nicht von anderen Genossen, Kollegen, Deutschen? Waren –
siehe Sartres Demokrat – nur Menschen? Nein, auch das nicht. H. Kretzschmar
fährt fort: “Ich habe sie mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen. Für
mich als Porträtzeichner waren sie auffällig. Weniger der Nase, nebbich, nein,
des Wesens wegen. Oder des Geweses, wie der Berliner zu sagen pflegt. Meist
waren sie agil, verrieten eine komplexere Sicht auf die Dinge des Lebens.
Genossen unter ihnen legten weniger teutonische Vasallentreue an den Tag, als
den kritischen Geist der Skepsis.” Auch hier hat der Zeichner gut
beobachtet, denke ich. Das kommunistische Engagement der Juden hatte eben –
sicher auch seines Ursprungs wegen – für sie häufiger eine existentielle
Dimension, es war meistens auch in einem weiteren Erfahrungshorizont begründet,
Gründe für Opportunismus, Anpassung, Karrieredenken, Zynismus waren bei ihnen
seltener bestimmend (das konnte man vor 1989 oft nur vermuten: ein großer
Vorteil der “Wende” war es, daß die wendigen Anpasser, denen es unter
jedem Regime nur um das private Eigeninteresse geht, als “Wendehälse”
plötzlich sichtbar wurden – nicht zu verwechseln mit wirklichem Umdenken, das gemeinhin
mehr Mühe kostet und häufig auch vor November 1989 einsetzte). Die größere
Konsequenz des Engagements heißt nicht, sie hätten nur gute Rollen gespielt. H.
Kretzschmar nennt viele Namen aus Wissenschaft, Kunst, Politik, Medien, er
spricht über Dissidenten (“Abweichler” in der DDR-Sprache) und
besonders Linientreue. Meiner Ansicht nach hat beides auch gleiche Ursprünge
und es war die durch Biographie und Charakter, Temperament etc. jeweils
verschiedene Weise, die “Sache”, die man als Alternative zu einer
Welt verschiedenster Diskriminierungen, sozialer und eben auch der der Rasse
gewählt hatte, ernst zu nehmen.

Ich gehe auf den Artikel von H. Kretzschmar, der “unser jüdisches
Erbe” betrachtet – das Possessivpronom bezeichnet dabei als Subjekt DDR-Bürger,
denen ihr Land auch heute nicht einfach nur und vor allem ein totalitärer
Unrechtsstaat gewesen ist – und die DDR gegen den Vorwurf verteidigt, sie sei
antisemitisch gewesen, “die SED-Diktatur” hätte “Juden
unterdrückt”, so ausführlich ein, weil dieser wohlwollende Blick von außen
so relevant ist für ein anderes Erbe, für das des (scheinbaren) völligen
Aufgehens der kommunistischen nichtreligiösen Juden in die DDR-Gesellschaft und
für dessen ausschließlich positive Bewertung. Er schreibt zum Beispiel:
“Die von außen und nun nachträglich geübte Schelte am DDR-Umgang mit dem
Thema reduziert sich leider auf den Aspekt des rein religiösen Lebens. Das
geschieht in seltsamer, beinahe heuchlerisch zu nennender Verkennung der
Emanzipierung von Menschen zu aufgeklärten Humanisten und Sozialisten. Ich habe
die Integration jüdischer Elemente in die deutsche Kultur immer als
imponierende geistige Steigerung empfunden. Und genau dies wurde bei allen
Tiefschlägen durch eine übermächtige Administration in dem verblichenen Land
weitergeübt. So wie die sozialistische Arbeiterbewegung die
Befreiungsbestrebungen dieser Menschengruppe aufnahm und ihre Geschicke einer
großen Reihe von Gründer- und Führerpersönlichkeiten dieser Herkunft
anvertraute, so entwickelt sich Geschichte auf anderer Ebene weiter. Heute und
hier.” Zuvor hatte H.K. bemerkt: “Intellektuelle, längst von ihren
religiösen Bindungen losgelöste jüdische Bürger, trugen auch in der DDR ihr
Judentum nicht auf einem Tablett vor sich her. Sie waren mit dem guten Vorsatz
nach Deutschland Ost gekommen, als Deutsche unter Deutschen, als Sozialisten
unter Sozialisten zu leben. Fanden sie ihr Glück? Das können sie nur selbst
beantworten. Warum fragt sie keiner?E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[17]

 Viele haben in aufopferungsvoller
Arbeit ihren Idealen gelebt. Aber es gab genauso Enttäuschung, Anpassung,
Rebellion und Repression. Aber rassische Verfolgung? Undenkbar.” Es ist
(fast) wahr – rassische Verfolgung gab es in der DDR in offener, gar
offizieller Form, wie es sie in Polen, der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion
gab, keine. Allerdings gab es Friedhofsschändungen und selbst Verwüstungen (der
Friedhof der Gemeinde Adass Isroel in Berlin zum Beispiel war nach dem Krieg
noch intakt, in den achtziger Jahren jedoch, vor seiner Wiederherstellung, nur
noch eine Mischung von Trümmerfeld und Müllplatz), und wie in der Bundeswehr
gab es auch in der “Nationalen Volksarmee” – solche betont männlichen
Einrichtungen sind offensichtlich ein besonders fruchtbares Milieu –
antisemitische “Vorkommnisse”, die jedoch sorgfältig vor der Öffentlichkeit
geheimgehalten wurden.E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[18]

Und selbst innerhalb der SED gab es vor allem in den fünfziger Jahren
Beispiele. Harald Kretzschmar erwähnt selbst eins – allerdings in der Absicht,
das Gegenteil zu beweisen: “Der Parteiausschluß der Genossen Wieland
Herzfelde und John Heartfield 1951 bis 1956 war nicht rassistisch, vielmehr
politisch motiviert: Sie leisteten der Idiotenthese vom kosmopolitischen
Formalismus Widerstand.” War denn das Schimpfwort vom Kosmopolitismus
nicht vor allem eine verschämte – oder sollte man nicht besser sagen
unverschämte – Form von Antisemitismus? Wer waren denn die
“Kosmopoliten”? Und natürlich gab es auch für H. Kretzschmar keine
“Judenfrage”: “Nelken hatte eine geschliffen klare Haltung zur
‘Jüdischen Frage’. Ich war Zeuge, als er dem einflußreichen Dichter Sergej
Michalkow aus Moskau vorhielt, daß es im sowjetischen Paß die Bezeichnung
‘Nationalität: Jude’ gäbe. In Deutschland gebe es nur Deutsche, und das sei gut
so.” Das Problem für die sowjetischen Juden war meines Erachtens jedoch
nicht die Registrierung ihrer Nationalität in einem Vielvölkerstaat, wo jeder
Bürger eine Nationalität hatte (übrigens unterschied auch die DDR zwischen der
Staatsbürgerschaft “DDR” und der Nationalität: war letztere jedoch
nicht selbstverständlich “deutsch”, war man also nicht von deutschen
Eltern in Deutschland geboren, und gehörte man nicht zur anerkannten
Vorzeigeminderheit der Sorben, fragte man vergeblich nach Kriterien, die der
“Nationalität” zugrunde lagen), sondern das Fehlen eines eigenen
Territoriums und Diskriminierungen wie der Numerus clausus für Juden bei der
Zulassung zum Studium.

Für wen war es gut, daß es “in Deutschland nur Deutsche gebe”? H.
Kretzschmar unterstellt selbstverständlich, daß die “Lösung vom
Judentum” für die betroffenen Juden eine Emanzipierung und nichts als das
gewesen sei, obwohl er sich auch hier widerspricht, wenn er die erschütternde
Begebenheit erwähnt, daß Anna Seghers, u.a. durch ihren Roman “Das siebte
Kreuz” jedem DDR-Schulkind bekannt, Präsidentin des
Schriftstellerverbandes der DDR und hochgeehrt, ihre Tochter bat, den
Chanukka-Leuchter vom Schreibtisch zu entfernen, wenn Leute ihr Arbeitszimmer
besichtigen kamen.E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[19]

Wie war es denn letztendlich mit der Liebe zwischen der DDR und den Juden,
den Juden und der DDR? Läßt sich in wenigen Worten so etwas wie eine Bilanz
ziehen? Bei aller anfänglichen, kurzen Euphorie: die DDR bzw. ihr Vorläufer SBZ
hatte sie nicht als Juden gerufen, sondern als Kommunisten, und hat sie
zu keiner Zeit als Juden geschätzt oder gar geliebt. Im Gegenteil, sie
brachte es fertig, die anfängliche Kategorie “Opfer des Faschismus”
in “Opfer des Faschismus” und “Kämpfer gegen den
Faschismus” zu differenzieren und letzteren (höhere)
“Ehrenpensionen” zuzubilligen, wobei bei einigen anderen
“Privilegien”, die die “Antifaschistischen Komitees”
verteilten – leichterer Zugang zu Wohnungen, Autos, Kuren,
Erholungsmöglichkeiten – auch innerhalb der Kämpfer selbst unterschieden wurde:
im allgemeinen waren die Funktionäre der Partei, des Staatsapparates, die
Nationalpreisträger und ähnliche wichtige “Persönlichkeiten”
“gleicher” als die einfachen “Kämpfer” der Basis. Und
selbst in der “Zentralen Leitung des Komitees der antifaschistischen
Widerstandskämpfer in der DDR” gab es niemanden, der für die besondere
Geschichte, die besonderen Interessen, die besonderen Probleme ehemaliger
sozialdemokratischer, bürgerlicher, konservativer, christlicher oder jüdischer
Widerstandskämpfer zuständig gewesen wäre, oder gar für ehemalige Deserteure,
Euthanasieopfer, Sinti und Roma, Homosexuelle… Die Einheitspartei mit
ihrer Einheit und Geschlossenheit reproduzierte sich auf allen Ebenen,
in allen Bereichen der Gesellschaft, und usurpierte auch die Vergangenheit. Die
späte Liebe zu den Jüdischen Gemeinden – besonders 1988 – wurde nicht nur von
“üblen Verleumdern und Feinden der DDR” mit dem Wunsch Erich
Honeckers in Verbindung gebracht, als Krönung seiner außenpolitischen Anerkennung
– nach seinem würdigen Empfang in Bonn 1987 – in den USA empfangen zu werden.

Und die Liebe auf Seiten der areligiösen, kommunistischen Juden? Sie hatten
meistens vor der Gründung der DDR die “Loslösung” vom Judentum, seine
mehr oder weniger schmerzhafte Verdrängung als Mitgift in den Ehebund mit der
kommunistischen Bewegung eingebracht, je nach Charakter und Biographie (was
sicher nicht ganz getrennt werden kann) stellten sie hohe Ansprüche an den
daraus hervorgegangenen Partner DDR, sahen ihn deshalb besonders kritisch, oder
waren besonders nachsichtig, verständnisvoll für seine Schwächen und Gebrechen,
litten unter diesen, fühlten sich schuldig, schämten sich oder waren trotz
seiner unübersehbaren Makel, die sie als vorübergehende banalisierten, stolz
auf ihn. In der Generation ihrer Kinder, die nicht so viele Opfer, und auch
entsprechend weniger hohe Erwartungen investiert hatten, kam häufig die
Ernüchterung und Enttäuschung schneller und gründlicher, und mitunter galt die
Treue oder Loyalität zur DDR mehr den Eltern als diesem Staat. So ist es nicht
erstaunlich, daß besonders seit der Mitte der achtziger Jahre bei der zweiten
Generation der Remigranten eine Hinwendung zum Judentum, seltener zur Religion,
häufiger zur Tradition, zur Geschichte, zur Kultur stattfand, die von der Frage
nach der eigenen Identität dominiert wurde. Sie erkannten, daß ihre Eltern sich
gezwungen gesehen hatten, zu unauthentischen Juden zu werden – um Sartres
Bestimmung aufzugreifen -, um authentische Kommunisten werden zu können, und
daß sie ihnen dadurch in diesem Punkt eine negative Erbschaft, eine Leere,
einen Mangel – gewissermaßen ein Ei ohne sein Gelbes – hinterlassen hatten.

Hatte dieses Opfer einen Sinn? Gern würde ich glauben, es sei nicht zuletzt
auch ihnen zu verdanken, daß eine in osteuropäischen Staaten und in beiden
deutschen Staaten 1990, noch vor der Vereinigung, vom Jüdischen Weltkongreß
initiierte soziologische Untersuchung zu Ergebnissen führte, die den
Auftraggeber – und nicht nur ihn – überraschte: die Prozentsätze
antisemitischer und auch israelfeindlicher Einstellungen lagen im Osten
Deutschlands deutlich unter denen Westdeutschlands, und zwar stärker bei den
jungen als bei den älteren Generationen. Und das am Ende einer totalitären
Diktatur, die eine gegen Israel geführte Außenpolitik betrieb! Ich erinnere
mich gut daran, wie meine fellows am Woodrow Wilson International Center
for Scholars in Washington D.C. im Herbst 1990 versuchten, sich diese für sie
äußerst verblüffenden Ergebnisse zu erklären. Einige wollten darin ein Ergebnis
der oppositionellen Haltung der Bevölkerung gegenüber der offiziellen Politik
sehen, andere stellten die Methode der Befragung in Frage. Allen fiel es
schwer, sich vorzustellen, daß die intensive, wenn auch oft formale, schematische,
zu allgemeine, ideologisierte und instrumentalisierte Erziehung zur
Völkerfreundschaft, zum Internationalismus, zur Solidarität, wie Schlüsselwerte
des DDR-Selbstverständnisses lauteten, auch eine positive Wirkung gehabt haben
konnte. Und daß bei allem “verordneten” Antifaschismus Literatur,
Filme, Schule und auch die persönliche Wirkung ehemaliger Widerstandskämpfer
einen Einfluß gehabt hatten, der sich in diesen Umfrageergebnissen
niederschlägt.

Und was wird aus dem Erbe, nachdem dieser schwierige Partner DDR
dahingeschieden ist? Es ist so widersprüchlich, wie dieser es selbst war. Die
tatsächliche Vereinigung von Ost und West kennt viele Hemmnisse, dauert länger,
als viele erwarteten. Doch scheint sie dort besonders gut zu verlaufen, wo man
es am wenigsten wünschen möchte: in den Kriminalitätsraten zum Beispiel hat der
Osten in fünf Jahren den Westen aufgeholt, und auch in der Fremdenfeindlichkeit
klappt der Anschluß gut, ja die Angriffe gegen Schwarze, gegen Vietnamesen
zeichnen sich im Osten oft durch besondere Brutalität aus (wobei, soweit noch
möglich, die passive oder gar Beifall bekundende Menge “normaler,
anständiger Bürger” noch erschütternder ist). Wie nicht anders zu
erwarten, geht diese dumpfe, fast immer stark alkoholisierte Gewalt mit
antisemitischen Äußerungen einher. Zur Erklärung mag man zurecht die radikale
Umbruchsituation, die sozialen und familiären Probleme, den Werte- und
Perspektivverlust und vieles mehr nennen, doch auch die Tiefen- und
Langzeitwirkung der DDR-Erziehung zur internationalen Solidarität ist durch
diese Entwicklung in Frage gestellt. Es erweist sich im Rückblick, daß die für
die DDR nicht untypische Ausländereuphorie – zu beobachten bei
“Weltfestspielen der Jugend und Studenten”, bei “Internationalen
Festivals des politischen Liedes”, bei auch spontaner, nicht “von
oben” organisierter Solidarität zum Beispiel mit Chilenen nach dem Putsch
gegen Allende im Herbst 1973 wohl teilweise aus dem gleichen Mangel gespeist
wurde, der heute bei manchen zur Gewalt führt: Es gab kein normales,
alltägliches Zusammenleben mit Ausländern, nur sehr begrenzte Erfahrungen im
Ausland, und natürlich auch keine Relativierung der eigenen Wertvorstellungen
durch anderer kulturelle Erfahrungen, sodaß die punktuellen
Begegnungsmöglichkeiten exotisch aufgewertet, ja kompensatorisch überbewertet
waren. Heute, da Konkurrenzkampf, drohender oder tatsächlicher Verlust des
Arbeitsplatzes, Verarmung, die sicher oft – angesichts des jetzt
allgegenwärtigen, jedoch unerreichbaren Reichtums – mehr empfunden als real
ist, schlägt die mangelnde Erfahrung in ihr Gegenteil um: was vor zehn Jahren
vor dem Hintergrund sozialer Sicherheit als exotischer Reiz wahrgenommen wurde,
wird heute als Bedrohung erlebt und erzeugt Angst, die sich in der Gewalt gegen
das Angsterzeugende, das mit der Ursache der Angst verwechselt wird, ihren
Ausweg sucht. Ich nehme an, die Kenntnis der konkreten Vorgeschichte zu Zeiten
der DDR vermag dabei zu helfen, solche Widersprüche und Umkehrungen besser zu
verstehen und entsprechend mit ihnen umzugehen. Und die globale Verteufelung
der DDR-Geschichte unter dem Motto “SED-Diktatur”, die Nivellierung
der Gegensätze, die in der DDR am Werke waren und mit zu ihrem Ende führten,
könnten sich gegen die Absichten der vorschnellen Interpreten kehren. Aus der
unheimlichen Liebe zwischen Juden und DDR gewänne der Antisemitismus neue
Nahrung – es genügt, die tatsächliche, im Verhältnis zu ihrer verschwindend
geringen Zahl starke Repräsentanz von Juden in verantwortlichen Stellungen der
DDR zu verallgemeinern, einseitig zu interpretieren und zu bewerten, indem man
das positive Vorzeichen, das die Beschreibung bei Harald Kretzschmar noch
hatte, umkehrt, und schon war die “SED-Diktatur” eine jüdische
Erfindung und die Nichtjuden ihr Opfer. Wie wenig eine derartige Tendenz aus
der Luft gegriffen ist (und mit dem alten antisemitischen Topos vom
Judeo-Bolschewismus zusammenfließen kann), zeigen neuere Veröffentlichungen und
ihr möglicher Gebrauch.E;mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>[20]

Möge eine gerechte, differenzierte Bewertung der Geschichte auch im Hinblick
auf die “unheimliche Liebe” zwischen Juden und der DDR einen
derartigen Mißbrauch verhindern helfen.

Friedrich-Ebert-Stiftung,
digitale Bibliothek, März 2003; http://library.fes.de/fulltext/asfo/01023004.htm



E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[1]
Helmut
Eschwege: Die jüdische Bevölkerung der Jahre nach der Kapitulation
Hitlerdeutschlands auf dem Gebiet der DDR bis zum Jahre 1953, in: Siegfried
Theodor Arndt, Helmut Eschwege, Peter Honigmann, Lothar Mertens: Juden in der
DDR – Geschichte – Probleme – Perspektiven. Arbeitsmaterialien zur
Geistesgeschichte, hrsg. von Julius H. Schoeps, Bd. 4, in Kommission bei E.J.
Brill, 1988, S. 69.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[4]
Während
die Zahl der eingetragenen Mitglieder der Jüdischen Gemeinden in der DDR 1990
keine 500 betrug, waren etwa 4.000 von den Nazis als Juden oder deren
Angehörige Verfolgte als “Opfer des Faschismus” anerkannt.
Siehe dazu Y. Michal Bodemann, A
Reemergence of German Jewry? in: Reemerging Jewish Culture in Germany: Life and
Literature Since 1989, ed. by Sander L. Gilman and Karen Remmler, New York University
Press, New York and London, 1994, S. 49.
Zu den wenigen Ausnahmen gehört
auch Robin Ostow mit ihrem Buch “Jüdisches Leben in der DDR”,
Jüdischer Verlag Athenäum, Frankfurt/Main, 1988 und ihrem Aufsatz “Das
Erbe des Holocaust im antifaschistischen Deutschland” in: Werner Bergmann,
Rainer Erb (Hrsg.): Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945,
Westdeutscher Verlag, Opladen 1990. Auch Julius H. Schoeps macht darauf
aufmerksam: “Die Haltung jüdischer Bürger gegenüber der DDR war nicht nur
individuell sehr unterschiedlich, zu differenzieren ist darüber hinaus zwischen
der Haltung derjenigen, die Mitglied in einer der acht Gemeinden waren, und der
wesentlich größeren Anzahl derer, die zwar ‘jüdischer Herkunft’ sind, sich aber
nicht mehr zur jüdischen Religionsgemeinschaft bekannten. Dieser Personenkreis
dürfte mindestens zehnmal größer gewesen sein als die Zahl der Gläubigen; in
Ost-Berlin standen beispielsweise den rund 180 Gemeindemitgliedern etwa 3.900
Personen gegenüber, die als Verfolgte des Naziregimes staatlich anerkannt
waren.” Siehe: Jüdisches Leben in Nachkriegsdeutschland – Von den Jahren
des Aufbaus bis zum Ende der Teilung, in: Jüdische Lebenswelten – Essays, Hrsg.
von A. Nachama, J.H. Schoeps, E. v. Voolen: Berliner Festspiele/Jüdischer
Verlag/Suhrkamp Verlag, 1991, S. 374 – Die Bibliographie des genannten
Aufsatzes enthält einige weitere Angaben über Autoren, die das Thema berühren.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[5]
Auch
in “westlicher” Literatur war die Einschränkung auf die Gemeinden
lange üblich – vgl. z.B. noch das Vorwort von Julius Schoeps zu dem bereits
zitierten Band von Siegfried Theodor Arndt u.a. In welchem Maß meine Geschichte
für die vieler anderer typisch ist, mag dagegen ein wenig der Band mit acht
Interviews erhellen, den ich unter dem Titel Zwischen Thora und Trabant – Juden
in der DDR, Reihe Texte zur Zeit, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1993
veröffentlicht habe.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[6]
Diesen
nicht zuletzt durch diese “Lösungen”, vor allem die
“Endlösung” belasteten Begriff möchten einige aus guten und
verständlichen Gründen ersetzen, z.B. durch “jüdische Frage” (andere
Sprachen haben das Glück, nur diese Adjektivform zu kennen). Ich folge ihnen
aus mehreren Gründen nicht, darunter folgenden: anders als z.B. die
“deutsche Frage” (die keine Deutschenfrage ist) war und ist die uns
interessierende keine primär jüdische, ja nicht einmal eine Frage der Juden,
sondern eine, bei der sie vor allem Gegenstand sind, wo vor allem die
Nichtjuden sich die “Frage” stellen – analog der Arbeiter- oder
Frauenfrage (das ließe sich heute durch Ausländerfrage etc. verlängern).
Arbeiter und Frauen und Ausländer verstehen sich nicht als Objekt einer Frage,
sondern wissen die Antwort, auch wenn sie viele, sogar konträre und
unvereinbare Formen annehmen kann: sie fordern ihre Emanzipation, das heißt sie
wollen als Gleichberechtigte und Geachtete in der Kollektivität leben, deren
Gesetze sie wie jedes andere ihrer Mitglieder zu achten bereit sind, ohne
Diskriminierung des Geschlechts, der Rasse, der Religion, der Weltanschauung,
und sie wollen in einer gerechten Weise entsprechend der Leistung für diese
Kollektivität an ihrem Reichtum teilhaben. Das besondere der
“Judenfrage” ist mit ihrer Entstehung zur Zeit der bürgerlichen
Revolutionen und der Herausbildung von Nationalstaaten verbunden, als die
verschiedenen Gruppen von Bürgern nicht mehr wie in der feudalen Gesellschaft
durch ihre Standeszugehörigkeit und ihre Religion einen festen (ungleichen, mit
vielen Diskriminierungen verbundenen) Platz in der Gesellschaft zugewiesen
bekamen, sondern sich als Staatsbürger (citoyen), vor dem Gesetz gleich, nur
noch durch Besitz und Verdienst unterschieden und sachliche – vor allem über
Geld vermittelte – Abhängigkeiten an die Stelle der feudalen persönlichen
Abhängigkeit trat. Für die Juden lag hierin einerseits eine große
Emanzipationsmöglichkeit, die Voraussetzung war, zur Entwicklung der
Gesellschaften, in denen sie lebten, beizutragen, andererseits fanden sie sich,
sofern sie nicht darauf verzichteten, sich als ein Volk mit eigener Religion,
Kultur, Sprache, Geschichte zu verstehen, als “Gast” ohne eigenen
Nationalstaat in fremden Nationalstaaten wieder. Besonders in Krisenzeiten und
in Gesellschaften, die den Übergang zur Moderne nicht oder nur halbherzig
vollzogen hatten (z.B. in Osteuropa) waren sie dann der unwillkommene Gast, der
als Fremdkörper willkommene Sündenbock, das vormoderne Skandalon innerhalb der
Moderne. Mit diesem “modernen” Konflikt entstand die
“Judenfrage” und der “moderne”, nicht religiös motivierte
Antisemitismus, der den vormodernen nicht ausschließt und mit ihm vielfältige
Verbindung eingehen kann

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[7]
Vgl.
dazu Enzo Traverso: Les juifs et l’Allemagne – de la “symbiose
judéo-allemande” á la mémoire d’Auschwitz, Editions la Dicouverte, Paris
1992.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[8]
Auch
wenn viele den jüdischen Teil ihrer Persönlichkeit verdrängten, schon deshalb,
weil sie die versprochene historische Perspektive für sich mit ihrem Eintritt
in die kommunistische Bewegung innerhalb dieser für verwirklicht hielten – in
den erwähnten Biographien im Band “Zwischen Thora und Trabant” wird
beides deutlich, dieser Zusammenhang und seine Verdrängung.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[9]
Vgl.
dazu u.a. Robert Misrahi: Marx et la question juive, Gallimard, Paris 1972 und
Edmund Silberner: Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und
Praxis des Kommunismus, Westdeutscher Verlag, Opladen 1983.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[11]
Jean-Paul
Sartre: Überlegungen zur Judenfrage, herausgegeben und aus dem Französischen
übersetzt von Vincent von Wroblewsky: Gesammelte Werke in Einzelausgaben –
Politische Schriften, Bd. 2, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1994, S.
36/37.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[12]
Julius
H. Schoeps: Jüdisches Leben in Nachkriegsdeutschland…, S. 373/374.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[13]
Bei
meinen acht Interview in “Zwischen Thora und Trabant” war ich
überrascht zu entdecken, daß mindestens die Hälfte der Interviewten bzw. ihre
Eltern entsprechende Erfahrungen gemacht hatten – bei der Auswahl der
Interviewpartner hatte dieser Aspekt keine Rolle gespielt .

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[14]
Vgl.
dazu Julius H. Schoeps im o.g. Artikel, S. 352: “Die meisten der
politischen Remigranten nach 1945 waren Kommunisten, die sich deshalb auch
dafür entschieden, in die Sowjetische Besatzungszone beziehungsweise in die
Deutsche Demokratische Republik zu gehen. Zu ihnen gehörten der Schriftsteller
Stefan Heym und der Literaturhistoriker Hans Mayer 1945, der spätere
Kulturminister der DDR Alexander Abusch, die späteren Mitglieder des
Zentralkomitees der SED Gerhard Eisler und Albert Norden sowie der
Literaturhistoriker Alfred Kantorowicz 1945, die Schriftstellerin Anna Seghers
1947, der Komponist Hanns Eisler und der Schriftsteller Arnold Zweig 1948, der
Philosoph Ernst Bloch 1949 und der Karikaturist John Heartfield 1950. Viele von
ihnen haben beim Aufbau der DDR eine wichtige Rolle gespielt.” Schoeps
verweist in diesem Zusammenhang auf den Aufsatz von Monika Richarz: “Juden
in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen
Republik”, in: Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945, Hg. von Micha
Brumlik et al.: Frankfurt am Main 1986. Siehe ferner Schoeps: S. 365 und S.
370, wo es heißt: “Im Nachkriegsdeutschland haben Juden beim Aufbau der
demokratischen Ordnung nur vereinzelt eine Rolle gespielt. In der Politik waren
Frauen und Männer jüdischer Herkunft wie Jeannette Wolff, Herbert Weichmann,
Josef Neuberger, Jakob Altmaier, Peter Blachstein oder Paul Hertz
Ausnahmen.” (Muß man darauf aufmerksam machen, daß in der im Westen
üblichen Weise hier Westdeutschland mit Deutschland schlechthin identifiziert
wird?)

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[15]
Antifaschisten
in führenden Positionen der DDR, Verlag Zeit im Bild, Dresden

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[16]
Harald
Kretzschmar: Ach ja: Unser jüdisches Erbe, in Neues Deutschland, 7./8. Januar
1995, S. 16.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[17]
Das
stimmt inzwischen nicht mehr ganz: Neben den erwähnten Interviews von Robin
Ostow und von mir veröffentlichte auch Wolfgang Herzberg Anfang der neunziger
Jahre einen dicken Band Interviews mit DDR-Juden beim Aufbau-Verlag Berlin.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[18]
Ein
eindringliches Beispiel berichtet Peter Fischer in dem Band “Zwischen
Thora und Trabant”.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[19]
In
einer schönen Erwiderung im “Monatsblatt des Jüdischen Kulturverein
Berlin”, “Jüdische Korrespondenz Nr. 2, Februar 1995, S. 1 hat Irene
Runge auf die besondere Tragik hingewiesen, die in dieser “Loslösung vom
Judentum” und in den entsprechenden Verdrängungen lag, und betont:
“Ein säkular-kulturelles Judentum hatte keine Chance. Das Jüdische wurde
auch zur Folklore, an der die Juden kaum mehr beteiligt waren.” Letzteres
konstatiert auch Y. Michal Bodemann in “A Reemergence of German Jewry”,
a.a.O.

E;mso-fareast-language:EN-US;
mso-bidi-language:AR-SA”>[20]
Vgl.
dazu als bisheriger Höhepunkt das Buch von John Sack: An Eye For an Eye. The
Untold Story of Jewish Revenge Against Germans in 1945. Basic Books, New York
1993, 252 S., das jetzt deutsch unter dem Titel “Auge um Auge. Opfer des
Holocaust als Täter. Eine Parabel über die Gewalt” bei Piper in München
erscheint. Siehe dazu die Besprechung von Eike Geisel: Die neuen “Opfer
der Opfer” in: Konkret, Heft 2, Februar 1995, S. 18-21, in der er u.a. die
Gemeinsamkeit mit der These Ernst Noltes zeigt, der gesagt hatte: “Der
rationale Kern des NS-Antisemitismus liegt in der inneren Affinität des
‘Judentums’ zu den bolschewistischen Ideen.” Zum Verständnis der
tatsächlichen heutigen Dimension von Gewalt und ihre Ursachen trägt dagegen
meiner Ansicht nach in bemerkenswerter Weise Gunnar Heinsohn mit “Warum Auschwitz?
Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt, rororo Aktuell 13626, Reinbek
bei Hamburg 1995, 217 S. bei. Vgl. die Besprechung von Sylke Tempel “Auf
der Suche nach Erklärungen für das Ungeheuerliche” in Der Tagesspiegel vom
23.1.1995, in der sie hervorhebt, daß Heinsohns Theorie lautet, mit den Juden
wollte Hitler die Ethik des Judentums beseitigen, deren Kerngedanke der Schutz
des Lebens ist, denn mit der Beseitigung der Juden, der “Erfinder des
Gewissens”, wollte Hitler das Recht auf Völkermord wiederherstellen. Sie
kommt zu dem Schluß, dieses Buch könnte und sollte eine Debatte provozieren,
die sich weit über das Niveau des Historikerstreits – in dem Nolte einer der
Hauptprotagonisten ist – heraushebt. Diese Debatte sollte die Frage
einschließen, ob Hitlers weitgehender Teilerfolg nicht mit der heutigen Gewalt
etwas zu tun hat.

Antisemitismus und Antizionismus in der österreichischen Linken

“Bestien in Menschengestalt”
Antisemitismus und Antizionismus in der österreichischen Linken
von Stephan Grigat
(Weg und Ziel, 2/1998)
Wer wissen wollte, ob an der Behauptung vom linken Antisemitismus etwas dran ist, konnte seit
Jahren auf eine immer umfangreicher werdende Literatur zurückgreifen. Zum Antisemitismus bei
den Frühsozialisten, in der europäischen Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts und zum
Verhältnis der marxistischen Klassiker zum Judentum liegen mittlerweile zahlreiche Studien vor.
Zum Antisemitismus in den Staaten des Realsozialismus ist ebenso geforscht worden wie zum
antisemitisch aufgeladenen Antizionismus der Neuen Linken in den meisten westeuropäischen
Ländern. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der österreichischen Linken nach 1945
befindet sich hingegen erst am Anfang.
Klassisches und Historisches
Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Linken schon immer zu den entschiedensten Gegnern
des Antisemitismus gehörte, läßt sich eine Tradition des linken Antisemitismus bis zum
Frühsozialismus zurückverfolgen. Von Blanqui bis Fourrier, von Saint-Simon über Proudhon bis
Bakunin kann von der Verharmlosung antisemitischer Ressentiments bis zu offen rassistischantisemitischen
Argumentationen alles nachgeweisen werden.1 Marx und Engels waren zwar
keineswegs wüste Antisemiten, wie in den einflußreichen Arbeiten Edmund Silberners mehrfach
behauptet wird,2 aber sowohl in den Marxschen Frühschriften als auch in zahlreichen Briefen von
Marx und Engels finden sich Formulierungen und Argumentationen, die ein verzerrtes Bild vom
Judentum zeichnen und auf antisemitische Klischees zurückgreifen. Die Interpretation des von
Marx 1844 veröffentlichten Textes “Zur Judenfrage” “as a call to eliminate Jews”3 beruht zwar auf
einem Mißverständnis der Marxschen Argumentation. Der Text lädt zu solchen Mißverständnissen
aber geradezu ein. Die frühe Kapitalismuskritik von Marx hat noch nicht jene Begriffsschärfe
entwickelt, wie wir sie aus der Marxschen Werttheorie kennen, und die nötig ist, um das
Umschlagen einer Ökonomiekritik in ein verfolgendes Ressentiment zu verunmöglichen oder
entscheidend zu erschweren.4
In der europäischen Arbeiterbewegung — insbesondere in der deutschen — ist Antisemitismus
immer wieder geleugnet, verharmlost oder entschuldigt worden. In den schlimmsten Fällen wurde
er — legitimiert als konsequenter Antikapitalismus — offen propagiert. Ruth Fischer, ZK-Mitglied
der deutschen KP, forderte 1923 in einer Rede: “Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die
Laterne, zertrampelt sie!”5
Als radikalste Form eines linken Antisemitismus können die stalinistischen Kampagnen gegen
Zionismus und Kosmopolitismus gelten.6 Die von Lenin geführte Oktoberrevolution hat den
russischen Juden — trotz struktureller Ähnlichkeiten der Leninschen Imperialismuskritik zum
Antisemitismus7 — zunächst zahlreiche Vorteile im Vergleich zur Zarenzeit gebracht. Mit Stalin
kam jedoch ein Mann an die Macht, der bereits im Kampf um Lenins Nachfolge Antisemitismus als
Mittel einsetzte. Für die spätere Entwicklung ist anzunehmen, daß Stalin sich von einem taktischen
zu einem überzeugten Antisemiten gewandelt hat, der am Ende seines Lebens eine gewaltsame
Umsiedlung der sowjetischen Juden in Erwägung zog. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte
die Sowjetunion für kurze Zeit das Projekt der israelischen Staatsgründung. Spätestens Ende der
vierziger Jahre wurde der Antizionismus jedoch zur offiziellen Staatsdoktrin — und zu einem
Element staatlicher Ideologie und Praxis, bei dem die Regierungen der SU, Polens oder auch der
DDR auf die Gefolgschaft ihres Staatsvolks rechnen konnten, wie sonst bei kaum einem anderen
Thema.
Während es bei Lenins Antizionismus, “in der Welt vor Auschwitz, als die Begriffe noch
stimmten”,8 hauptsächlich um organisationspolitische Fragen ging und der Zionismus als ein
Nationalismus neben vielen anderen abgelehnt wurde, bekämpfte der Antizionismus nach dem
Zweiten Weltkrieg den Zionismus als eine besondere Form des Nationalismus, die prinzipiell
illegitim sei und alle anderen Nationen bedrohe. In Osteuropa wurde diese Transformation durch
die stalinistischen Führungen vollzogen und auch nach der Entstalinisierung beibehalten. In
Westeuropa war der Antizionismus nach 1945 lange eine Domäne der äußeren Rechten. Mit
Ausnahme der dogmatischen, an der SU orientierten kommunistischen Parteien war die Linke
Westeuropas — insbesondere in der BRD — bis 1967 ausgesprochen positiv gegenüber Israel
eingestellt. Nach dem Sechs-Tage-Krieg änderte sich das schlagartig. Zum einen setzte eine linke
Kritik an der israelischen Regierungspolitk ein, die sich zu recht gegen den von konservativer Seite
sofort erhobenen pauschalisierenden Antisemitismus-Vorwurf zur Wehr setzte. Zum anderen
beginnt in dieser Zeit eine antizionistische Agitation, die eindeutige Affinitäten zum
Antisemitismus aufweist, und die bald fast in der gesamten Linken hegemonial werden sollte. Am
deutlichsten zeigte und zeigt sich das in der BRD.9 In der westdeutschen Linken lassen sich von der
linken Sozialdemokratie, den Grünen und Alternativen, feministischen Gruppierungen, K-Gruppen,
Autonomen und Antiimperialisten bis zu den bewaffneten Gruppen Äußerungen und Aktionen
finden, die jede Differenzierung zwischen Antizionismus und Antisemitismus überflüssig
erscheinen lassen. Klassische Beispiele dafür sind der Anschlag der “Tupamaros Westberlin”, einer
Vorläufergruppe der “Bewegung 2. Juni”, auf das jüdische Gemeindehaus in Westberlin 1969, die
Lobeshymnen der RAF und anderer linker Gruppen anläßlich der Ermordung israelischer Sportler
1972 in München, die vor Synagogen durchgeführten Demonstrationen gegen den Krieg Israels im
Libanon in den achtziger Jahren, die Wandparole aus der Hamburger Hafenstraße “Boykottiert
,Israel‘! Waren, Kibbuzim und Strände/ Palästina — das Volk wird dich befreien/ Revolution bis
zum Sieg”, in der zentrale Elemente des linken Antizionismus von der Delegitimierung Israels über
die Ignoranz gegenüber der nationalsozialistischen Judenverfolgung bis zur Begeisterung für Volk
und Lebensraum enthalten sind, oder jener legendäre “Grüne Kalender”, in dem gleich Klartext
gesprochen wurde, und die Herausgeber des Kalenders die Leser aufforderten, nicht bei Juden zu
kaufen. In Österreich findet sich Ähnliches, wenn auch in abgeschwächter Form.
Rote gegen Rothschild
Der Antisemitismus in der österreischischen Arbeiterbewegung der Ersten Rebublik ist im
Gegensatz zu der Zeit nach 1945 relativ gut erforscht.10 Der Vorwurf, eine Partei fungiere als
“Judenschutztruppe”, war in der Zwischenkriegszeit Allgemeingut und wurde von allen politischen
Lagern gegen die jeweiligen Konkurrenten erhoben. Als spezifische Form eines
sozialdemokratischen oder linken Antisemitismus kann hingegen die Agitation gegen den “reichen
Juden”, gegen die “jüdische Großbourgeoisie” und den “jüdischen Kapitalismus” gelten. In der
österreichischen Arbeiterbewegung der Ersten Republik war man stets bemüht, den Antisemitismus
der Massen zu bedienen, was sich unter anderem darin äußerte, daß die Personifikationen des
K
apitals auf den Plakaten der Wiener Sozialdemokratie nicht selten eine Physiognomie aufwiesen,
die Antisemiten für Juden reserviert haben. Daß die Rothschilds im Zentrum der Kritik der
Sozialdemokraten standen hatte nicht nur mit dem realen Einfluß der Bankiersfamilie zu tun,
sondern paßte auch hervorragend zu den strukturell antisemitischen Prämissen der grundsätzlichen
Kapitalismuskritik in der Arbeiterbewegung. Nicht ganz zufällig konnte sich der radikale Antisemit
Georg von Schönerer, der sich über Jahre mit demagogischen Angriffen gegen die Rotschilds
hervortat, gewisser Sympathien bei Teilen der Sozialdemokratie erfreuen.11
Die Agitation der Sozialdemokraten beschränkte sich aber keineswegs darauf, gegen die “jüdischen
Kapitalisten” zu wettern. Es gab ebenso massive Angriffe gegen das orthodoxe Judentum und gegen
die mehrheitlich zu den unterprivilegiertesten Schichten gehörenden Juden aus Osteuropa.12
Die KPÖ bzw. KPDÖ der Zwischenkriegszeit unterschied sich nicht maßgeblich von den
Sozialdemokraten. Die Vorstellung, “daß die Kommunisten die einzige Partei in Österreich blieben,
in der es niemals den kleinsten Anflug von Antisemitismus gegeben hat”, und daß die KPÖ
gegenüber “jeder, auch nur der kleinsten antisemitischen Anwandlung”13 immun gewesen sei,
blamiert sich bereits daran, daß die KPÖ in ihrer Propaganda gegen den Nationalsozialismus zwar
durchaus auf die Unsinnigkeit der Unterscheidung von schaffendem und raffendem Kapital
hingewiesen hat, aber zugleich versuchte, tiefsitzende Ressentiments zu bedienen, indem den Nazis
vorgeworfen wurde, sie würden den Kampf gegen das “jüdische Kapital” nicht ernsthaft genug
führen.14
KPÖ gegen DPs
Die KPÖ war eine der wichtigsten antifaschistischen Kräfte in Österreich. Die Annahme, daß sie
dadurch automatisch frei war von Antisemitismus, stimmt jedoch keineswegs. Auch wenn der
Antisemitismus in allen anderen österreichischen Parteien bedeutend stärker verbreitet war, agierten
bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch KPÖ-Funktionäre in einer Art und Weise, die
Antisemitismus ignorierte, antisemitische Ressentiments in der österreichischen Bevölkerung
forcierte und zum Teil selbst als antisemitisch bezeichnet werden muß.
1947 kam es in Bad Ischl wegen einer Streichung der Milchration für Kinder zu einer
Demonstration, die sich nicht in erster Linie gegen die für diese Maßnahme Verantwortlichen
richtete, sondern gegen die in der Stadt untergebrachten “Displaced Persons”. Im Verlauf der
Demonstration zog eine unter anderem von KP-Funktionären aufgepeitschte Menge zur
Unterbringung jüdischer DPs und skandierte dort nach Augenzeugenberichten Parolen wie “Schlagt
die Juden tot!”15 Wenige Tage danach wurden sechs Personen verhaftet und im darauf folgenden
Prozeß zu extrem hohen Strafen verurteilt, die später deutlich herabgesetzt wurden. Während der
Unterstützungskampagne für die Verhafteten bestärkte die KPÖ das ohnehin in der Bevölkerung
vorhandene Bild von den DPs — allen voran den jüdischen — als “Schleichhändler”, deren
Vergehen nicht geahndet, sondern im Gegenteil mit zusätzlichen Privilegien belohnt würden.
Obwohl die jüdischen DPs nicht mit österreichischen Steuergeldern finanziert wurden, stellte die
“Volksstimme” Berechnungen an, die den Österreichern aus der Nazi-Zeit durchaus bekannt
vorgekommen sein müssen: “600.000 DP kosten uns über 100 Millionen Schilling”, “460
Tageskalorien des Arbeiters essen die DP.”16
Auf Grund ihres engen Verhältnisses zur KPdSU begriff es die KPÖ in den fünfziger Jahren
offenbar als ihre Pflicht, der antizionistischen Propaganda in der Sowjetunion und in den anderen
Ostblockstaaten zu bescheinigen, daß sie absolut nichts mit Antisemitismus zu tun habe. Das ging
soweit, daß selbst noch die antisemitischen Schauprozesse in den fünfziger Jahren legitimiert
wurden. In der “Volksstimme” und in “Weg und Ziel” wurde das Vorgehen im Slansky-Prozeß in
der Tschechoslowakei verteidigt,17 bei dem elf der vierzehn Angeklagten, denen vom deklarierten
Antisemiten Major Smola eine “trotzkistisch-zionistisch-titoistische Verschwörung” vorgeworfen
wurde,18 Juden waren. Auch der sogenannte Ärztekomplott-Prozeß in der Sowjetunion, in dem
sechs Juden und drei weitere Angeklagte als “Agenten des Zionismus” wegen angeblicher Morde an
hohen Staats- und Parteifunktionären und wegen unterstellter Mordpläne gegen Stalin vor Gericht
standen, wurde gerechtfertigt. Die “Volksstimme” konnte damals in den Angeklagten keine Opfer
einer antisemitischen Kampagne erkennen, sondern erblickte in den Ärzten die Inkarnation des
Bösen: “Bestien in Menschengestalt”.19 Die Kampagne in der “Volksstimme” wurde zusätzlich
durch andere Formen der Öffentlichkeitsarbeit unterstützt.20
Als 1968 die massiven Aktionen gegen Juden in Polen begannen, gab es innerhalb der KPÖ heftige
Diskussionen über eine angemessene Reaktion. Mit über einem Jahr Verspätung führten diese dann
auch zu einer offiziellen Erklärung, in der die Besorgnis über die Ereignisse in Polen zum Ausdruck
gebracht und der Antisemitismus in der eigenen Partei thematisiert wurde. Zusätzlich wurde der
Nationalismus Israels und jener der Araber verurteilt.21 Bevor es zu dieser durchaus
bemerkenswerten Resolution kam veröffentlichte die “Volksstimme” allerdings die
Rechtfertigungsversuche der polnischen KP-Führung für ihr Vorgehen gegen Juden.22 Daß KPler
heute gerne darauf hinweisen, daß es in der Partei immer schon kritische Stimmen gegen den
Antisemitismus in Osteuropa und in der eigenen Partei gegeben hat, ist insofern bemerkenswert, als
es sich bei diesen kritischen Stimmen fast ausschließlich um Kommunisten handelte, die später aus
der KPÖ ausgetreten sind oder ausgeschlossen wurden.
Später sah die KPÖ nicht nur die Staaten des Realsozialismus Angriffen durch die scheinbar
weltumspannende zionistische Lobby ausgesetzt, sondern erblickte, passend zu ihrer nationalen
Orientierung, auch in Österreich das “Opfer einer zionistischen Kampagne”.23 Den Anlaß dafür bot
die internationale Kritik an der Entscheidung der damaligen österreichischen Bundesregierung, das
Durchgangslager für sowjetische Juden in Schönau zu schließen. Österreich hatte damals der Jewish
Agency Transitlager zur Verfügung gestellt, über die seit Beginn der siebziger Jahre zehntausende
Juden aus der Sowjetunion nach Israel ausreisen konnten. 1973 nahmen zwei Mitglieder der prosyrischen
Gruppe “Adler der palästinensischen Revolution” drei jüdische Emigranten und einen
Zöllner in Österreich als Geiseln und forderten die Beendigung der Einwanderung osteuropäischer
Juden nach Israel. Nach Verhandlungen mit der Kreisky-Administration kamen die Geiseln frei. Die
Gegenleistung der österreichischen Regierung bestand in der Schließung des Durchgangslagers
Schönau. Stößt ein Nachgeben gegenüber bewaffneten linken Gruppen in der Regel auf scharfe
Kritik, war die Begeisterung über die Schließung dieses Lagers in Österreich nahezu einhellig.24
Auch die KPÖ begrüßte das Ende der “zionistische(n) Menschenschmugglerzentrale”.25 Der
Kommunistische Bund Wien feierte die Erschwerung der jüdischen Emigration zwar als
Etappensieg, stieß sich aber an der angeblich fortbestehenden “protozionistischen Haltung der

< div>österreichischen Regierung”.26

Autonome gegen Israel
Seit 1968 forcierte die KPÖ ihre Kritik an Israel. Auch in den siebziger Jahren wurde ein
Zusammenhang zwischen Antizionismus und Antisemitismus völlig ausgeschlossen.27 Zunehmend
wichtig wurde seit dieser Zeit der Antizionismus der Neuen Linken. Seit Beginn der siebziger Jahre
wird von linken österreichischen und arabischen Gruppen vor allem an der Wiener Universität
Propaganda gegen Israel betrieben, die sich in einigen Punkten nur mehr marginal von den
zeitgleich verbreiteten Schriften rechter Gruppierungen unterscheidet. Der Kommunistische Bund
Wien betrieb eine spezifische Form linker Vergangenheitsbewältigung. Die Maoisten schrieben,
daß durch die israelische Repression “die gleichen Praktiken von den zionistischen Machthabern
gegen das palästinensische Volk”28 angewendet würden, wie sie die Nazis gegen die Juden
angewendet haben. Den Beweis für die Existenz von israelischen Lagern, in denen eine
bürokratisch organisierte und industriell betriebene Massenvernichtung von Menschen stattfindet,
blieben sie verständlicherweise schuldig.
In den achtziger Jahren führen die Aktivitäten von Linken und Grün-Alternativen mehrfach zu
Protesten in jüdischen Zeitschriften. Nachdem 1982 auf einer Demonstration die Parole “Begin ist
ein Nazi-Faschist!” gerufen wurde und 1983 in einem Demonstrationsaufruf der Alternativen Liste
Wien und der Gewerkschaftlichen Einheit vom “vorsätzlichen Genozid” an den Palästinensern die
Rede war, wurde die Linke von der “Gemeinde”, dem offiziellen Organ der Israelitischen
Kultusgemeinde, mit dem Vorwurf der Geschichtsentsorgung konfrontiert.29
Seit den neunziger Jahren wird ein antisemitisch aufgeladener Antizionismus in Österreich unter
anderem in einigen trotzkistischen Gruppen und vor allem von einer aus dem autonomen und
antiimperialistischen Milieu stammenden Gruppierung propagiert. 1990 führte die “autonome
Palästina-Gruppe” Interviews und Veranstaltungen mit dem völkisch-stalinistischen Antizionisten
Karam Khella durch, der in seinen Schriften die Ansicht vertritt, die Juden seien, solange sie am
Zionismus festhielten, selbst Schuld an ihrer Verfolgung. Bis heute werden Karam Khellas
Schriften auf zahlreichen Veranstaltungen von Palästina-Soligruppen verkauft.
Die Kritik an solchen Formen des Antizionismus blieb zumeist zaghaft. Die Redaktion des
autonom-umweltbewegten “Tatblatt” erkannte zwar den Antisemitismus bei Karam Khella und der
“autonomen Palästina-Gruppe”, schmetterte am Ende ihrer Stellungnahme dazu aber die Parole
“Boykottiert Waren aus Israel”30 heraus. Sie belegte damit nicht nur ihre historische Amnesie,
sondern dokumentierte auch, daß sie einer verkürzten, auch dem Antisemitismus — wenn auch mit
anderen Vorzeichen — nicht unbekannten Kapitalismuskritik anhängt, die glaubt, zwischen guten
und schlechten Waren und guten und schlechten Kapitalisten unterscheiden zu können.
Zahlreiche Versatzstücke eines antizionistischen Weltbildes finden sich bei der “Kampagne Tawfik
Ben Ahmed Chaovali”, die sich für die Freilassung des wegen eines Anschlags auf den El-Al-
Schalter im Wiener Flughafen inhaftierten Chaovali einsetzt. In einem Flugblatt verkündete die
Kampagne die atemberaubende Neuheit, daß Israel “seit Beginn seines Bestehens seine Existenz auf
Gewalt gegründet” hat. Dabei wird so getan, als wäre das eine Besonderheit des israelischen
Staates. Dieser massiven Kritik an Israel entspricht die völlige Abwesenheit einer grundsätzlichen
Staatskritik in antizionistischen Kreisen. Was man an Israel kritisiert — seine Staatsgewalt und
seine Nationswerdung inklusive der nationalen Mythen — wünscht man sich für die
palästinensischen Brüder und Schwestern. Staat und Nation sind im Bewußtsein der meisten
Antizionisten Erfüllungsgehilfen auf dem Weg zur Emanzipation — es sei denn, sie werden von
Juden in Anspruch genommen.
Die Flugblattschreiber wissen zwar von “Deportationen jüdischer Menschen aus Osteuropa und
Nazi-Deutschland nach Palästina” zu berichten, aber über die tatsächlichen Deportationen nach
Auschwitz und Treblinka schweigen sie sich aus. Mit ihrem Hinweis auf angebliche Deportationen
von Juden nach Palästina spielt die Kampagne auf einen Dauerbrenner antizionistischer Agitation
an: die angebliche Zusammenarbeit von Zionisten und Nazis, die nach Meinung einiger
Antizionisten bis in die Vernichtungslager hinein funktioniert habe. Zumeist beziehen sie sich dabei
auf das Haavara-Transferabkommen, das von den Nazis mit einigen Vertretern zionistischer
Organisationen geschlossen wurde. Es hatte aus zionistischer Sicht die Aufgabe, einen Teil des
jüdischen Vermögens aus Deutschland zu retten, wurde von zahlreichen Juden — auch von
zionistischen — heftig kritisiert und kann keineswegs als ein Beleg für eine Mittäterschaft
zionistischer Gruppen an den Verbrechen des Nationalsozialismus interpretiert werden.
Organisationen wie die “Zionistische Vereinigung für Deutschland” glaubten zwar, daß ihnen der
NS-Antisemitismus helfen könnte, ihre Positionen gegenüber den liberalen Juden Deutschlands
besser zu vertreten. Das bedeutet aber nicht, daß sie die NS-Herrschaft begrüßt hätten.31
Zum ständigen Hinweis auf eine angebliche Zusammenarbeit von Zionisten und Nazis paßt die
völlige Ignoranz der Antizionisten gegenüber den Sympathien, die zahlreiche Palästinenser für den
Nationalsozialismus empfunden haben. Ein deutliches Zeichen dieser Sympathie setzte der
Großmufti von Jerusalem el-Husseini, als er 1941 Hitler eine Visite abstattete und später mit
Eichmann die nationalsozialistischen Vernichtungslager begutachtete.32 Nach 1933 gab es in der
arabischen Welt zahlreiche Versuche, nationalsozialistische und faschistische Parteien zu
gründen.33
Die vermeintliche Kollaboration zwischen Nazis und Zionisten ist schon so ziemlich alles, was
radikale Antizionisten über die NS-Zeit mitzuteilen haben. Vom Antisemitismus, der sich laut einer
Broschüre der Kampagne gegen “Menschen jüdischen Glaubens”34 richtet, als hätte es sich bei der
Judenverfolgung und -vernichtung im 20. Jahrhundert um eine religiöse Auseinandersetzung
gehandelt, verstehen sie nichts. Über den Zionismus hingegen wissen sie scheinbar alles. Kein
Antizionist, der nicht sämtliche Zionisten-Kongresse seit Ende des 19. Jahrhunderts aufzählen und
auswendig aus der Balfour-Deklaration und Herzls “Judenstaat” zitieren kann. Eine Diskussion über
derartiges erübrigt sich. Der eigentliche Grund für die israelische Staatsgründung ist nicht in Basel,
sondern in Auschwitz zu finden. Auch wenn die zionistischen Gruppen in Palästina mit ihren
Aktivitäten bereits gezeigt hatten, daß das Projekt einer jüdischen Staatsgründung vielleicht
möglich ist, hat doch nichts so sehr wie der nationalsozialistische Vernichtungsantisemitismus
gezeigt, daß es auch nötig ist. Die ganze Perfidie antizionistischer Argumentation kommt zum
Vorschein, wenn die zentrale Rolle von Auschwitz zwar anerkannt, aber die Massenvernichtung
dann gerade deshalb als eine Art Koproduktion von Nazis und Zionisten dargestellt wird.
Bei all ihren Bemühungen geht es den linken Antizionisten in Österreich um dasselbe wie ihren
autonomen und antiimperialistischen Genossen und Genossinnen in der BRD und in anderen
L

Cowgirls: Unsere kleine Farm

von Jenny Mansch

Eine Ranch in den USA wird heute meist von einer Frau geleitet. Auf der Zapata-Ranch in Colorado haben sogar zwei die Hosen an.

Wie ein “Programmdirektor” sieht Asta Repenning wirklich nicht aus. Wenn die 25-Jährige frühmorgens am Steuer eines großen Pick-Up-Trucks samt Pferdeanhänger vor dem Haupthaus der Zapata Ranch vorfährt, wirbelt sie jede Menge Staub auf. Um acht Uhr ist sie bereits seit Stunden auf den Beinen. Sie ist ausgeritten und hat die Pferde eingesammelt und in die Ställe manövriert, die nachts draußen in der Prärie bleiben. Gefüttert, getränkt und gesattelt, schaukeln sie nun in dem Anhänger zur Arbeit, die Schlappohren der beiden Helferhunde auf dem Truck flattern im Wind.

Treibt Bisons, Rinder und Cowboys an: Asta Repenning bei der Arbeit

Zurück zur Natur

Die Zapata Ranch ist eine historische Ranch im San Luis Valley von Colorado, rund vier Autostunden von der Hauptstadt Denver entfernt. Die TV-Serie South Park spielt in dieser Gegend. 1860 kamen zunächst die Mexikaner und begannen, die von Ute-Indianern, Bisons und Rindern bevölkerte Gegend um die Ranch zu besiedeln. Doch schnell geriet man mit konkurrierenden Familien, die sich in der Schafszucht versuchten, in die Wolle. Über die Jahrzehnte gingen die Besitzverhältnisse hin und her, wie man es aus den Western kennt: Zäune wurden eingerissen, Wasserläufe manipuliert, Pistolen gezückt.

1989 machte schließlich ein japanischer Investor dem wilden Treiben im Westen ein Ende und kaufte die Ranch, um sie mit Restaurant und Golfplatz zu einer touristischen Edeladresse zu machen. Zum Glück kam Investor Hisa Ota eines Tages persönlich vorbei. Angesichts der durch seine Pläne ramponierten Schönheit der Natur schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. Bestürzt verkaufte er das Gebiet an die Nature Conservancy, eine gemeinnützige Naturschutzorganisation. Seit 2004 hat der erfahrene Rancher Duke Philipps nun die Aufgabe übernommen, die Ranch, zu der auch die benachbarte Medano-Ranch gehört, im Einklang mit der Natur zu führen. Als erstes schloss er das Restaurant und renaturierte den Golfplatz zum Weideland.

Alle auf der Farm haben ihr Wissen vom “Duke”, wie er hier heißt, aber die beiden Schwestern Asta und Tess schmeißen den Betrieb auf der Zapata-Ranch längst schon allein. Die Arbeitsteilung ist leicht zu erahnen. Asta sieht aus wie ein richtiger Cowboy und scheint mit Hut und Lederchaps auf die Welt gekommen zu sein. Sie plant alle Aktivitäten und Arbeitsabläufe auf der Ranch, daher der “Programmdirektor”, ist ansonsten aber draußen bei der Herde. Die aparte Schwester Tess ist fürs Marketing und die Verkäufe zuständig. Eine gute Entscheidung, denn der Cowboy an sich kriegt auch heute die Zähne nicht recht auseinander. Da hilft eher weibliches Verhandlungsgeschick und Eloquenz.

Winzige Cowboy-Gewerkschaft

Eine “Working Ranch” wie die Zapata-Farm kann sich heute kaum noch allein mit Viehtrieb und Bisonfleisch über Wasser halten. Schon 1893 stellte man fest, dass Ferien auf einer solchen Arbeitsranch überaus beliebt sind und eine weitere Einnahmequelle bedeuten. Seitdem haben viele ihre Scheunentore auch für Besucher geöffnet, die in die Arbeit mit den Rinder- und Bisonherden einbezogen werden wollen. Wer einmal versucht hat, ein Jungtier zum Branden auf den Boden zu werfen, der weiß am Abend, was er getan hat. “Es ist heutzutage schwer, gute Cowboys zu finden”, erzählt Asta. Vor allem junge Männer werden gesucht, die sich diesen einsamen Knochenjob zumuten wollen. Aber immer seltener gefunden. Es gibt nur noch geschätzte 3000 arbeitende Cowboys in denUSA, und bis heute sind es einsame Reiter, die gern allein und wortkarg ihrer Arbeit nachgehen. Dennoch existiert sogar eine winzige Cowboy-Gewerkschaft, die Working Ranch Cowboy Association. Sie unterstützt ihre Mitglieder vornehmlich bei der Finanzierung der Ausbildung ihrer Kinder.

Rund 2500 Bisons gehören zur Zapata-Ranch im Süden von Colorado. Während sie ihre Jungtiere hüten, nähert man sich besser vorsichtig

Eco-Farming

Umso mehr begeistert sich jemand wie Eileen Wolf für das Leben auf einer Ranch. Die 58-Jährige ist für eine Woche aus Minnesota hergekommen, um mehr über das Viehtreiben und das Branding der Jungtiere zu lernen. Es ist nicht ihr erster Aufenthalt auf einer Ranch. Im Laufe der Jahre hat sie schon einige besucht und hat immer noch Fragen. Sie ist nämlich auch Police Detective und hat erst letzte Woche nach monatelangen Ermittlungen 22 Scheckbetrüger verhaften müssen, die versucht hatten, Walmart übers Ohr zu hauen. Davon will sie sich hier erhole
n und klatscht erfreut in die Hände, als Asta ihr den Plan für den nächsten Tag zeigt: Kastrieren der Jungbullen. Das wollte sie schon immer mal machen!

Darüber kann der stille Chefkoch Mike nur den Kopf schütteln. Er war früher selbst Cowboy, bis er sich auf die Küchenkunst verlegte. Er bereitet das zarte Bio-Bisonfleisch zu, ein Produkt des Eco-Farmings auf der Ranch: Statt wenige Tiere unbegrenzte Zeit einen Weideabschnitt kahlknabbern zu lassen, kontrolliert und plant Asta genau, wie viele Tiere wann auf welchem Flecken grasen. Damit gönnen sie dem Land und den Pflanzen Ruhephasen, um sich nachhaltig zu erholen. Doch das sind die Tage am Schreibtisch, die dem robusten Cowgirl eher nicht liegen. Viel lieber ist ihr die Zeit draußen und der November, wenn die Bisonherde in die Halle eingetrieben wird. Hier wird der Bestand gezählt und sie entscheidet, welches Tier bleibt und welches in den Verkauf geht. ” Ein mächtiges Getöse”, erzählt sie, “immer nur ein Bison darf rein, die Cowboys schließen und öffnen die Klappen, damit man sie separiert reinlassen kann. Das klappt nur auf Zuruf, und hier drin wird’s richtig laut.” Zum Schluss klemmt die 1-Meter-60-Frau den Kopf eines riesigen Bisons ein und fuhrwerkt sachkundig in seinem Maul. So bestimmt sie Alter und Geschlecht und kann das zottige Tier seiner weiteren Bestimmung zuführen. Auch darüber entscheidet sie hier ganz allein.

 Quelle: ver.di PUBLIK 11, 2011

Wie die Hautfarbe zum Rassismus fand

Egon Flaig (Universitäts Greifswald, 2010)

Wie die Hautfarbe zum Rassismus fand 

Überlegungen zur kulturellen Genese eines Untermenschentums

Als 2001 die sogenannte Antirassismus-Konferenz in Durban intellektuell, moralisch und politisch entgleiste, wurde ersichtlich: Eine neue antirassistische Ideologie ist aufgekommen, die nicht mehr menschenrechtlich argumentiert, sondern antimenschenrechtlich, in den Konsequenzen selber jenen »kulturellen Rassismus« praktizierend, den sie zu verdammen vorgibt. Was zu erwarten war.

Als 2001 die sogenannte Antirassismus-Konferenz in Durban intellektuell, moralisch und politisch entgleiste, wurde ersichtlich: Eine neue antirassistische Ideologie ist aufgekommen, die nicht mehr menschenrechtlich argumentiert, sondern antimenschenrechtlich, in den Konsequenzen selber jenen »kulturellen Rassismus« praktizierend, den sie zu verdammen vorgibt. Was zu erwarten war.

Denn sobald das Wort »Rassismus« sich nicht mehr auf eine behauptete natürliche Minderwertigkeit anderer bezieht, sondern auf jegliche kulturell, religiös, sozial motivierte Aversion gegen andere, wird er ubiquitär und umfängt notwendigerweise auch diejenigen, die ihm gut-menschlich mit donquijotischer Lanze zu Leibe rücken. So wie in den neunziger Jahren sich an alles und jedes das Etikett »Antisemitismus« heften ließ, so lässt sich nun alles und jedes mit der Parole »Rassismus« bestempeln. Ein diskursives Symptom. Anscheinend gibt es keinen Antisemitismus mehr und auch keinen Rassismus mehr.

Genau das hatte Claude Levi-Strauss 1971 behauptet, anlässlich seines skandalösen Unesco-Vortrages Race et Culture: Der Rassismus sei tot, sei kein politisch-kulturelles Problem mehr; das eigentliche Problem seien Xenophobie und Ethnozentrismus. Sollte er recht behalten, dann wäre es an der Zeit, Rückbesinnung zu üben; und die kommt laut Hegel hinterher. Wenn es Abend geworden ist für ein Problem, dann überfliegt die analysierende Weisheit das kulturelle Trümmerfeld. Dennoch lohnt es, die Eulen bei ihrer Rückschau zu begleiten: So entkommt man jener Amnesie, die sich seit dem Triumph des »Antikolonialismus« in die intellektuellen Foren eingenistet hat. (1)

Levi-Strauss hat einen szientistischen – oder pseudowissenschaftlichen -Rassismus abgesondert von den allgegenwärtigen Mechanismen interkultureller Abstoßung. Ethnozentrismus und Xenophobie sind seiner Meinung nach unvermeidlich und notwendig für die Existenz einer jeden besonderen Kultur.

( 1 : Exemplarisch für solche Amnesie ist George L. Mosses Schrift Rassismus (1978): ”Europäischer Rassismus wurzelt in jenen intellektuellen Strömungen, die im 18. Jahrhundert sowohl in West- als auch in Mitteleuropa ihre Spuren hinterließen: in den neuen Wissenschaften der Aufklärung und in der pietistischen Wiedererweckung des Christentums. Darum muss man davon ausgehen, dass die Geschichte des europäischen Rassismus ihren Ursprung im 18. Jahrhundert hat – ganz gleich, welche Vorläufer man auch in früheren Epochen nachweisen kann.« Was Adorno einst zur Halbbildung anmerkte, wird hier überboten von der Arroganz, mit der das Unwissen zu Werke geht. Um über dieses Thema zu schreiben, ohne einen blassen Schimmer zu haben von den jahrhundertelangen Diskussionen um die natürliche Gleichheit oder Ungleichheit, dazu bedarf es einer geistigen Kühnheit, zu der normale Gelehrte sich nicht mehr aufschwingen können.)

Der szientistische Rassismus sei hingegen eine Verirrung. Indes, ist der Schnitt, den der große Anthropologe gesetzt hat, logisch haltbar und ideengeschichtlich nachweisbar? Besteht nicht ein Zusammenhang zwischen der Neigung der meisten Kulturen, anderen das volle Menschsein abzusprechen und der Annahme, bestimmte Menschen seien minderwertig von Natur?

Levi-Strauss hielt es für normal, daß man den anderen das Menschsein absprechen könne; doch der einzige Grund, der dies bewirke, soll die gegenseitige Abstoßung von Kulturen sein. Wenn diese Vorstellung, wonach die anderen keine vollwertigen Menschen seien, jedoch auftreten kann, ohne sich auf feindliche Abstoßung zurückführen zu lassen? Wenn sie etwa aus übergroßer sozialer, politischer und kultureller Überlegenheit herrührte? Nun war Levi-Strauss keineswegs blind dafür, daß eine krasse kulturelle und politische Asymmetrie zwischen Völkern oder Kulturen bei den Überlegenen den Eindruck erzeugt, die anderen seien »minderwertig«; doch er erachtete dies als ein temporäres Phänomen: Es würde verschwinden, sobald die westliche Dominanz nachließe. Was Levi-Strauss aus allen seinen Überlegungen ausschloss, war die Möglichkeit, daß es radikale Asymmetrien innerhalb ein und derselben Gesellschaft geben könnte.

Angenommen es gebe ein soziales Verhältnis zwischen menschlichen Gruppen, welches dermaßen asymmetrisch ist und so erhebliche Differenzen schafft, daß die Differenzen sich auf keinem Gebiet mehr kompensieren lassen: Dann müßte unweigerlich die Vorstellung hochsteigen, die Unterlegenen seien von Natur minderwertige Menschen, quasi einer anderen Gattung zugehörig. Ein solches Verhältnis hat allerdings jahrtausendelang existiert; es ist die Sklaverei. Claude Meillassoux und Orlando Patterson halten diese Formen des Rassismus für überall dort nachweisbar, wo die Sklaverei
die Gesellschaft unwiderruflich in zwei Teile spaltet. (2)

Beide zeigen, daß in unterschiedlichsten sklavistischen Gesellschaften die freien Herren über ihre Sklaven in Ausdrücken reden, die den Sklaven das Menschsein überhaupt verweigern – Sklaven als »lebende Güter« oder »sprechende Herde« – oder sie zu einer differenten, minderwertigen Rasse machen, zu Untermenschen.

Insbesondere in Afrika geschieht das, wo die nomadischen Versklaverethnien des Sahelgürtels noch dieselbe Verachtung gegen ihre ehemaligen Opfer bekunden wie ehedem; aber auch anderswo. Tritt das Konzept des Untermenschen auf, dann mit höchster Wahrscheinlichkeit in sklavistischen Gesellschaften, weil kein größerer sozialer Unterschied denkbar ist als der zwischen Freien und Sklaven. Doch die Sklaverei selber bringt keinen epistemisch organisierten Rassismus hervor, andernfalls hätte er überall entstehen müssen; denn sklavistische Gesellschaften gab es, wie Patterson uns lehrt, mehrere hundert. Also: Wo wird das Konzept des Untermenschen in eine wissenschaftliche Form gebracht?

(2) Claude Meillassoux, Anthropologie der Sklaverei. Frankfurt: Campus 1989; Orlando Patterson, Slavery and Social Death. Cambridge: Harvard University Press 19)

Der »Sklave von Natur« ohne Hautfarbe

Sobald die Vorstellung, die »anderen« seien minderwertig, in einen logisch strukturierten Begriff überführt wird, ist etwas Entscheidendes passiert: Der Rassismus ist konzeptuell geworden, und argumentationstauglich. Und dann vermag man menschliche Gruppen konzeptuell zu konstruieren, die von Natur aus minderwertig sind. Die Voraussetzung dafür ist theoretisch verfasstes Denken. Solches Denken ist voraussetzungsreich; es hat sich nur in zwei Kulturen der Menschheit originär herausgebildet – genau in denen, in denen auch die Mathematik entstanden ist: Griechenland und Indien. Es darf nicht verwundern, dass wir erstmalig in der griechischen Kultur einen kohärenten Rassismus mit systematischer Begründung vorfinden, nämlich bei Platon und Aristoteles und deren Konzeption des »Sklaven von Natur«. Denn erstmals bei den Griechen findet sich eine Philosophie sensu stricto und damit die Möglichkeit, ganze Wissensgebiete logisch kohärent zu systematisieren.

Die weitaus meisten griechischen Texte begründen die Sklaverei nicht mit einer naturgegebenen Minderwertigkeit, sondern mit dem Schicksal. Wie alle anderen Kulturen waren auch die Griechen nicht frei von ethnozentrischen Vorstellungen; wenn sie die anderen »Barbaren« nannten, dann schwang darin manchmal ein Anspruch auf kulturelle Überlegenheit mit, manchmal nicht; doch eine naturgegebene Über- und Unterordnung bezeichnet der Begriff als solcher nicht. Einige wenige Autoren behaupten sogar, Sklaverei schulde sich der menschlichen Ungerechtigkeit; damit liefern sie die frühesten Belege für das zentrale Argument des späteren Kampfes gegen die Sklaverei. Selbstredend tauchte auch bei den Griechen jene Vorstellung auf, die sich in vielen sklavistischen Gesellschaften findet, wonach Sklaven naturgewollt minderwertig seien.

Für diese Vorstellung lieferte Aristoteles in seiner Politik eine quasi-wissenschaftliche Erklärung: Der fundamentale Unterschied zwischen dem Freien und dem Sklaven bestehe darin, dass Letzterem die planende Vernunft fehle. Da Freie und Sklaven aufeinander angewiesen seien, nütze die Sklaverei beiden; ein komplementärer Nutzen verbinde beide: »Was mit dem Verstand weitblickend fürsorgen kann, herrscht von Natur, es gebietet despotisch von Natur, was aber mit dem Körper arbeiten kann, ist beherrscht, ist von Natur Sklave … Von Natur ist also jener ein Sklave, der einem anderen zu gehören vermag und ihm darum auch gehört, und der so weit an der Vernunft teilhat, dass er sie annimmt, aber nicht selbständig besitzt. Die anderen Lebewesen dienen so, dass sie nicht die Vernunft annehmen, sondern nur ihren Empfindungen gehorchen. Doch ihre Verwendung ist nur wenig verschieden: denn beide helfen dazu, mit ihrer körperlichen Arbeit das Notwendige zu beschaffen, die Sklaven wie die zahmen Tiere«.

Dieser philosophische Rassismus blieb in der gesamten Antike minoritär, verschwand aber nicht. Seine Wirkung entfaltete er später und anderswo. Aristoteles versuchte, Sklaven von Natur ethnisch zuzuordnen; hierfür griff er zu einer klimatisch begründeten Umwelttheorie: »Die Völker der kalten Regionen nämlich und jene in Europa sind voller Mut, aber ihnen mangelt es an Intelligenz und Kunstfertigkeit. Daher bleiben sie verhältnismäßig frei, doch ohne staatliche Organisation und ohne ihre Nachbarn beherrschen zu können. Die Völker Asiens hingegen sind ihrem seelischen Vermögen nach intelligent und kunstfertig, jedoch mutlos; deswegen bleiben sie Untertanen und Sklaven. Das griechische Volk hat an beiden Charakteren Anteil, wie es auch die geographisch mittlere Lage einnimmt; denn es ist mutig und intelligent. So ist es frei, hat die beste Staatsverfassung und die Fähigkeit, über alle zu herrschen«.

Demnach können weder die Nordeuropäer Sklaven von Natur sein noch die Asiaten. Erstere sind mutig genug, um sich nicht versklaven zu lassen. Letzteren mangelt es nicht an Vernunft, statt Sklaven können sie sehr wohl freie Untertanen sein; zudem befinden sie sich in derselben Klimazone wie die Griechen. Aristoteles hätte, um konsequent zu bleiben, eine südlich Griechenlands gelegene Klimazone ausfindig machen und die dortigen Bewohner als Kandidaten für die Sklaverei ins Auge fassen müssen. Doch davor hütet er sich wohl aus Gründen der Plausibilität; aus jener Weltgegend, Afrika, bezogen die antiken Kulturen praktisch keine Sklaven.

Klimatheoretisch vermag Aristoteles zwar, die »Herren von Natur« zu konstruieren, aber nicht die »Sklaven von Natur«. Ferner bleibt bei dieser Theorie unklar, ob die klimatisch erzeugten Eigenschaften sich dauerhaft einprägen ins Erbgut der Menschen oder ob diese sich verwandeln können, falls sie ihre Klimazone verlassen. Die hellenistischen Geographen sind sich darüber nicht einig. Und sämtliche römischen Denker lehnten das aristotelische Konzept des Sklaven von Natur ab. Das römische Recht ist radikal antirassistisch, denn es erklärt wohl ein Dutzend Mal: »omnes homines iure naturali
aequales et liberi sunt« – alle Menschen sind nach dem Recht der Natur gleich und frei.

Rassismus bei Aristoteles wohl, aber wo bleibt die Hautfarbe? Rassismus, das kann nicht oft genug wiederholt werden, hat mit der Hautfarbe nichts zu tun. Ein Beispiel möge genügen. Als der chinesische Kaiser Kno-li Chi-su um 1300 seinen Willen kundtat, das System der Sklaverei zu reformieren, protestierte der koreanische König Chungnyol: »Unsere Ahnen haben uns gelehrt, dass diese sklavischen Wesen einer anderen Rasse angehören und es ihnen daher unmöglich ist, normale Menschen zu werden. Der Lehre unserer Vorfahren zuwiderhandeln hieße, unsere soziale Ordnung gefährden.«

Korea war ein Jahrtausend lang eine bedeutende sklavistische Gesellschaft mit einer enormen Quote von Sklaven, oft um 30 Prozent, also erheblich mehr als in der griechisch-römischen Antike. Die versklavten Menschen waren allesamt Koreaner. Doch der Herrscher sah sie nicht als solche, sondern als Angehörige einer fremden Rasse (Levi-Strauss hätte wohl kommentiert: eine normale »Abwertung des Menschen« – hier nicht zwischen Ethnien, sondern zwischen sozialen Gruppen). Doch der König sagt ausdrücklich, die Angehörigen dieser fremden Rasse seien unfähig, sich als Vollmitglieder der menschlichen Gesellschaft zu bewähren. Sie sind in seinen Augen dauerhaft und von Natur aus minderwertig, also buchstäblich Untermenschen.

Aussage liegt ganz nah beim Konzept des Aristoteles; Letzteres ist lediglich epistemisch verfaßt, Erstere nicht. Der koreanische König hatte Aristoteles nicht gelesen, ebenso wenig wie die Fulbe oder die Peul in Westafrika jemals Aristoteles gelesen hatten – ihre rassistischen Vorstellungen ergeben sich direkt aus ihren sklavistischen Systemen.

Rassismus kommt also völlig ohne Hautfarbe aus. Wie kommt die Hautfarbe ins Spiel? Ein Panoramablick ist nötig, um zunächst festzuhalten, wo die Hautfarbe keinerlei Markierung für die Höhe des Menschseins abgibt.

Nicht bei den Ägyptern. Dabei differenzieren die ägyptischen Wandmalereien und Reliefs genau die Farbtönungen der Menschen unterschiedlichster Herkunft und achten auf deren »rassische« Merkmale; doch die Bilder zeigen keinerlei Minderwertigkeit an.

Nicht bei den Griechen. Die Griechen wussten Bescheid über die Existenz von Schwarzafrikanern, welche sie »Äthiopier« nannten; doch diese galten in keiner Beziehung als minderwertig. Im Gegenteil: Homer rühmt die »edlen Äthiopier«, Aischylos betont die Einheit der Menschheit trotz verschiedener Hautfarbe, indem er dunkelhäutige Ägypterinnen als Verwandte der griechischen Stadt Argos auf die Bühne bringt. Dichtern und Historiographen galten die Äthiopier als gerecht und weise. Das nubische Reich um Meroe am oberen Nil war in hellenistischer Zeit sagenumrankt wegen seiner militärischen Stärke und wegen der Erfindungen, die man ihm zuschrieb. Die bildende Kunst der Griechen stellt bis in die späteste Zeit die Dunkelhäutigen als ebenbürtige Menschen dar. (3)

Nicht bei den Römern. Das römische Recht beruht auf dem Prinzip, alle Menschen seien von Natur aus gleich und frei, was jeglichen Rassismus ausschließt. Auch die Schriftsteller – obwohl interessiert an Hautfarbe als einem anthropologischen Merkmal – bewerten die Hautfarbe nicht politisch. Ob man Dunkelhäutige oder Rothaarige als von Natur aus differente Menschen wahrnahm, bemaß sich daran, welche soziale Position Schwarze oder Germanen im Hellenismus und im Römischen Reich einnahmen. In der Tat tauchten Schwarze in allen erdenklichen Berufen auf, insbesondere in Ägypten, wo sie in großen Mengen anzutreffen waren. Gewiss gab es auch schwarze Sklaven; aber die meisten Sklaven waren »weiß«, und die allermeisten Schwarzen im Römischen Reich waren frei. Dieser Umstand gab den Ausschlag für die alltägliche Wahrnehmung.

Wird in der klassischen Antike die Hautfarbe überhaupt ein Thema? Ja, aber nur in sehr spezialisierten Diskursen. Viele griechische Mediziner und Geographen glaubten, ihre »rote« Hautfarbe sei die Norm und verdanke sich einem mittleren Klima, hingegen seien Kelten und Germanen in der nördlichen Kälte weiß geworden, und ein zu warmes Klima habe die Ägypter und Mauretanier braun gemacht, die Nubier, Äthiopier und Inder sogar schwarz. Diese Farbskala zeigte eine Abweichung an, aber keine Minderwertigkeit.

(3) Vgl. Frank M. Snowden, Jr., Before Colour Prejudice. The Ancient View of Blacks. Cambridge: Harvard University Press 1989; Benjamin Isaac, The Invention of Racism in Classical Antiquity. Princeton: Princeton University Press 2004)

Rothaarige Germanen wirkten ebenso »fremd« wie Nubier. Einige hellenistische Geographen, so etwa Strabo, lehnten die Klimazonentheorie ab; und alle hüteten sich davor, eine Verbindung von Hautfarbe und moralischen Qualitäten herzustellen – aus guten Gründen: geschult in politischer Philosophie, nahmen sie an, dass die moralischen Eigenschaften der Menschen in allererster Linie vom »nomos«, von den Gesetzen einer Gesellschaft abhingen.

Wenn nicht in der Antike, wo dann ist der Hautfarbenrassismus historisch entstanden? Brave Antirassisten umgehen diese Frage geflissentlich. Mehr noch: Die meisten wollen die Antwort nicht hören. Unsere Eule fliegt trotzdem ins tabuisierte Dunkel.

Ein unterschätzter Beitrag zum Weltkulturerbe: Hautfarbenrassismus

Im gesamten ostmittelmeerisch-vorderasiatischen Bereich, über Griechen, Juden, Ägypter und Syrer wirkte eine ästhetische Tendenz, die dunkle Hautfarbe für »weniger schön«, »weniger edel« zu halten, insbesondere bei Frauen.’ Dennoch preisen eine stattliche Menge von griechischen Dichtungen die Äthiopier als die schönsten Menschen; denn weder die
kosmische – Licht gegen Dunkelheit – noch die ästhetische Opposition war konnotiert mit einer moralischen oder geistigen Minderwertigkeit. Ästhetische Vorzüge divergierten innerhalb ein und derselben Kultur; sie implizierten keinerlei Abwertung der betreffenden Menschen, genauso wenig wie das heute der Fall ist.

Es ist demnach streng zu unterscheiden zwischen der kosmischen und moralischen Qualifikation von Farben und der Zuweisung moralischer Qualitäten an »farbige« Menschen. Die strukturalistische Oppositionskette von schwarz/weiß, Nacht/Tag, Teufel/Engel, böse/gut, unrein/rein: Diese Oppositionskette war einer der stupidesten Einfälle, auf welche Wissenschaftler verfielen; denn sie stimmt nirgendwo und nirgendwann. Selbst wenn sich sporadische Konnotationen finden, ist es noch ein weiter Weg bis zum Rassismus, das heißt bis zur Behauptung einer biologischen Minderwertigkeit ganzer Menschengruppen. Wo also finden sich die ältesten Texte des Hautfarbenrassismus?

Zunächst bei den arabischen Geographen. (5)  Ein Anonymus aus dem Irak (um 902) führt die Entstehung von defizienten »Rassen« auf das Klima zurück; in der kalten Klimazone erleide der Fötus schon im Mutterleib schwere Schäden und werde zu einem defizienten Menschen; in der heißen Klimazone hingegen würden die Kinder im Mutterleib zu lange »gekocht«, »so dass das Kind zwischen schwarz und dunkel gerät, zwischen übelriechend und stinkend, kraushaarig, mit unebenmäßigen Gliedern, mangelhaftem Verstand und verkommenen Leidenschaften, wie etwa die Zanj, die Äthiopier und andere Schwarze, die ihnen ähneln.«

(4) Vgl. David M. Goldenberg, The Curse of Ham. Race and Slavery in Early Judaism, Christianity, and Islam. Princeton: Princeton University Press 2003.

(5) Die nachfolgenden Zitate sind entnommen aus Bernard Lewis, Race and Slavery in the Middle East (Oxford: Oxford University Press 1992) und aus Ronald Segal, Islam’s Black Slaves. The Other Black Diaspora (New York: Farrar Straus Giroux 2001).

Eine persische Abhandlung (982) behauptet: »Was die Länder des Südens angeht, so sind alle ihre Einwohner schwarz … Es sind Leute, die dem Maßstab des Menschseins nicht genügen.« Desgleichen notiert der Geograph Maqdisi im 10. Jahrhundert über Schwarzafrikaner: »Es gibt bei ihnen keine Ehen; das Kind kennt seinen Vater nicht; und sie essen Menschen … Was die Zanj angeht, so sind es Menschen von schwarzer Farbe, flachen Nasen … und geringem Verstand oder Intelligenz.« Bernard Lewis hat darauf hingewiesen, dass wir es hier zumeist nicht mit einem dichotomischen Rassismus (schwarz-weiß) zu tun haben, sondern mit einem trichotomischen: Zwei minderwertige Rassen (schwarz und weiß), beheimatet in den extremen Klimazonen, stehen einer hochwertigen (rot oder hellbraun) in der mittleren Zone gegenüber. Demgemäß gelten auch Türken, Slawen und Chinesen als weiße und daher minderwertige Rassen.

Die arabische Philosophie übernahm diesen hautfarblichen Rassismus. Der große Avicenna (gestorben 1037), in dessen Namen heute in Deutschland Preise vergeben werden, behauptet umstandslos: Extremes Klima produziert »Sklaven von Natur«, »denn es muss Herren und Sklaven geben«; »Türken und Schwarze« sind »Sklaven von Natur«. Im Liber Canonis, einer Schrift, die für das Studium der Medizin an abendländischen Universitäten wichtig wurde, wiederholt er, die Schwarzafrikaner seien intellektuell minderwertig.

Auch im islamischen Spanien grassierte diese Rassentheorie: Sa’id al-Andalusi (gestorben 1070) lehrt eine klimatologisch begründete Minderwertigkeit der Schwarzafrikaner: »Der lange Aufenthalt der Sonne am Zenith macht die Luft heiß und die Atmosphäre dünn. Daher wird ihr Temperament heiß, ihr Gemüt feurig, ihre Farbe schwarz und ihr Haar wollig. Also fehlt ihnen Selbstkontrolle und Beständigkeit des Geistes; darum werden sie von Launigkeit, Dummheit und Ignoranz überwältigt. So sind die Schwarzen, welche an den Grenzen des Landes Äthiopien leben, ferner die Nubier, die Zanj und ähnliche.«

Anders als bei den hellenistischen Geographen scheint nicht darüber gestritten worden zu sein, ob klimatisch erworbene Eigenschaften sich verlieren, sobald die betreffenden Menschen die ungünstige Klimazone verlassen oder ob sich die klimatologisch bedingten charakterlichen Merkmale in die »Natur« der betreffenden menschlichen Gruppen unauslöschlich eingeschrieben haben, so dass sie vererbt werden, egal wohin die Menschen gehen. Hätten die Korangelehrten nicht dagegen aufbegehren müssen?

Die islamische Orthodoxie, nicht anders als die jüdische und die christliche, war antirassistisch, hatte die natürliche Gleichheit der Menschen zum Axiom – ebenso wie das römische Recht. Sklaverei ist eine Strafe für den Unglauben, so lautet unisono die Lehre der islamischen Kleriker; Sklaverei ist nicht Folge von rassischer Minderwertigkeit. Aber die arabische Philosophie hielt noch bis in ihre späteste Zeit dagegen. So lesen wir beim großen Gelehrten Ibn Khaldun (1332-1406): »Daher sind in der Regel die schwarzen Völker der Sklaverei unterwürfig, denn sie haben wenig Menschliches und haben Eigenschaften, die ganz ähnlich denen von stummen Tieren sind, wie wir festgestellt haben.«

Und wie sieht es mit den großen jüdischen Gelehrten in der islamischen Welt aus? Dieser Punkt ist noch nicht hinlänglich erforscht. Aber klar liegt der Fall beim jüdischen Philosophen Moses Maimonides (gestorben 1204) aus Cordoba. Selbst bei ihm finden wir den klassischen hautfarblichen Rassismus vor. Er schreibt in seinem Hauptwerk Führer der Unschlüssigen: »Einige von den Türken und die Nomaden im Norden, und die Schwarzen sowie die Nomaden im Süden ebenso wie jene, die in unseren Klimazonen jenen ähneln: … ihre Natur ist wie die Natur der stummen Tiere und … sie sind nicht auf dem Stand von menschlichen Wesen, und ihr Stand inmitten von allem Seienden ist unterhalb des Menschen und oberhalb des Affen«. Maimonides war hochgebildet, er schrieb arabisch und dachte in den Begriffen der hellenistisch-arabischen Philosophie. Er wußte, was er schrieb.

Und wie sieht es mit den nichtsunnitischen Gelehrten aus? Im schiitischen Islam finden sich Texte, die laut Bernard Lewis denselben Befund zeigen, nämlich einen trichotomischen Rassismus. Nun erwartet man, dass chiliastische islamische Strömungen eigentlich frei sein müssten von hautfarblichem Rassismus, ja von Rassismus überhaupt. Bei den Ismailiten müsste man es geradezu postulieren. Doch der große Gelehrte Hamid-al-Din al-Kirmani (gestorben 1021), der in Kairo die ismailitische Missionierung betrieb, schrieb, die Türken seien intellektuell minderwertig, ebenso die Schwarzen und die Berber.

Fassen wir zusammen: Die arabische Wissenschaft konstruierte ein Untermenschentum auf hautfarblicher Basis. Auch hier tut Rückbesinnung not: Hat nicht Ernst Bloch einst Avicenna und andere arabische Philosophen samt Maimonides als »aristotelische Linke« bejubelt? Hat er nicht ihre naturwissenschaftliche und medizinische Ausrichtung als »materialistisch« gepriesen, um sie der »aristotelischen Rechten« entgegenzustellen? Nämlich der westlichen Scholastik, welche in idealistischen Gespinsten befangen geblieben sei? Hätte er die Texte gelesen mit jener Aufmerksamkeit, die Alarm gibt, sobald eine natürliche Ungleichheit zwischen Menschengruppen behauptet wird, dann wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass sich bei den Autoren der »aristotelischen Rechten« erst sehr spät der aristotelische Rassismus einfindet – erst Sepulveda schöpft daraus seine Argumente in der Kontroverse mit Las Casas. Und gewiss wäre Bloch aufgefallen, dass in der »aristotelischen Linken« der Rassismus gängige Münze war und nicht die Geringsten ihrer Vertreter dem brutalsten Hautfarbenrassismus huldigten. Doch dem Verteidiger der Moskauer Schauprozesse entging auch dies.

Die arabische wissenschaftliche Kultur vom 9. bis 12. Jahrhundert lässt sich mit guten Gründen als eine zweite hellenistische Renaissance bezeichnen, nach jener ersten im Imperium Romanum des 2. Jahrhunderts nach Christus. Die arabischen Autoren kombinierten, was Aristoteles auch schon getan hatte, Klimazonen mit geistigen und moralischen Fähigkeiten. Freilich hatte der Grieche die Hautfarbe ignoriert, wohingegen die

Autoren elaborierte ethnische Charakterologien klimatheoretisch mit der Hautfarbe verbanden. Sie gebrauchten »schwarz« und »rot« und »weiß« als farbliche Merkmale, um ganze Ethnien zu klassifizieren, was, wie Bernard Lewis bemerkte, eine ethnographische Innovation darstellte. Damit schufen sie eine neue »wissenschaftliche« Rassenlehre. Der Hautfarbenrassismus ist eine arabische Erfindung, Lewis hat sie ausgiebig dokumentiert. In der Tat benutzten die arabischen Gelehrten das hellenistische Erbe recht kreativ: Sie beschenkten die Menschheit mit dem Hautfarbenrassismus. Das Weltkulturerbe verdankt der arabischen Kultur eine folgenreiche Errungenschaft, was zu Unrecht vergessen wurde.

Und die europäische Kultur? Sie war in dieser Frage wenig kreativ, blieb einfallslos, träge und rezeptiv. Erst fünf Jahrhunderte später gelangte der klimatheoretisch begründete »szientistische« Hautfarbenrassismus zu den Europäern; seine Elemente bleiben zunächst arabisch, was auf die vielen Übersetzungen und vor allem den Einfluß von Avicennas medizinischen Schriften zurückzuführen ist. Der Hautfarbenrassismus wurde importiert im Gefolge der portugiesischen Einfuhr von Sklaven aus Senegambien und Guinea. Obwohl von Anfang an bekämpft, verstärkt er sich, als im Laufe des 17. Jahrhunderts die von Westeuropäern betriebene Sklaverei fast gänzlich schwarz wird. Ab dieser Epoche entfaltete er eine europäische Eigendynamik, welche im 19. Jahrhundert neue Theoreme zeitigte, indem sich Rassenhygiene mit Eugenik kreuzte; doch dabei nahm die Bedeutung der Hautfarbe signifikant ab.

Die erste Textflut, in denen die Schwarzen als minderwertig vorkommen, entströmt der arabisch-islamischen Kultur. Man mag einwenden, dass die meisten arabischen Autoren keine Hautfarbenrassisten waren. Richtig. Die allermeisten europäischen Autoren der Neuzeit waren ebenfalls keine Rassisten. Doch das ist hier gleichgültig. Für eine Geschichte des politischen Denkens ist es von entscheidender Bedeutung, in welcher Kultur welches diskursive Konstrukt erstmals aufkam, wie es sich logisch strukturierte, auf welche Wissensgebiete es sich auswirkte und welche sozialen Dispositive ihm Plausibilität und Gebrauchswert verschafften.

Leider handelte sich nicht bloß um einen »wissenschaftlichen« Diskurs von Philosophen und Geographen der großen islamischen Klassik. Schon Jahrhunderte zuvor findet sich in der arabischen Dichtung eine bemerkenswerte Verachtung der Schwarzen. Der Dichter Suhaym, ein schwarzer Freigelassener (gestorben 660), beklagt sich in einem Gedicht: »Wäre meine Farbe rosa, so würden mich die Frauen lieben, / Doch Gott hat mich mit Schwarzheit beschädigt«. Der schwarze Poet wertet seine Hautfarbe ab. Auf den ersten Blick könnte er eine erotische Aversion meinen, galt doch die dunkle Färbung der Haut – wie David Goldenberg feststellte – im gesamten östlichen Mittelmeerraum seit der Antike als erotisch nicht so anziehend wie die hellere. Aber weder erotische noch ästhetische Präferenzen beziehungsweise Aversionen indizieren eine moralisch-intellektuelle Vollwertigkeit beziehungsweise Minderwertigkeit. Aus bloßer Farbsymbolik lässt sich kein Rassismus herausklauben.

Wären diese Verse eine Ausnahme, dann gehörten sie nicht in unseren Zu-sammenhang. Doch sie sind keine: Gegen den schwarzen Statthalter von Sistan, eines Freigelassenen Sohn, erhob ein anonymer Dichter Ende des 7. Jahrhunderts die Schmähung: »Die Schwarzen verdienen ihren Unterhalt nicht / Durch gute Taten und haben keinen guten Ruf. / Die Kinder eines stinkenden Schwarzen aus Nubien, / In ihre Färbung hat Gott kein Licht gelegt.«

Hier geht es nicht mehr um erotische oder ästhetische Präferenzen; es geht um moralische und charakterliche Defizite. Das Gedicht reiht Klischees aneinander, die sämtliche Schwarzen, ob Muslime oder nicht, abwerten. Wenig später, etwa um 700, schmäht der arabische Dichter Kuthayyir seinen schwarzen Berufskollegen: »Ich sah Nusayb wie er sich unter die Menschen verirrte / Seine Farbe war jene des Viehs. / Man kann ihm wegen seiner glänzenden Schwarzheit sagen: / Selbst wenn er unterdrückt wäre, so hätte er doch das dunkle Gesicht eines Unterdrückers.«

Längst vor der großen Philosophi
e spricht hier ein arabischer Dichter einem Schwarzen das volle Menschsein ab. Und das Opfer dieser rassischen Verachtung bejammert seine eigene Hautfarbe. So klagt Nusayb der Ältere in einem Poem: »Ich bin pechschwarz, Moschus ist ebenfalls sehr dunkel, und / Es gibt keine Medizin gegen die Schwarzheit meiner Haut.« Wenn der begehrte Moschus dunkel ist, dann kann nicht alles schlecht sein, was dunkel ist – ein defensives Argument gegen ein übermächtiges Vorurteil. Nicht verwunderlich, dass der Hofpoet Abu Dulama (gestorben 776) seine Minderwertigkeit eingesteht: »Wir sind ähnlich an Farbe; unsere Gesichter sind schwarz und / Hässlich, unsere Namen schändlich.«

In den poetischen Diskursen zirkulierten also rassistische Klischees über die Schwarzen, etwa zweihundert Jahre bevor ein szientistischer Rassismus aufkam. Wieso passierte das? Bevor ich das darlege, will ich eine Anmerkung machen zum nachhaltigsten religiösen Argument für die Sklaverei, im Judentum, im Islam und im protestantischen Christentum. Es geht um den Fluch Noahs über seinen Sohn Ham. Bekanntlich erwähnt die Bibel in der Genesis (Kapitel 9, Vers 25) keine Hautfarbe Hams. Wie wurde dann aus der Verfluchung Hams eine Verfluchung der Schwarzen zur Sklaverei? Es besteht inzwischen durch die Untersuchungen von Benjamin Braude, David Goldenberg und Ephraim Isaac kein Zweifel mehr: Die rassische Bedeutung von Noahs Fluch über Ham entfaltete ihre soziale und diskursive Wirkung in der größten Sklavenhaltergesellschaft der Weltgeschichte. So schreibt der gelehrte Vielschreiber Tabari im 9. Jahrhundert über Noah: »Er betete, dass Hams Farbe sich verändern möge und dass seine Nachkommen Sklaven der Kinder Sems und Japhets sein sollen«. (6)

Die Korangelehrten mussten unablässig gegen diesen Irrglauben ankämpfen. Sie taten es jahrhundertelang, vergebens.

(6) Vgl. Benjamin Braude, Ham and Noah. Race,, Slavery and Exegesis in Islam, Judaism, and Christianity. In: Annales, März 2002. Braude zeigt, dass das vielzitierte zweibändige Werk The Image of the Black in Western Art von Jean Devisse von Fehlern und, bei diesem Thema nicht verwunderlich, Ignoranz strotzt.

Ganz anders im christlichen Europa. Hier diente der Fluch Noahs dazu, die Leibeigenschaft zu rechtfertigen; auch diese Rechtfertigung war heftig umstritten. Mit den Schwarzen hatte der Fluch nichts zu tun. Erstmals begegnet die »schwarze Version« des Fluches 1444 in der Cronica da Guine des Portugiesen Gomes de Zurara: Er berichtet, daß die senegambischen Sklavenjäger ihr Tun rechtfertigten mit Noahs Fluch, welcher angeblich die Schwarzen betreffe. Die »schwarze« Version dieses Fluches ist also direkt aus der muslimischen Versklavungszone übernommen. Er spielte in den großen spanischen Debatten des 16. Jahrhunderts über die Legitimität des Versklavens überhaupt keine Rolle. Kein offizielles Dekret der katholischen Kirche hinsichtlich der Sklaverei hat sich je auf ihn berufen. Erst als die karibische Sklaverei in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer schwarzen Sklaverei wurde, aktivierten protestantische Apologeten der Sklaverei diesen aus der islamischen Welt importierten Fluch.

Im 18. Jahrhundert wurde der »hamitische Mythos« die letzte argumentative Bastion der Verteidiger der Sklaverei. Die Abolitionisten bestritten diese Version entschieden. Die christliche Bildkunst folgte nicht der »islamischen« Version. Jene biblische Szene, in welcher Noah den Fluch ausspricht, findet sich auf unzähligen bildlichen Darstellungen. Wie Benjamin Braude dargelegt hat, zeigt keine einzige – von der Spätantike bis 1839 -einen dunkelhäutigen Hain!

Warum der Rassismus im größten sklavistischen System der Weltgeschichte Farbe bekam

Es ist lange bekannt und gut erforscht, dass Schwarzafrika in der Antike kein wesentlicher Sklavenlieferant war. Griechen und Römer bezogen ihre Sklaven vornehmlich aus dem Norden und dem Osten. Es ist lange bekannt und gut erforscht, dass die arabischen Eroberungen im 7. und 8. Jahrhundert den nordafrikanischen Kontinent geopolitisch völlig umgestalteten, mit einer tiefen religiösen, sprachlichen und kulturellen Kolonisierung. Und dass ab dem 10. Jahrhundert, als die letzten Stämme der Sahara konvertiert waren, die Deportation versklavter Afrikaner über die Sahara kontinuierlich in großem Umfang vor sich gehen konnte. Schwarzafrika wurde zur größten sklavistischen Lieferzone der Welt, etwa sechs Jahrhunderte lang, bevor das erste portugiesische Schiff die ersten Schwarzafrikaner an der Küste Senegambiens verlud.

Der Export von versklavten Schwarzafrikanern in die islamischen Kernländer, also nördlich und östlich der Sahara, war insgesamt viel umfangreicher als der transatlantische Export in die europäischen Kolonien. Der Umfang der Deportationen versklavter Afrikaner aus Schwarzafrika beträgt ungefähr 28 Millionen Menschen in knapp 1300 Jahren. Nach Ralph Austen beziffern sich die Deportationen zwischen 650 und 1920 wie folgt: 4,1 Millionen über das Rote Meer, 3,9 Millionen über den Indischen Ozean, 9 Millionen über die Sahara, also insgesamt 17 Millionen Versklavte in die islamischen Kernländer (nicht eingerechnet die Sultanate und Emirate südlich der Sahara); demgegenüber wurden von 1450 bis 1870 fast 12 Millionen Versklavte über den Atlantik verschleppt.

Dieser enorme Zustrom schwarzer Sklaven in das Reich des Islam erklärt vieles. Der arabische Hautfarbenrassismus war nicht bloß ein philosophischer Diskurs, sondern genau wie Lewis es vermutete: Es war die Sklaverei, welche die arabische Erfindung des Hautfarbenrassismus begründete; ihre entmenschlichenden Prozesse machten das Untermenschentum der Schwarzen plausibel. Kulturell bedeutsam wurde, dass die islamische Welt als einzige sklavistische Gesellschaft Handbücher für Sklavenkauf hervorbrachte. Diese informierten darüber, welche Sklaven für welche Tätigkeiten besonders geeignet waren; sie spezifizierten also die ethnischen Eigenschaften, und sie verschafften der medizinischen und philosophischen Rassenlehre Eingang in den Alltag und eine alltägliche Plausibilität. Da man Sklaven je nach ihren »rassischen« Eigenschaften in sozialen, militärischen und ökonomischen Funktionen verwandte, stabilisierten sich die Vorurteile im Alltag.

Gegen Bernard Lewis wurde eingewandt, dass die muslimische Welt sich in den ersten Jahrhunderten überwiegend mit weißen Sklaven versorgt habe. Die Muslime versklavten vom 7. bis zum 10. Jahrhundert bei ihren Dschihads mehrere Millionen Griechen, Armenier, Nordafrikaner, Südeuropäer, Kaukasier, Inder; und sie kauften mehrere Millionen Türken, Turkmenen, Tataren und Mongolen und Slawen auf den Märkten. Der Rassismus gegen schwarze Hautfarbe muss verwundern angesichts des enormen Imports an »weißen« Sklaven in die islamische Welt. Also, lautet der Einwand, kann die direkte Beziehung zwischen Sklaverei und Hautfarbenrassismus nicht stimmen.

Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Man leugnet entweder, dass der Hautfarbenrassismus gegen die Schwarzen aus der arabischen Kultur stammt; und das heißt, man sucht seine Genesis woanders – etwa in der Antike -, gegen den schreienden Protest der Quellen. Oder man erklärt den Hautfarbenrassismus zu einem Phänomen, das mit der Sklaverei gar nichts zu tun habe; dann muss man einen »präexistenten Hautfarbenrassismus« annehmen, der sich bloß ableiten lässt aus der kulturellen Semantik, letztlich aus der kulturspezifischen Farbsymbolik. Mit der zweiten Möglichkeit ist jeglicher Scharlatanerie des »linguistic turn« Tür und Tor geöffnet.

Wie läßt sich diese Frage behandeln? Denn an ihr hängt die Unangefochtenheit eines fundamentalen Ausgangspunktes, den der Jamaikaner Eric Williams schon 1944 in seinem Buch Capitalism and Slavery zugrunde gelegt hat: Nicht der Rassismus führte zur Sklaverei, sondern die Sklaverei führte zum Rassismus. Da sich in die Diskussionen über die kulturelle Konstruktion von rassistischen Klischees keine Wirtschaftshistoriker einmischen und da Sklavereihistoriker sich bei Fragen der kulturellen Semantik zurückhalten, ist ein sehr simpler Umstand übersehen worden: 

(7) Ralph A. Austen, The Trans-Saharan Slave Trade. A Tentative Census. In: Henry A. Gemery / Jan S. Hogendorn (Hrsg.), The Uncommon Market. Essays in the Economic History of the Atlantic Slave Trade. New York: Academic Press 1979.)

Der arabische Sklavenhandel ist viel älter als die islamische Expansion. Antike Texte wie die Fahrtenbeschreibungen Periplous oder die Naturalis historia des Plinius belegen den arabischen Sklavenhandel, ja sogar die arabische Kolonisation an der Suaheliküste; diese muss bis in die augusteische Zeit zurückreichen. Arabische Seefahrer transportierten schon Jahrhunderte vor der islamischen Expansion schwarze Sklaven entlang der ostafrikanischen Küste, an welcher eine Reihe von Hafenstädten als arabische Kolonien anzusprechen sind. Anfang des 6. Jahrhunderts ließ der persische König Chosroes I. im Irak große Zuckerplantagen anlegen: Das war das früheste Modell für großformatige Plantagensklaverei. Arabische Seefahrer versorgten die persischen Plantagen mit ständigem Nachschub an afrikanischen Sklaven.

Das heißt: Für die Bewohner der arabischen Halbinsel hatte die Sklaverei lange vor den islamischen Eroberungen eine eindeutige Farbe, nämlich schwarz, bevor sie ruckartig, vom Ende des 7. Jahrhunderts bis zum 9. Jahrhundert, bunt wurde. Daher ist der Hautfarbenrassismus in der arabischen Welt wahrscheinlich zweihundert bis dreihundert Jahre älter, als wir dachten. Das Urteil des Historikers Pétrè-Grenouilleau in seinem Buch Les Traites negrieres (2004) – »Der Sklavenhandel in Richtung der islamischen Welt und der Rassismus gegen die Schwarzen entwickelten sich simultan« – basiert also auf einer richtigen Prämisse. Zu modifizieren ist es insofern, als die arabische Kultur schon längst eine rein schwarzafrikanische Sklaverei pflegte, bevor die islamische Expansion einsetzte und das größte sklavistische System schuf, welches die Weltgeschichte kannte. Dabei ergab sich eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die ruckartig geänderte ethnische Zusammensetzung der Sklavenimporte schuf die bunt gewordene Sklaverei des islamischen Weltsystems. Diese Buntheit vermochte den vorhandenen Hautfarbenrassismus allerdings nicht mehr substantiell zu beeinträchtigen. Die Klimatheoretiker operierten zwar mit einem trichotomischen Rassismus; doch in der sozialen Realität bildete sich ein dichotomischer Rassismus, genau wie achthundert Jahre später in den europäischen Kolonien Amerikas. Sozial erzeugte kulturelle Wahrnehmungsmuster können weiterbestehen und kräftig weiterwirken, obwohl sie in der neuen historischen Wirklichkeit nicht mehr lückenlos plausibel sind. Manche Diskurse scheinen eine relative Autonomie zu genießen. Und wir wissen nie, was diese Autonomie noch alles anzurichten vermag.

Professor Dr. Egon Flaig, Universitäts Greifswald

Merkur 735 / 2010

Quelle

Peter Tautfest: Palästina in Berlin

War die linke 68er Szene in West-Berlin antizionistisch oder gar antisemitisch? Der spätere taz Redakteur und ehemalige SDSler Peter Tautfest verneint das.


1980 verabschiedete sich Peter Tautfest  mit einem Artikel in
der Nr.17/18 der maoistischen Zeitschrift „Befreiung“ nach mehr als 10 Jahren engagierter
Mitarbeit aus der Palästina-Solidarität, weil ihn die Haltung der PLO in der
Holocaust-Diskussion zu einer scharfen Kritik an ihrer
„Gefühlskälte und Gefühlsverdrängung“ bewogen habe und zum anderen sei die
Palästina-Solibewegung in „10 Jahren nicht aus ihrer Isolierung
herausgekommen“. Für die marginale Rolle der Palästina-Solidarität
in der antiimperialistischen Bewegung der westdeutschen und
west-berliner Linken der 60er und 70er Jahre gibt Insider Peter
Tautfest folgende Erklärung ab: 

„…In den frühen 60er
Jahren spielte Israel für die fortschrittliche bzw.
demokratische Bewegung in Deutschland ungefähr die Rolle, die in
den späten 60er Jahren China spielte: Israel galt als besonders
demokratisches Land, als sozialisti­sches Ideal mit seinen
Kibbuzim und als Bastion des Antifaschismus. Viele junge
Deutsche sind aus antifaschistischer Einstellung heraus nach
Israel gegangen, haben in den Kibbuzim gearbeitet und dies als
einen Beitrag zum Kampf gegen den Faschismus verstanden. Die
Positionen der arabischen Staaten gegenüber Israel

wurden entweder nicht zur Kenntnis
genommen oder für Relikte des Antisemitismus gehalten, das
Schicksal des palästinensischen Volkes war vollkommen
unbe­kannt, und auch der Befreiungskampf der Algerier hat an dem
blinden Fleck im Auge der demokratischen Jugend in Deutschland
gegenüber den Problemen der arabischen Welt nichts geändert.
Unter den Demokraten und Linken fand in Deutschland die
Entführung Eichmanns ungeteilten Beifall, Kritik daran blieb der
Rechten vorbehalten. In keinem Land Europas war die
Identifikation von Antifa­schismus und pro-israelischer Haltung
derart stark. Das begann sich erst 1967 während und nach dem
Krieg zu ändern, wobei die Berichterstattung der Springer­presse
eine gewisse Rolle spielte, vor allem ihr Versuch,
pro-israelische Sympa­thien in Deutschland gegen die schon
ziemlich entfaltete antiimperialistische Be­wegung zu
mobilisieren. Dieser Prozeß des Umdenkens ging aber sehr langsam
vor sich. Die Nachricht vom Ausbruch des 67er Krieges erreichte
die damalige linke Bewegung in Deutschland in einer besonderen
Situation. Am 5.6.1967 befanden sich Tausende von Studenten auf
dem Campus der Freien Universität Berlin. Sie protestierten
gegen die Erschießung Benno Ohnesorgs, der bei einer
Demonstra­tion am 2. Juni gegen den Schah in Berlin den Tod
gefunden hatte. Als die Nach­richt vom Ausbruch des Krieges
eintraf, bildeten sich um die wenigen arabischen Studenten
Diskussionstrauben. Die arabischen Studenten fanden weder Gehör
noch Verständnis, sondern ertranken fast in einem Meer an
Feindseligkeit. Noch 1968, auf dem Berliner Vietnamkongreß,
wurde ein schwarzer Amerikaner, der das Problem des besetzten
Palästinas zur Sprache bringen wollte, am Reden ge­hindert. Der
bürgerlichen Presse, etwa der ZEIT, blieb es vorbehalten, auf
das Schicksal der Palästinenser aufmerksam zu machen, auf die
Menschen aus den Flüchtlingslagern in der Westbank, die abermals
zum Aufbruch und zur Flucht ge­zwungen wurden. In anderen
europäischen Ländern war es ähnlich, so erklärte Sartre bei
Ausbruch des Krieges, daß ihn die Ereignisse noch zwingen
werden, eine pro-amerikanische Position einzunehmen.

Das besondere Verhältnis der europäischen Öffentlichkeit
hängt
mit der fa­schistischen Besetzung, der Vernichtung des
europäischen Judentums und dem antifaschistischen Kampf
zusammen. Nirgends aber war die Identifikation mit
Israel so
ausgeprägt wie in Deutschland. Das hatte seine
Rückwirkungen auf
die sich dann allmählich herausbildende
Palästinasolidarität in
Deutschland. Die deutsche Linke hatte gegenüber der
europäischen in dieser Frage einen Vorsprung aufzuholen
und
übernahm ziemlich schematisch antiimperialistische
Positionen,
ohne die Phase der Betroffenheit über geschehenes
Unrecht und
der Empörung gegen Unterdrückung und Entrechtung
durchlaufen zu
haben. Diese schematische Anwendung
antiimperialistischer
Kategorien auf das Palästina/Israel-Problem wirkt bis
heute fort
und ist die Ursache einiger Schwächen der
Palästinasolidaritätsbewegung. Zum einen setzt sie in
ihrer
Argumentation auf einem relativ hohen theoretischen
Niveau an,
argumentiert in erster Linie historisch, völkerrechtlich
und
imperialismustheoretisch. Erst in letzter Zeit findet
sie eine
von der An­schauung motivierte Sprache und argumentiert
vom
Schicksal der betroffenen Menschen her. Die
Solidaritätsbewegung
mit Vietnam und die Empörung gegen den Rassismus in
Südafrika erfaßt breiteste Kreise unter Einschluß rechtsliberaler und
liberalkonservativer Kreise bis hin zur
antiimperialistischen
Linken, und zwar weil sie das Schicksal der Betroffenen
anspricht und vor Augen führt. Anders die
Palästinasolidaritätsbewegung. Sie wendet sich gleichsam
an ein
Fachpublikum und ist bis heute auf die Linke beschränkt
und hat
nicht einmal eine besonders breite Basis in den linken
Organisationen selbst.“
(Befreiung 17/18, Frühjahr 1980, S. 130f)

Tautfest hat Recht. Seine theoretische Sicht der Dinge deckt
sich mit der Empirie der Verhältnisse. In der Chronologie der FU Berlin „Hochschule im Umbruch“
Teil V, Gewalt und Gegengewalt 1967-1969 finden sich
lediglich folgende
Pro-Palästina-Aktivitäten. 

  • 11. Juni 1967,
    ein Flugblatt des „Komitees zur Hilfe der
    Palästina-Vertriebenen“ ruft zu Sach- und Geldspenden auf.
  • 29. Januar
    1968, der Vortrag des israelischen Botschafters Asher Ben
    Nathaan wird durch Zischen und Buhrufe gestört

In der theoretischen Diskussion
bildet das Nahost-Problem – trotz des 7-Tagekrieges – keinen
Gegenstand der kritischen Reflexion. In diesem Zeitraum widmet
„Das Argument“, eine wichtige Theoriezeitschrift der
außerparlamentarischen Linken, dem arabisch-israelischen Konflikt
ganze sechs(!) Druckseiten, die zwei Buchbesprechungen beinhalten
(Nr. 45, vom Dezember 1967). Enzensbergers „Das Kursbuch“ behandelt das Thema
überhaupt nicht. Erst die am Ottto-Suhr-Institut ab
1969 erscheinende „Sozialistische Politik“ publiziert dann 1969 drei kurze
theoretische
Artikel zur Nahost-Frage (Nr. 2 und
3/69).  

Stattdessen
überwiegen im Israel-Palästina-Konflikt bis 1969 eindeutig die
pro-israelischen Aktivitäten. Die westberliner
sozialistischen Kinderläden diskutieren 1969 ihr
politisch-pädagogisches Selbstverständnis anhand der Erziehung
im Kibbuz. 

Im Juni 1986 erscheint das 600 Seiten
starke Buch „Hoch die internationale Solidarität“. Wie die
Herausgeber, Werner Basel und Karl Rössel, in der Einleitung
schreiben, soll es ein „Lesebuch“ zur Geschichte der
Dritte-Welt-Bewegung in der Bundesrepublik sein. Dieses Buch will
keine „Rezepte für eine bessere Dritte-Welt-Arbeit“ liefern,
sondern die „Hauptströmungen“ vorstellen, die in der Geschichte
der BRD bisher vorherrschend waren. Für die Herausgeber sind es
die Initiativen der „Algerien-, Vietnam,- Chile- und
Mittelamerika-Solidarität“.  Dagegen: Nahostfrage und
Palästina-Solidarität = Fehlanzeige. Zu erfahren ist lediglich
(S.381f) , dass der PLO-Vertreter, der ursprünglich auf der ersten
großen Friedensdemo am 10.10.1981 in Bonn reden sollte, wegen der
von ihm vertretenen Politik, wieder ausgeladen wurde.