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Prof. Dr. Dr. Gunnar Heinsohn: Erziehung nach Augstein

 Prof. Dr. Dr. Gunnar Heinsohn  
16.01.2013:


Erziehung nach Augstein

Da nun Konsens besteht, dass die Jakob Augsteins dieser Welt keine Julius Streichers sind, erfordert das auch eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit ihnen. Schließlich wollen sie weder Michael Friedmann noch Salomon Korn umbringen oder auch nur aus Deutschland vertreiben. Mit dem Vernichtungsantisemitismus ab 1933 liebäugeln die wenigsten von ihnen.

Nach 1945 muss man Studenten aus der Tätergeneration und Schüler mit blutbefleckten Vätern oder Brüdern erziehen. Das Besuchen der Lager, die Beschreibung der Gaskammern, die Fotos der Leichenberge, der herausgerissenen Zähne und der abgeschnittenen Haare werden unverzichtbar, um dem hartnäckigen Ableugnen des Genozids beizukommen. Nach Auschwitz holt man die Zöglinge mithin da ab, wo sie stehen. Ihr glaubt das Morden nicht? Wir werden es euch beweisen. Man aktiviert gerade dafür ihren Forscherdrang. Pennäler werden zu Historikern und schreiben die Geschichte der Juden ihrer Städte und Gemeinden. Andere kümmern sich um die Einladung von Entkommenen in die alte Heimat. KZ-Überlebende sprechen in Schulen, Kirchen und Universitäten. Da gibt es bemerkenswertes Engagement. Und der Einsatz wird belohnt. Die Auschwitzleugnung bleibt in Deutschland, Österreich und anderen westlichen Territorien eine Randerscheinung, die man getrost Polizei und Justiz überlassen kann.

Doch die danach Heranwachsenden sind ebenfalls abzuholen, wo sie geistig gefangen sind. Auch ihr Forscherdrang muss dabei ins Spiel kommen dürfen. Aber die ihn inspirierende Frage lautet nicht mehr, ob es den Holocaust gegeben hat oder man ihn bestreiten kann. Heute steht ein Lehrer vor gewieften Jugendlichen, die aus unzähligen Medien womöglich noch ganz andere Details der Verbrechen kennen als er. Die Aufmerksamkeit der Klasse aber gewinnt er, wenn er beginnt: Warum sind wir rastlos auf der Suche nach schuldigen Juden? Das verstehen sie sofort. Denn wenn – lau EU-Umfrage – 65 Prozent der Deutschen schon 2003 die größte Bedrohung für den Weltfrieden in Israel verorten, obwohl kein Land öfter mit Ausrottung bedroht wird als diese kleine Republik, dann soll man die Schüler nicht für dumm verkaufen. Nicht die 15 Prozent harten Antisemiten, also die 12 Millionen Deutschen, die auch den 100,000 Juden hierzulande an den Kragen wollen, sondern die 52 Millionen mit ihrem Ingrimm auf die sechs Millionen Juden Israels sind ihr Milieu. Die Aufmerksamsten unter ihnen warten auf diese Frage schon lange. Denn selbst sie sind „gegen Israel in Stellung“, wie SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein das schon vor zwanzig Jahren ausdrückt. Er selbst will 1993 durchaus selbstkritisch weg von dieser Wut, kann sie aber nicht mehr aufbrechen. Er scheitert nicht zuletzt aufgrund des Erfolges seiner eigenen Leitartikel gegen den jüdischen Staat. Gerade sie liefern der hiesigen Intelligenz über Jahrzehnte hinweg die Rechtfertigung für ihre Obsession gegen Jerusalem.

Schnell wird dem Lehrer ein Frechdachs zurufen, dass die Juden ja auch wirklich am schuldigsten seien, weil sie dauernd Kriege vom Zaun brächen. Das sage sogar der berühmte Regisseur und Schauspieler Mel Gibson, der als Australier doch wohl unverdächtig sei. Doch einige Schüler würden die Ermutigung zur Eigenrecherche aufgreifen und bald herausfinden, dass zu den 72 Konflikten seit 1948 mit mehr als 10,000 Toten zwar fünf arabische Kriege mit Israel und seit 65 Jahren auch der Palästinakonflikt gehören, letzterer bei der Opferzahl von rund 14,000 aber nur auf Rang 71 liegt. Es sei tatsächlich merkwürdig, das Konflikt 71 allein mehr Aufmerksamkeit erfahre als die übrigen Konflikte mit mehr als 80 Millionen Toten zusammen. 

Weil sie mit den Arabern in Gaza anstellten, was die Nazis mit Europas Juden gemacht haben, tönt es dennoch zornig aus einer anderen Ecke. Doch wieder befindet ein junger Forscher, dass Völkermord weit hergeholt sei, wenn – was die israelischen Waffen doch möglich machten – die Bevölkerung im Gazastreifen keineswegs bis auf kleine Reste verschwunden sei, sondern seit 1950 um den Faktor 8 von 200,000 auf 1,6 Millionen regelrecht explodiert ist.

Weil sie so viele Muslime töten, würde jedoch flugs einer dagegen halten. Die ehrgeizigen Forscher aber würden parieren, dass in der Tat seit 1948 rund 55.000 Muslime in Kriegen gegen Israel ihr Leben verlieren, was aber lediglich 0,5%, also eines von zweihundert der rund 11 Millionen muslimischen Gewaltopfer seit 1948 ausmache.

Weil sie „Abkömmlinge von Affen und Schweinen sind“, wie 2010 (23-09) selbst Ägyptens heutiger Präsident Morsi bestätigt habe – und zwar im libanesischen Fernsehen, damit alle Araber es wissen können. Dagegen wendet die Forschungsfraktion ein, dass unter Nobelpreisträgern jeder Fünfte jüdisch ist, während das unter den Menschen der Erde nur für einen von fünfhundert zutrifft. Die Affen oder gar Schweine, die da mithalten könnten, solle man erst einmal vorweisen.

Weil sie Land raubten, kommt es postwendend zurück. Ja, heftigen Streit um Land gibt es. Aber notorischen Raub könne man nicht erkennen. Denn welcher andere Eroberer hätte mehr Land wieder herausgerückt als Israel, das den Sinai für Ägypten, die Sheba-Farmen für Libanon und Gaza für seine Einwohner räumt und mehrfach auch noch fast die gesamte West-Bank im Austausch für Frieden angeboten habe.

Weil sie so reich seien, spielt einer seinen letzten und gleich globalen Trumpf aus. Ja, bestätigen die Forscher, Juden bezögen in den USA, wo so etwas gemessen wird, tatsächlich die höchsten Einkommen. Dafür schnitten sie aber auch bei den Examen am besten ab und solche Leute verdienten auch in Ländern ohne Juden die Spitzengehälter. Überdies hätten sie längst Konkurrenz bei Amerikas Koreanern und Chinesen, die oft noch bessere Prüfungen hinlegten und in etlichen Branchen auch schon besser verdienten..

Spätestens jetzt würde es den helleren Schülern reichen. Wir haben’s begriffen, bekäme der der Lehrer zu hören. Nun solle endlich er sagen, warum denn alle Welt nach schuldigen Juden suche. Vielleicht, sinnieren aber einige schon wieder ganz eigenständig, weil sie nicht nur als lebende Anklage, sondern immer auch als Zeugen von Verbrechen der Deutschen und all ihren europäischen Mitläufer herumliefen, mit denen die jetzt Lebenden allerdings nichts zu tun hätten. Man wisse ja aus Mafia-Filmen, dass nach Beseitigung der Zeugen oft auch die Anlage zusammenbreche. Und wenn jemand die Zeugen beschütze, wie bisher Amerika die Vernichtung Israels verhindere, könne man Juden eben nur anschwärzen und unglaubwürdig machen, um sie so als Zeugen ausschalten. Ob deshalb all die überzogenen Anwürfe und Verurteilungen ergingen?

Gleichwohl könne man den Ingrimm der Klassenkameraden auch nachvollziehen. Denn Auschwitz hänge heute doch entschieden Unschuldigen wie ein Mühlstein um den Hals. Und selbst wer bereit sei, in der Wahrheit zu leben, könne nun einmal nicht dauernd auf den Knien der Vergebung liegen. Einer aber gluckst schon vor sich hin: Also führen wir uns auf wie die verfolgte Unschuld?

Diese Schüler dauern den Lehrer. Doch gerade bei ihnen weiß er, dass er ihnen etwas zumuten kann. Falsche Beschuldigungen von Juden heute – so verstehen sie leicht – führen genau in die Isolierung wie das Bestreiten des Holocaust gestern. Es gehe den Jugendlichen ein wenig wie den Mongolen, holt er weit aus. Die haben mit den Verbrechen der Horden des Mittelalters auch nichts zu tun. Immerhin liegen die ein Dreivierteljahrtausend zurück. Und doch trifft sie unwillkürlich – nur für eine Zehntelsekunde – der fragende, aber halb auch schon beschuldigende Blick, ob in ihnen ein Dschingis Khan stecke. Wird man – so fürchten die Jungen – auch noch im Jahre 2700 Deutsche daraufhin beäugen, ob sie zu einem Auschwitz fähig sind?

Noch kann dem kaum jemand entgehen – nicht einmal die Kanzlerin auf ihren Reisen über den europäischen Kontinent. Selbst die sympathisierende Seite muss als Zumutung abgewiesen werden, wenn sie einem – wie so gerne in muslimischen Gebieten – als Glückwunsch für und herzliche Einladung aufgrund von Adolf Hitler nahe kommt. Die Schüler beginnen die Last einer Weisheit zu spüren, die Thomas Hobbes schon 1651 im Leviathan erkennt: „Wer jemandem mehr Schaden zugefügt hat, als er wieder gutmachen kann, wird sein Opfer hassen.“ Zvi Rix, Israeli aus der Wiener Leopoldstadt und mit viel mehr Leidenschaft Forscher als Arzt, münzt das – nach Mitteilung seiner Witwe Melitta an den Autor – in die Sentenz: Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen. Die wenigen Humoristen unter den Schülern spüren, dass man sich besser mit der Rätselfrage vorstellt, dass man (a) nicht Schweizer sei und (b) aus einem berühmten Mördervolk Mitteleuropas stamme, denn als Verbohrter, der von den Missetaten der Menschheit nur diejenigen Israels auswendig hersagen kann. 

Matthias Matussek: Meine Stunde als Antisemit

Mich hat die dunkle Vergangenheit eingeholt. Nein, nicht die aus dem Krieg, sondern aus einer wesentlich komfortableren und leichtsinnigeren Kampfzone, der des Meinungsgewerbes. 

Also, ich habe dummes Zeug geschrieben.

Ein Freund hat eine Kolumne von mir ausgegraben. „Das Recht auf Zorn“. (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-22702451.html)

Ich hatte mich vor gut zehn Jahren in einer Antisemitismus-Debatte vor den Desperado-FDP-Politiker Jürgen Möllemann gestellt. Vielleicht tat er mir leid, vielleicht hat mich auch nur das Kesseltreiben der gesamten Öffentlichkeit gegen ihn geärgert.

Vielleicht war ich auch zu weit weg, nämlich auf einem Boot in Patagonien, wo ich mich mit einem israelischen Kollegen über das Nahost-Problem stritt. Was sonst bespricht man auch am Ende der Welt zwischen treibenden Eisbergen?

In jenen Tagen, 2002, hatte Möllemann im fernen Deutschland im wesentlichen die Positionen vertreten, die Jakob Augstein heute in seinen kämpferischen Kolumnen verbreitet, zumindest in den riskanteren Formulierungen, und von denen gibt es einige. Ja, das Erstaunliche ist: Heute wäre Möllemann so salonfähig wie Jakob Augstein.

Auch Möllemann äußerte Verständnis für jene zornigen jungen Männer, die damals wie heute morden; er warf Israel vor, Antisemiten zu züchten; und er warf Michel Friedman, damals noch im Zentralrat der Juden, vor, durch sein „gehässiges“ Benehmen in Talkshows dasselbe in Deutschland zu tun.

Ein wahrer shitstorm brach damals über Möllemann herein. Claudia Roth bebte, Friedman tobte, Henryk Broder nannte ihn einen Antisemiten und nahm mich als dessen Unterstützer aufs Korn, und der Zentralrat der Juden empörte sich über Möllemanns „antisemitische Klischees“.

Für meine Kolumne war mir das Gespräch in Patagonien auf dem Schiff eingefallen. Dem israelischen Kollegen gegenüber vertrat ich das, was heute Mehrheitsmeinung ist. Ich sagte, dass Sharon ein Kriegsverbrecher sei und Israels Besatzungspolitik brandgefährlich. Ich schrieb:

„Möllemanns Äußerungen sind pro-palästinensisch und damit automatisch anti-israelisch. Aber antisemitisch? Was soll daran antisemitisch sein, Michel Friedman nicht zu mögen? Was soll daran antisemitisch sein, ihm vorzuwerfen, er sei gehässig und provoziere?“

Nun war Möllemann ein tragischer politischer Rabauke. Er brachte sich ein Jahr später, 2003, verheddert in dubiose Wahlkampffinanzierungen und verfemt selbst in der eigenen Partei, durch einen Fallschirmsprung um. Möllemann neigte zu Kurzschlüssen.

Jakob Augstein dagegen ist ein liebenswerter, hochintelligenter Kollege, mental völlig ausbalanciert.

Dennoch: So peinlich, wie es mir heute ist, dass ich einst Möllemanns wirre Thesen verteidigt habe, so schmerzhaft ist es zu sehen, wie die großen Feuilletons der Republik unter Möllemanns Motto zusammenrücken, das längst auch das von Grass ist. Man wird ja wohl noch sagen dürfen. Genauer: „Was gesagt werden muss“.

Wir haben uns offenbar beide geändert, die Mehrheitsmeinung und ich. Der einzige, der sich treu blieb, ist Henryk Broder.

Die Mehrheit im Lande ist israelkritischer geworden, ich habe mich in die Gegenrichtung aufgemacht. Ich finde, ich habe die besseren Gründe. Denn in den letzten zehn Jahren ist einiges passiert.

Israel ist bedroht wie nie zuvor. Der Frühling der arabischen Revolution verdüstert sich zu einem islamistisch getränkten Territorial-Gürtel. Irans Ahmadinedschad baut an der Atombombe mit dem erklärten Ziel, Israel von der Landkarte zu wischen. Schon ein Blick auf die Landkarte genügt, um festzustellen, dass Israel gut daran tut, sich bis an die Zähne zu bewaffnen.

Aus dem Gaza-Streifen, den Jakob Augstein ein „Lager“ nannte, haben sich die israelischen Besatzer längst zurückgezogen. Heute herrscht dort unangefochten die Hamas, die Raketen auf Israel abschießt, jene Hamas, die die Adorno-Preis-Trägerin Butler eine „Befreiungsbewegung“ nennt.

Henryk Broders Argument, dass es heute nicht darum gehen kann, in einer linken Antifa-Folklore den Widerstand gegen Hitler nachzuholen, sondern darum, den Holocaust der Zukunft zu verhindern, gewinnt jeden Tag mehr an Plausibilität.
Die politischen Koordinaten haben sich verschoben, nach links. Ja, auch das hat sich geändert.

Eine besondere Pikanterie in der Möllemann-Debatte lieferte damals die Berliner FDP-Ortsvorsitzende Susanne Thaler, die unter anderem deshalb aus der Partei austrat, weil sie hinter Möllemanns Wahlziel „18 Prozent“ eine alphabetische Spielerei mit den Initialen Adolf Hitlers vermutete.

Das Dechiffriersyndikat schaute damals entschlossen nach rechts, es schaute nach hinten. Es schaute in die falsche Richtung. Frau Thaler hätte ihren Blick nach links wenden sollen, dahin, wo sich die antiimperialistischen und antikolonialistischen Meinungsstrategen zu einem salonfähigen antiisraelischen und bisweilen antisemitischen Feuilletonbündnis zusammengefunden haben. Hier wäre Möllemann heute nicht mehr ein Verfemter, sondern ein „role model“, ein Vorbild.

Vielleicht war ich damals, in Patagonien, einfach zu weit weg. Allerdings scheint mir, dass man in den Wohnzimmern der deutschen Komfortzone mindestens ebenso weit weg ist vom Überlebenskampf der Juden in einer der gefährlichsten Regionen der Erde.

Wie sehr sich die Gesamtlage bei uns verschoben hat: Natürlich ist jenes jüngste Gedicht von Günther Grass, der nicht in der Bomben bastelnden islamistischen Diktatur Iran, sondern im Judenstaat Israel eine Bedrohung des Weltfriedens sieht, ein Skandal. Und es tat mir weh zu sehen, wie Jakob Augstein Grass zur Hilfe eilt.

Er verschlimmerte Grass ins Grundsätzliche, indem er schrieb: „Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst, weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen.“

Nun, für mich hat Grass nicht gesprochen. Ich glaube, dass Jakob Augstein diese Parteinahme für Grass mittlerweile leid tut. Womöglich hat er sich verführen lasen durch die Aufmerksamkeitsökonomie des Kolumnen-Geschäfts, das die Schrillheit belohnt. Ich glaube nicht, dass Jakob Augstein ein Antisemit ist, der die Juden für eine minderwertige Rasse hält. Nicht einmal Broder glaubt das.

Broder, der Polemiker und Börne-Preisträger, spielt den Narren für uns. Er sagt, was wir nicht hören wollen. Er geht an die Grenze, wenn er sich, als Trauer-Stele verkleidet, über unsere hohl gewordenen Trauerrituale zum Holocaust lustig macht. Wir brauchen ihn. Sätze wie jener aus der „Frankfurter Rundschau“ – „Es spricht für den deutschen Rechtsstaat, dass Henryk M. Broder bis heute frei herumläuft” – sind ruchlos.

Sicher, manchmal schießt Henryk Broder wütend über das Ziel hinaus, das ist das Risiko eines jeden Polemikers – und die Juden Heine und Börne waren nicht zimperlich, wenn es um den Einsatz des Antisemiten-Knüppels ging. Für seinen Streicher-Vergleich hat sich Broder entschuldigt. Er hat sich auch deswegen entschuldigt, weil er, wie er jetzt eingesteht, “ablenkt“. Er war „nicht hilfreich“, schrieb er, denn die Gefahr droht nicht von ewiggestrigen Nazi-Rülpsern, sondern von einer gängigen Verharmlosung der aktuellen Bedrohung Israels im linken juste milieu, einer Verharmlosung, die dem aktuellen Antisemitismus in die Hände spielt. Und der tritt nun mal im Nahen Osten in der gewalttätigen und täglich mörderischen Armatur des Islamismus auf, und er könnte tatsächlich eines Tages zu einem erneuten Holocaust führen, diesmal durch einen verheerenden Militärschlag.

In dieser Lage leben die Juden. Von Vern
ichtung bedroht. Ich verstehe ihre Lage. Viele derzeitige Kommentatoren, so Dieter Graumann im aktuellen SPIEGEL„ begreifen das jüdische Trauma nicht. „Wir werden uns nie wieder der Gefahr der Vernichtung aussetzen, diese Lehre brennt in uns allen. Das ist unsere Erfahrung, unsere Geschichte. In der Tat erwarte ich von einem deutschen Journalisten ein Mindestmaß an Gefühl dafür.“

Israel, dieser begrünte Sandstreifen von der Größe Hessens, ist von zunehmend grimmigen islamistischen Land- und Staatenmassen umlagert. In Jerusalem, Tel-Aviv oder Beer Sheva zu leben, erfordert doch ein wenig mehr Nervenstärke als es die Warterei auf ein Schnitzel im „Borchardt“ verlangt.

Zur Illustration der ganz alltäglichen Gefahr dort, in der Region des „gelobten Landes“, zum Schluss noch eine weitere Anekdote, aus einem anderen Boot.

Wir waren mit dem Tauchlehrer Hussein im Roten Meer unterwegs. Unter uns und neben uns Delphine und bunte Kaiserfische und schillernde blaue und schwarzweiße Schwärme, in lautlos friedvoller Stille.

Worüber redet man, wieder an Bord? Natürlich über Israel.

„Die haben damals doch nur gewonnen, weil sie aus der Luft angegriffen haben“, sagte Hussein, „die sollen verschwinden, je schneller desto besser, die stiften hier nur Unfrieden.“

Nichts gegen Juden, aber sie stören.

Und die Scharia hält Hussein für eine wichtige Errungenschaft. Das Gesetz muss streng sein. Wenn seine Frau ihm untreu würde, würde er nicht erst auf ein Urteil warten – er würde sie persönlich steinigen.

Das sagte er in reinster Unschuld, mit der größten Selbstverständlichkeit. Er war ein ruhig lächelnder Buddy-Typ. Natürlich hat Hussein die Muslim-Brüder gewählt.

Doch ich habe noch andere Gründe, die zunehmend fundamentalistische Arabellion mit Besorgnis zu betrachten. Kurz zuvor war ich in einem koptischen Gottesdienst in Hurghada. Er fand in einer Neubaugegend in einer Schule statt, streng bewacht, denn der Terror-Anschlag auf die Kopten in Alexandria vor genau zwei Jahren ist noch frisch in Erinnerung.

Ich erlebte dort eine Liturgie, die annähernd 2000 Jahre alt ist, aus jener Ur-Kirche, die man die der Märtyrer nennt. Ich erlebte freundliche Schwestern im Habit, uralte Gesänge und Gebete, spielende Kinder, Ehrfurcht und Freundlichkeit und eine Krippe aus Pappe. Sie wirkten wie übrig Gebliebene.

Der Publizist Michael Hesemann hat die Geschichte dieser Urchristen in dem packenden Buch „Jesus in Ägypten“ beschrieben. Nun fliehen die Kopten wieder aus Ägypten, bisher sollen es mehr als Hunderttausend sein. Die Christen sind, nach Auskunft der UNO, heute die am stärksten verfolgte Religionsgruppierung weltweit, und das sind sie in erster Linie in islamischen Ländern.

Meine Lässigkeit ist dahin.

Also, mea culpa, ich habe mich mittlerweile korrigiert.

Und ich bin sicher, auch Jakob Augstein wird es eines Tages tun.

Quelle: Achse des Guten, 14.1.2013

ÜBER DIE ROLLE DES ANTISEMITISMUS IM HISTORISCHEN KOMMUNISMUS

Die Ambivalenz des historischen Kommunismus zeigt sich daran, dass er einerseits die umfassende menschliche Emanzipation anstrebte und andererseits antisemitische Züge entwickelte. Zwar finden sich sowohl in den kommunistischen Parteien und Bewegungen, als auch in den kommunistischen Staaten explizite Ablehnungen und Verurteilungen des Antisemitismus, dennoch existierte in den meisten realsozialistischen Ländern ein weit verbreiteter gesellschaftlicher Judenhass. Zudem pflegten die Parteien und Bewegungen insbesondere den Antizionismus, der sich auch in einer spezifischen Form der Verfolgung von Juden und Jüdinnen niederschlug. Insofern stellen sich die Fragen, welche Rolle der Antisemitismus in der sozialistischen Gesellschaft spielte und welchen Stellenwert er einnahm.

Ambivalenzen

Insbesondere in den osteuropäischen Ländern, hauptsächlich im zaristischen Russland, waren die KommunistInnen die einzige politische Kraft, die den Antisemitismus bekämpften und sich für die Emanzipation der Juden und Jüdinnen einsetzten. Als während des russischen Bürgerkriegs die konterrevolutionären Kräfte den Antisemitismus als einigendes Band entdeckten, verfügte der Rat der Volkskommissare, ?dass die antisemitische Bewegung und anti-jüdische Pogrome für die Sache der Arbeiter- und Bauernrevolution fatal sind, und appelliert an das arbeitende Volk des sozialistischen Russlands, dieses Übel mit allen Mitteln zu bekämpfen. Der Rat der Volkskommissare weist alle Sowjets der Arbeiter-, Bauern-, und Soldatendeputierten an, Schritte zu unternehmen, welche die antisemitische Bewegung an ihren Wurzeln effektiv zerstören. Es wird hiermit befohlen, dass die Pogromisten und Personen, die zu Pogromen hetzen, außerhalb des Gesetzes gestellt werden.?(1) Die entsprechenden Strafen reichten bis zur standrechtlichen Erschießung, vor der auch Angehörige der Roten Armee nicht gefeit waren, so sie mit antisemitischer Propaganda aufgegriffen wurden.(2) Lenin selbst nahm im Zuge des Bürgerkriegs eine Schallplatte mit dem Titel Über die Pogromhetze gegen die Juden auf, auf der es hieß: ?Schande über den verfluchten Zarismus, der die Juden gequält und verfolgt hat. Schmach und Schande über den, der Feindschaft gegen die Juden, Hass gegen andere Nationen sät.?(3)
Daneben existiert aber noch eine andere Seite des Umgangs mit Juden und Jüdinnen, die nicht so sehr zum Bild der kommunistischen Bewegung und der kommunistischen Staaten als Bollwerk gegen Antisemitismus passen mag. Ihren deutlichsten Ausdruck fand dieser Aspekt kommunistischer Geschichte in den stalinistischen Schauprozessen Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre. So berichtet Artur London über die Verhöre und Folterungen, denen er im Vorfeld des Prozesses gegen Rudolf Slánský, bis Mitte 1951 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, ausgesetzt war: ?Als man mich zum Beispiel über Hajd(4) verhört, wird der Referent von mir unverblümt verlangen, bei jedem der erwähnten Namen anzugeben, ob es sich um einen Juden handelt oder nicht. Der Referent setzt aber jedesmal an die Stelle der Bezeichnung Jude das Wort ›Zionist‹ ein.?(5)
Bereits im Anschluss an die Oktoberrevolution wurde deutlich, dass der programmatische Atheismus auch vor der jüdischen Religion nicht halt machte; auf internationaler Ebene korrespondierte ab Mitte der fünfziger Jahre die Hofierung des arabischen Befreiungsnationalismus mit der Dämonisierung Israels. Daraus schloss eine Vielzahl von AutorInnen eine genuine Affinität des Kommunismus bzw. der Marxschen Theorie für den Antisemitismus.(6)
So behauptet Edmund Silberner, der eines der Standardwerke zum kommunistischen Antisemitismus verfasst hat, eine judenfeindliche Kontinuität in kommunistischer Theorie und Praxis. Zwar führt Silberner eine Vielzahl von historischen Fakten auf, diese lassen sich aber lediglich dann als Beleg für eine generelle Nähe kommunistischer Ideen zum Judenhass interpretieren, wenn der Begriff Antisemitismus, ?in seinem weitesten Sinn verwendet? wird.(7) Silberner entdeckt die Wurzeln des kommunistischen Antisemitismus bereits in Marx Frühschrift Zur Judenfrage, da hier das Judentum nicht als eine eigene Nation anerkannt und stattdessen mit der Finanzsphäre und politischer Macht identifiziert werde. Ebenso sei es bei Lenin: Zwar sei dieser ?frei von jeglicher judenfeindlicher Gesinnung? gewesen, nichtsdestotrotz habe er jedoch den Zionismus bekämpft und Juden und Jüdinnen nicht als eine eigene Nationalität, sondern als ?Kaste? betrachtet, was sich später auch im sowjetischen Antizionismus niedergeschlagen habe.(8) Entsprechend wurde nach der Revolution im Rahmen des allgemeinen Kampfs gegen die Religion auch das religiöse Judentum durch die Jüdischen Kommissariate und die jüdische Abteilung der Partei, die Jewsekzija, bekämpft. Ein Vergleich mit der Weltsicht des modernen Antisemitismus zeigt allerdings, dass die von Silberner aufgeführten Fakten nicht ohne weiteres als antisemitisch interpretiert werden können. So ist es konstitutiv für den modernen Antisemitismus, dass seine Entscheidung darüber, wer Jude oder Jüdin ist, keine Frage des religiösen Bekenntnisses ist, sondern explizit oder implizit nach dem Kriterium der Abstammung erfolgt. Genauso wichtig ist auch die Verbindung von Judentum zu den einzelnen Juden und Jüdinnen: Während Ersteres ein Abstraktum ist, das nicht mit konkreten Individuen identisch sein muss und ein Ensemble aus Werten, Überzeugungen und Normen darstellt, sind die einzelnen Juden und Jüdinnen für den Antisemitismus Träger dieses Abstraktums. Nur durch diese Verbindung zwischen vermeintlich ?jüdischen? Eigenschaften und den empirischen Jüdinnen und Juden kann die für den Antisemitismus zentrale TäterInnen-Opfer-Konstruktion erfolgen. Die konkreten jüdischen Individuen werden als ursächlich verantwortlich für die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften – sei es der ?jüdische Bolschewismus?, das ?internationale Finanzkapital? oder die weltweite Kontrolle der Medien – dargestellt, mit denen sie wiederum ?unsere Gemeinschaft? bedrohen. Erst dadurch erfolgt die Selbstlegitimation des Antisemitismus, der dann als vermeintlich gerechtfertigte Abwehr der ?jüdischen Bedrohung? erscheint.(9) 
Für Silberner existiert dagegen eine Kontinuität von den Marxschen Frühschriften über die antireligiöse Politik bis zum Antisemitismus der Nachkriegszeit, wobei dem Antizionismus eine zentrale Rolle zugesprochen wird. Die Phase der sowjetisch-israelischen Freundschaft im Anschluss an die israelische Staatsgründung sowie den sowjetischen Anteil daran bewertet Silberner dann auch lediglich als Ablenkungsmanöver, mit dem die antizionistischen und antisemitischen Kontinuitäten verschleiert werden sollten.(10) 
Mit diesem Ansatz wird allerdings ein historischer und inhaltlicher Bruch im Bedeutungsgebäude des Antizionismus verdeckt: Das deutsche Projekt der Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen steht zwischen der Ablehnung eines jüdischen Nationalstaats in Palästina, wie sie Lenin formulierte, und dem späten, stalinistischen Antizionismus, wie er maßgeblich im Zuge des Slánský-Prozesses ausgearbeitet wurde. Lenin entwickelte seine Position im Rahmen der sowjetischen Nationalitätenpolitik. Nationale Selbstbestimmung lehnte er unter Verweis auf die dem Nationalismus immanente Spaltung der ArbeiterInnenklasse ab. Entsprechend vertrat Lenin bereits im russischen Bürgerkrieg die Forderung nach der Bekämpfung der Unterdrückung der einzelnen Nationen des Zarenreichs, gleichzeitig lehnte er aber ein nationales Selbstbestimmungsrecht und das Paktieren mit den nationalen Bewegungen vehement ab.(11) Diese Haltung findet sich ebenfalls wieder in der Auseinandersetzung mit dem Zionismus, sowohl seitens des Bund, der wichtigsten sozialistischen jüdischen Organisation in Osteuropa, als auch seitens der Bolschewiki. Beide hatten den Zionismus ?allesamt als jüdischen Nationalismus kritisiert, der die Arbeiterklasse spalte, von völkischem Denken geprägt sei, eine politisch falsche und unrealisierbare Lösung der jüdischen Frage vorspiegele und das Selbstbestimmungsrecht der arabischen Bevölkerung negiere, weshalb eine Konfrontation in Palästina unausweichlich sei.?(12) Ähnlich begründete Ablehnungen des Zionismus fanden sich auch unter nicht-sozialistischen Juden und Jüdinnen. Sie sahen ihre Perspektive ebenfalls im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und Emanzipation statt in der Auswanderung nach Palästina.
Davon muss der Antizionismus, wie er nach der Niederlage des Nationalsozialismus im Zuge der stalinistischen Schauprozesse formuliert wurde, unterschieden werden. Der Geschichtsoptimismus, wie er zentral für den frühen Antizionismus war, setzte gegen eine eigenständige nationale jüdische Organisation die Hoffnung auf die Nivellierung nationaler Differenz und auf die Emanzipation innerhalb der existierenden Nationalstaaten. Diese Hoffnung wurde durch den Holocaust radikal zerstört. Gleichzeitig wurde damit dem Antizionismus seine Grundlage entzogen. Diese Veränderung zeigt sich auch in der Haltung des damaligen stellvertretenden sowjetischen Außenminister, Andrej Gromyko, in der UN-Debatte über den Teilungsplan für Palästina, der die Gründung eines arabischen und eines jüdischen Staates vorsah. Dort vertrat Gromyko eine Position zugunsten der Teilung Palästinas und damit zugunsten der Gründung Israels. Diese rechtfertigte er damit, ?dass kein westeuropäischer Staat in der Lage gewesen ist, die Verteidigung des elementaren Rechts des jüdischen Volkes zu gewährleisten und es vor der Gewalttätigkeit der faschistischen Henker zu schützen. Dies erklärt die Bestrebungen der Juden, ihren eigenen Staat zu errichten. Es wäre ungerecht, dies nicht in Betracht zu ziehen und das Recht des jüdischen Volkes auf Verwirklichung dieser Bestrebung zu leugnen. Es wäre ungerechtfertigt, dem jüdischen Volk dieses Recht abzusprechen, insbesondere im Hinblick auf alles, was es erlitten hat einschließlich des Zweiten Weltkriegs.?(13) Entsprechend wurde auch in derPrawda(14) ein explizit pro-israelischer Ton angeschlagen. Dass es sich dabei nicht um ein bloßes Lippenbekenntnis handelte, wie Silberner unterstellt, wird daran ersichtlich, dass zur rein diplomatischen Unterstützung, ohne die eine Gründung Israels nur schwer möglich gewesen wäre, die Sowjetunion eine der wenigen Staaten war, die 1948 Waffen an Israel lieferten und damit die Verteidigung gegen den arabischen Angriff ermöglichte.(15)

Antizionismus als spezifisch marxistisch-leninistische Variante des Antisemitismus

Die moderne antizionistische Variante des Antisemitismus steht dementsprechend auch nicht in der Tradition des Leninschen Antizionismus. Die Vermutung, dass es sich auch auf der inhaltlichen Ebene um ein Novum handelt, kann bereits dadurch erhärtet werden, dass die antizionistischen Texte der späten Stalin-Ära ohne jeglichen Verweis auf die Schriften von Marx, Lenin oder Kautsky auskommen, auf die normalerweise bei jeder Gelegenheit zurückgegriffen wurde. Die erste kohärente Ausarbeitung der modernen antizionistischen Semantik findet sich im Slánský-Prozess. Während in den kurz zuvor durchgeführten stalinistischen Schauprozessen die Vorwürfe eine Unterstützung des ?bürgerlichen Nationalismus? konstruierten, sollte im Slánský-Prozess erstmals mittels der Betonung des ?›Zionismus‹ die Juden unter den Westlern und Spanienkämpfern – und selbst unter den Moskowitern in den Vordergrund? geschoben werden.(16)
Dass Juden und Jüdinnen im Zuge der stalinistischen Schauprozesse als ?Zionisten? verfolgt werden, liegt in der Schwierigkeit begründet, Antisemitismus in die Weltsicht des Marxismus-Leninismus (ML) zu integrieren. Dass die Ideologie den Rahmen für die Interessen der politischen Eliten darstellte und durch diese nicht einfach ignoriert werden konnte, zeigt sich auch daran, dass selbst Stalin, bei dem es sich erwiesenermaßen um einen Antisemiten handelte, öffentlich die Bekämpfung des Antisemitismus propagierte.(17) Dem Anspruch nach handelt es sich um eine universalistische Ideologie, in der die Bestimmung des Feindes nach klassentheoretischen Kriterien zu erfolgen hat. Allerdings wird im ML die Wir-Gruppe bereits inkonsistent bestimmt. Es handelt sich dabei um das ?werktätige Volk?, das ?somit sowohl durch soziale als auch durch ›nationale‹ beziehungsweise ethnische Ein- und Ausschlussmechanismen definiert wurde?.(18) Dies
verdeutlicht sich in der politischen Selbstbezeichnung der ?Volksdemokratien?, hier wird der Begriff ?Volk? bereits in einem doppelten Sinn verwendet: einmal als ?Volk? und einmal als demos, d.h. es wird ?Volk? sowohl als politische Kategorie, nämlich als Gesamtheit der Staatsbürger, und in einem darüber hinausweisenden Sinn verwendet. Die einzige mögliche alternative Deutung wäre, dass der Begriff ?Volk? im Sinne von demos in der Bezeichnung ?Volksdemokratie? schlicht wiederholt wird. Stattdessen konstituiert sich das ?Volk? durch vorpolitische Eigenschaften, sei es durch sprachliche, ethnische, historische etc. Kriterien, und erhebt auf dieser Grundlage den Anspruch auf Staatlichkeit. Dass der Begriff ?Volk? auch nicht im Sinne sozialer Hierarchie, also der Unterscheidung von oben und unten, verwendet wird, kann eine Passage aus der Anklage im Slánský-Prozess verdeutlichen. Dort werden die ?Herzen aller unserer Werktätigen, der Erbauer einer schönen Zukunft unserer Völker? als positiver Bezugspunkt den ?amerikanischen Imperialisten? entgegengesetzt.(19) Die Erweiterung um eine nationale Begründung der politischen Herrschaft der KPs ist hauptsächlich den Imperativen der sowjetischen Machtausübung im Zuge der Expansion geschuldet. Nach dem Ende des NS wurde im Rahmen der ?Zwei-Lager-Doktrin?, dem sowjetischen Gegenstück zur Truman-Doktrin, der Anspruch der UdSSR auf die Führung über das sozialistische Lager formuliert. Damit war aber eine Situation gegeben, in der die Sowjetunion die Führung über zahlreiche Staaten beanspruchte, in denen weder ihr, noch den kommunistischen Parteien gegenüber ein freundliches Klima vorherrschte, entsprechend wurde der Führungsanspruch nicht nur klassentheoretisch, sondern auch national untermauert. 
Mit dieser doppelten Bestimmung der positiven Bezugsgruppe geht allerdings einer der wichtigsten Eigenschaften des Klassenbegriffs verloren, die Infragestellung nationaler Gemeinschaften. Der Klassenantagonismus verläuft nun nicht mehr innerhalb des ?Volkes?, stattdessen werden die KapitalistInnen als außerhalb stehend definiert. Dies alleine allerdings reicht noch nicht für den Ausschluss der Juden und Jüdinnen aus der Gemeinschaft der ?werktätigen Völker?. Da es sich beim Status von ?Werktätigen? um einen klassentheoretischen handelt, ist er Juden und Jüdinnen nur unter Preisgabe des zentralen theoretischen Paradigmas des ML zu verwehren. Auch die Unterscheidung zwischen dem ?eigenen werktätigen Volk? und den Juden und Jüdinnen würde nicht ausreichen, da auch die anderen ?werktätigen Völker? im Rahmen des proletarischen Internationalismus und der ?Völkerfreundschaft? affirmiert werden. Genau dadurch aber sperrt sich die Semantik des ML gegen offenen Antisemitismus. Vielmehr kann die Ausgrenzung von Juden und Jüdinnen nur in versteckter Form erfolgen. Diese Verschleierung erfolgt durch die Ersetzung des ?jüdischen? durch ?zionistisches?.(20) So wird im Slánský-Prozess gefordert, sich mit der ?sogenannten zionistischen Bewegung […] zu befassen?, u.a. weil ?sich unter den Beschuldigten elf befinden, die durch die Schule zionistischer Organisationen gegangen sind?.(21) Worin genau diese zionistische Ausbildung bestehen sollte, wurde nicht offen ausgesprochen, sondern lediglich angedeutet, indem z.B. bei der Eröffnung des Prozesses die ?jüdische Abstammung? der Angeklagten hervorgehoben wird.(22) Der Zionismus selbst wird wiederum als ?Agentur des amerikanischen Imperialismus dargestellt?, des Weiteren seien die ?zionistischen Organisationen schon immer mit tausendfachen Fäden ihrer inneren Interessen mit dem Weltkapitalismus verknüpft? gewesen.(23) Diese Verknüpfung bleibt allerdings unklar: Selbst wenn ?zionistische Organisationen? nicht als nationale Organisationen mit dem Ziel der israelischen Staatsgründung, sondern lediglich klassentheoretisch als jüdische KapitalistInnen verstanden werden, stellt sich immer noch die Frage, was den besonderen Anteil des ?Jüdischen?, bzw. ?Zionistischen? am ?Weltkapitalismus? ausmacht. Die Unklarheit verschwindet erst, wenn Zionismus und ?jüdisches Volk? gleichbedeutend sind, dann reproduziert diese Passage die antisemitische Verbindung von Juden und Jüdinnen mit dem Kapitalismus. 
Mit der Verschleierung als ?Zionismus? kann der Antisemitismus in den ML integriert werden, ?indem einerseits die Klassenbegrifflichkeit nicht gefährdet, sie andererseits aber auf das Jüdische möglichst nicht angewendet wird?.(24) Entsprechend wird Israel auch nicht als souveräner Staat, sondern als eine Art Außenposten oder Verwaltungsbezirk der USA vorgestellt – der ?amerikanische Paschalik?, bzw. der ?sogenannte Staat Israel?.(25) Besonderes Augenmerk muss auf die Konstruktion der ›zionistischen Agenten‹ gelegt werden. Sie würden den Umstand ausnutzen, ?dass dem tschechischen und slowakischen Volk der Antisemitismus stets zuwider war, und um so mehr nach dem zweiten Weltkrieg, da die Hitlerfaschisten, von Rassenwahn ergriffen, die Juden in massenhaftem Ausmaß in Konzentrationslagern und Gaskammern hinmordeten. Eben diesen Umstand benützten verschiedene jüdische Geschäftemacher, Fabrikanten und bürgerliche Elemente dazu, um sich in unsere Partei einzuschleichen, sich mit einem Panzer gegen jegliche Kritik zu wappnen und ihr wahres Gesicht geschworener Klassenfeinde mit dem Leiden der Juden zur Zeit der wütenden Naziherrschaft zu verhüllen?.(26) Damit wird aber deutlich gemacht, dass gerade Juden und Jüdinnen als ?zionistische? Agenten prädestiniert sind, folglich aber auch unter besondere Beobachtung gestellt werden müssen.
Funktional für die Gesellschaftssysteme ?auf dem Weg zum Sozialismus? waren die Schauprozesse und der mit ihnen formulierte Antisemitismus aus zwei Gründen: Zum Einen dienten die Schauprozesse dazu, eine nationalistische Legitimation für die lediglich formal selbstständigen sozialistischen Staaten zu liefern. ?Die Nachkriegsprozesse sind keine bloße Kopie der Moskauer Säuberungen […]. Der größte Unterschied besteht dabei in der Zielsetzung: Der Große Terror der dreißiger Jahre diente der Errichtung der Alleinherrschaft Stalins in der Sowjetunion – die osteuropäische Mordwelle hingegen hatte den Zweck, die totale Unterwürfigkeit der Satellitenstaaten durchzusetzen, die vom Henkerstrick verschonten Parteiführer in Statthalter des Kolonialreiches zu verwandeln.?(27) Entsprechend unterschieden sich auch die Opfer von denen der Prozesse der dreißiger Jahre, sie ?waren keine Oppositionellen, sondern treue Schüler Stalins. Sie standen auf dem Gipfel ihrer neu errungenen Macht, als sie von ihrem Meister für die Rolle des Opfers auserwählt wurden.?(28)
Zum Anderen konnte damit an den in der Bevölkerung vorhandenen Antisemitismus angeknüpft und ein entsprechendes Feindbild bereitgestellt werden, mit dem die ökonomischen Probleme der ?Volksdemokratien? erklärt werden konnten. Da die KPs sich als die entscheidende Kraft beim Aufbau des Sozialismus darstellten, waren sie folglich auch verantwortlich für die dabei entstehenden Probleme wie Fehlinvestitionen, Lebensmittelknappheit etc. Diese Probleme konnten nicht einfach auf äußere Einflüsse zurückgeführt werden, da sonst der Wahrheitsanspruch der Partei verloren gegangen wäre. Folglich musste ein Weg gefunden werden, damit umzugehen, ?dass viele Schwierigkeiten, die häufig als Begleiterscheinungen unseres raschen Aufbaus angesehen werden?(29), der Partei selbst angelastet wurden. Genau deshalb wurden hohe Parteifunktionäre als Schuldige präsentiert, womit die Schwierigkeiten als ?mit bösem Vorsatz durchgeführte[s] Werk eben dieser Verbrecher? erschienen.(30) 

Das Verhältnis der UdSSR zu Israel

Entgegen weit verbreiteter Ansichten leitete sich die sowjetische Nahostpolitik nicht unmittelbar aus dem Antizionismus her. Ursächlich dürften eher geostrategische Überlegungen im Kontext der Blockkonfrontation gewesen sein, die situationsabhängig ideologisch untermauert wurden. Gerade in den ersten Jahren nach der Gründung Israels fielen antizionistische Rhetorik und Nahostpolitik auseinander. So ging die Zerschlagung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees einher mit der Unterstützung der Gründung Israels. Damit verbunden war die Hoffnung auf eine Schwächung des britischen Kolonialismus im Nahen Osten und darauf, dass sich Israel im Kalten Krieg auf die sozialistische Seite schlagen würde. Diese Hoffnung gründete sich auf die Affinität der zionistischen Bewegung zu Antifaschismus und Sozialismus.(31) Die anfängliche proisraelische Haltung schwächte sich allerdings im Verlauf der fünfziger Jahre weitgehend ab, so dass bei Ausbruch der Suez-Krise 1956(32) die Sowjetunion eine neutrale Haltung an den Tag legte. Ausschlaggebend dafür dürften die israelischen Neutralitätsbestrebungen gewesen sein, die von der UdSSR als wenig glaubwürdig interpretiert wurden. Diese befürchtete, dass Israel den westlichen Angeboten nicht lange widerstehen würde. So wurden die sowjetischen Befürchtungen zu ?einer ›self-fulfilling prophecy‹: Statt Israels Neutralitätsbestrebungen durch vermehrte Kooperation zu stärken, trugen sie zu der von ihr bekämpften Westausrichtung Israels bei.?(33) Verstärkt wurde die sowjetische Haltung noch dadurch, dass sich der arabische Befreiungsnationalismus zunehmend an der Sowjetunion orientierte. Gegenüber den israelischen Neutralitätsbestrebungen, denen die UdSSR nur geringe Erfolgsaussichten beimaß, stellte der dezidiert parteiische arabische Antiimperialismus die attraktivere geopolitische Option dar. Dies resultierte in den ab 1955 einsetzenden Waffenlieferungen an Ägypten.(34) Gleichzeitig konnte die UdSSR mit dem Antizionismus an ein bereits etabliertes Deutungsmuster des Nahostkonflikts anknüpfen. Entsprechend wurde auch die antizionistische Rhetorik nach dem Tod Stalins nicht zurückgenommen, obwohl die Urteile der Schauprozesse im Zuge der Entstalinisierung revidiert wurden – was freilich weder die Vollstreckung der Todesurteile noch die Folternarben rückgängig machen konnte. Dass aber dennoch das geostrategische Motiv überwog, lässt sich daran ersehen, dass bis 1967 die Mehrzahl der von der UdSSR an Ägypten gelieferten Waffensysteme entweder veraltet oder defensiver Art waren. Damit sollte zwar die ägyptische Regierung angefüttert werden, andererseits aber eine Situation, die die USA zum militärischen Eingreifen im Nahen Osten gezwungen hätte, vermieden werden.(35) Während im Verhältnis zu Israel die antizionistische Ideologie durch die geostrategischen Interessen reguliert wurde, wurde der Antizionismus in den sozialistischen Ländern im Zuge des Sechstagekrieges noch intensiviert. Veränderung trat auch dort nur durch die einsetzende Entspannungspolitik ein, die einer begrenzten Zahl von Juden und Jüdinnen die Emigration nach Israel ermöglichte.(36)
Der Antisemitismus konnte also weder im Gesellschaftssystem der sozialistischen Staaten, noch in der Legitimationsideologie des ML eine zentrale Rolle spielen. Dennoch wurde er, soweit es als funktional betrachtet wurde, bedient und gepflegt. Der universalistische Anspruch des Marxismus wirkte als Damm gegen offene Judenfeindschaft, dennoch war auch er nicht davor gefeit, eigene Formen des Antisemitismus zu entwickeln. Daran wird auch ersichtlich, dass alleine die Berufung auf die Tradition der Aufklärung kein ausreichendes Mittel zur Immunisierung gegen den Antisemitismus darstellt. Die Renaissance des Antisemitismus in den postsozialistischen Ländern lässt sich gerade über dessen Tradierung in der Form des Antizionismus erklären. Dieser stellte ein gesellschaftliches Reservat dar, in dem die Judenfeindschaft überleben konnte. Da mit dem Zusammenbruch des Sozialismus auch dessen Legitimationsideologie ihre Verbindlichkeit verlor, verschwand auch der Zwang zur Verschleierung, so dass der Antisemitismus wieder offen gelebt werden kann.

ANMERKUNGEN

(1) Zit. n. Ulrich Herbeck, Antisemitismus in der frühen Sowjetunion, Berlin 1998, 43.

(2) Vgl. ebd., 33.

(3) Wladimir Iljitsch Lenin, Über die Pogromhetze gegen die Juden, in: Iring Fetscher (Hrsg.), Marxisten gegen Antisemitismus, Hamburg 1974, 170.

(4) Einer der Mitangeklagten Slánskýs.

(5) Artur London, Ich gestehe. Der Prozess um Rudolf Slánský, Berlin 1991.

(6) Beispielsweise Edmund Silberner, Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunismus, Opladen 1983, sowie Martin W. Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, Frankfurt/M. 1990.

(7) Ebd., 9.

(8) Ebd., 73ff.

(9) Vgl. Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, 161.

(10) Ebd., 205ff.

(11) Vgl. Herbeck, Antisemitismus, 17ff.

(12) Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002, 428f.

(13) Zit. n. Peter Brod, Die Antizionismus- und Israelpolitik der UdSSR. Voraussetzungen und Entwicklungen bis 1956, Baden-Baden 1980, 58.

(14) Die Prawda wurde 1914 von Lenin gegründet und avancierte später zum Organ des ZK der KPdSU.

(15) Vgl. Brod, Antizionismus, 69-73.

(16) Paul Lendvai, Antisemitismus ohne Juden. Entwicklungen und Tendenzen in Osteuropa, Wien 1972, 229. Als ?Westler? wurden die KommunistInnen bezeichnet, die während des NS nicht in die Sowjetunion, sondern in westliche Länder emigrierten.

(17) Beispielsweise in Josef W. Stalin, Über den Antisemitismus. Antwort auf eine Anfrage der Jüdischen Telegrafenagentur aus Amerika, 1931, in: Ders., Werke, Bd. 13, Berlin (Ost) 1955.

(18) Haury, Antisemitismus von links, 441.

(19) Prozess gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slánksý an der Spitze, hrsg. v. Justizministerium der DDR, ohne Ortsangabe, 598.

(20) Vgl. Holz, Nationaler Antisemitismus, 456, sowie Haury, Antisemitismus von links, 442f.

(21) Prozess, 612.

(22) Ebd., 53f.

(23) Ebd., 612.

(24) Holz, Nationaler Antisemitismus, 465f.

(25) Prozess, 612. Als Paschalik wird das Territorium bezeichnet, über das ein Statthalter (Pascha) im Osmanischen Reich herrschte.

(26) Ebd., 613f.

(27) Georg Hermann Hodos, Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-54, Zürich 1988, 14.

(28) Ebd., 11.

(29) Prozess, 599.

(30) Ebd., 599.

(31) Vgl.
Brod, Antizionismus, 64ff.

(32) 1956 verstaatlichte der ägyptische Präsident Nasser den Suezkanal und sperrte ihn u.a. für die israelische Schifffahrt, was von israelischer, französischer und britischer Seite als casus belliinterpretiert wurde.

(33) Brod, Antizionismus, 82.

(34) Vgl. Udo K. Ulfkotte, Interessenspezifische Nahostpolitik der Großmächte im Nahen Osten 1948-1979, Frankfurt/M. 1984, 9.

(35) Vgl. ebd., 11.

(36) Vgl. Lendvai, Antisemitismus ohne Juden, 8, sowie Gerd Koenen, Mythen des 21. Jahrhunderts? Vom russischen zum Sowjet-Antisemitismus – ein historischer Abriss, in: Ders. und Karls Hielscher, Die schwarze Front. Der neue Antisemitismus in der Sowjetunion, Reinbek 1991, 219.

== PHASE 2, Leipzig==
[Nummer:24/2007]

Link auf diese Seite: phase2.nadir.org/index.php?artikel=463

Gudrun Eussner: Antisemit? Jakob Augstein? Nein!

14. JANUAR 2013

Das Problem entsteht aus dem Gebrauch unzutreffender Begriffe. Mit dem Begriff “Antisemitismus” ist es wie mit dem Begriff “Holocaust”. Mit beiden  verbinden Deutsche nichts, sie gehen sie nichts an, werden bei Bedarf ausgegrenzt, und Bedarf ist oft. Der Autor der “Gartenlaube” Wilhelm Marr hat “Antisemitismus” 1879 in die Welt gesetzt, um pseudowissenschaftlich zu verbrämen und zu rechtfertigen, was zu deutsch Judenfeindschaft, Judenhaß, Verachtung von Juden ist, ein Ressentiment. “Er trug damit zu einem neuen Wortschatz bei – einem, mit dem sich die jahrhundertealte Feindschaft gegenüber den Juden wirkungsmächtig ausdrücken ließ, ” schreibt das Deutsche Historische Institut Washington.


Im Fall von “Holocaust”, deutsch Brandopfer, handelt es sich nicht um einen  wissenschaftlichen, sondern um einen Kunstbegriff, einen Kunstgriff zur Entsorgung des Verbrechens. Das mag man Amerikanern und Ausländern, die sich am Verbrechen nicht beteiligt haben, durchgehen lassen, allen anderen nicht. “Holocaust” ist 1979 aus dem Französischen in die englische Sprache übernommen worden. Die Verschleierung um jeden Preis, wenn es um die Judenvernichtung geht, habe ich im ArtikelEx-Husband und Holocaust thematisiert. Bereits die Begriffe dokumentieren, daß sich niemand wirklich damit auseinandersetzen will. “Im Hegelschen Sinne wird das Grauen in einem unzugänglichen Begriff aufgehoben.” Gabriele Yonan hat 1989 das Wesentliche dazu gesagt. 

Der Begriff “Antisemitismus” führt in ein ähnliches Abseits, wobei die Möglichkeit, Muslime vom “Antisemitismus” freizusprechen durch den Hinweis, sie seien selbst Semiten, eine umgehend mit bis zu 1400 Jahre alten geschichtlichen Tatsachen zu widerlegende Randerscheinung ist gegen das, was in der westlichen Welt an Schindluder mit dem Begriff und seinem Adjektiv “antisemitisch” getrieben wird. Ganze “Antisemitismus-Unternehmen” leben davon, vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin (ZfA) bis zum Simon Wiesenthal Center (SWC).

Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, dann wäre er erbracht durch die Einordnung desJakob Augstein als Nr. 9 derjenigen, die weltweit “antisemitische” Äußerungen tun; denn das hat das SWC behauptet, nicht, daß er Antisemit wäre. Bei Eingabe von “Antisemitismus” in Google.de gibt’s knapp drei Millionen Ergebnisse. Wikipedia liefert, wie bestellt, das Argument. Erstens Antisemitismus (bis 1945). Was dort an Erklärungen zum Begriff abgegeben wird, paßt nicht auf Jakob Augsteins Äußerungen. So aber definieren Deutsche mehrheitlich den Antisemitismus.

Das zweite Angebot ist Judenfeindlichkeit, sie “bezeichnet eine pauschale Ablehnung der Juden und des Judentums. Der Begriff wird zerlegt in Antijudaismus, bei “überwiegend religiösen Gründen”, und Antisemitismus, bei sozialökonomischen, ethnisch-nationalistischen und rassistischen Gründen. Das Phänomen der Judenfeindlichkeit erscheine “seit etwa 2500 Jahren.” So alt ist Jakob Augstein nicht, und sowieso trifft auf ihn nichts von dem zu. Verleumdet, diskriminiert und unterdrückt er die Juden? Verfolgt und vertreibt er sie? Unterstellt er ihnen unveränderliche Eigenschaften? Äußert er sich pauschal judenfeindlich? Mit Religion hat er eh nichts zu schaffen, Antijudaismus kommt somit nicht in Frage.


Vom Antisemitismus (bis 1945) kommt man auf Antisemitismus (nach 1945). Dabei handelt es sich um nach WKII weiter bestehenden Judenhaß, um rassistische und antisemitische Vorurteile. Es geht um die “Weiterexistenz antisemitischer Stereotypen”. Dazu konsultiere man Antisemitismus (vor 1945), und siehe, das paßt ebenfalls nicht auf Jakob Augstein.

Damit nicht genug, bietet Wiki noch den Antisemitismus ohne Juden. Man ahnt es schon: Was dort aufgelistet wird, trifft ebenfalls nicht auf Jakob Augstein zu. Äußert er sich negativ über Juden “in Gegenden ohne jüdische Bevölkerung”? Verbreitet er “antisemitische Symbole in Bildern und Sprache”? “Der Begriff bezeichnet zugleich eine Form von Feindschaft gegen Juden, die nicht immer in expliziter Form auf traditionelle Feindbildmuster des Antisemitismus zurückgreift.” Das käme dem vielleicht nahe, aber die Auflistung der fünf Zitate aus dem SPIEGEL beziehen sich ausdrücklich auf Juden, jüdische Lobby-Gruppen, auf Israel, die israelis
che Regierung und auf das Opfer Gaza.


Wer Wikipedia nicht für das Maß aller Dinge hält in Sachen Antisemitismus und seiner Derivate, der google gern woanders. Es läuft immer wieder darauf hinaus: Die Definitionen und die sich auf sie stützenden Abhandlungen der Gegenwart sind im Raster des nationalsozialistischen “Antisemitismus” steckengeblieben. Zeitgenössische rechte, linke und islamische Judenfeindschaft werden mit beliebigen unzutreffenden Begriffen aus dem Steinbruch des Dritten Reiches belegt. Exemplarisch dazu sei auf die drei Essays von Elhanan Yakira: Holocaust-Leugnung und die Linke verwiesen.

Die Diskussion auf der Grundlage des pseudowissenschaftlichen Begriffs “Antisemitismus” führt ins Leere. Wer diskutiert überhaupt? Es sind Leute, die nicht einmal lesen können, was dort steht: 2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs. 2012. Die Top Ten antisemitischen/anti-israelischenBeleidigungen, Verleumdungen, Verunglimpfungen, üblen Bemerkungen. Jakob Augstein ist gleich mit fünf davon vertreten. 

Es sind nicht die ersten zehn Antisemiten aufgelistet, sondern die Verlautbarungen von zehn Personen und Gruppen. Warum schreiben sie nicht 2012 Top Ten anti-Semites? Traut sich das SWC nicht, oder stecken seine Verantwortlichen selbst in Zweifel darüber, was sie sagen? Bei “slurs” kann man sich zurückziehen, man habe die Person selbst zunächst einmal nicht gemeint?

Das SWC steht bis heute unter dem “wirkungsmächtigen” Begriff “Antisemitismus” und macht es sich somit sehr einfach. Rabbi Abraham Cooper schlägt um sich, und was nicht kräftig genug ist, bleibt auf der Strecke. Jakob Augstein ist aber kräftig genug, der fällt davon nicht um, im Gegenteil, der steigt empor wie Phönix aus der Asche.

Es wäre die Aufgabe des SWC, die Diskussionen auf den Begriff Ressentiment zurückzuführen. Nur mit dem Füllhorn der Synonyme für diesen französischen Begriff, englisch resentment, ist einem Jakob Augstein beizukommen.

Den fünf “slurs” wären der Reihe nach folgende Synonyme für Ressentiment zuzuordnen:

  1. Voreingenommenheit, Einseitigkeit, Parteilichkeit. In den USA arbeiten neben dem AIPAC auch andere solcher Gruppen, das islamische Pendant beispielsweise heißt CAIR. Das Lobbywesen in den USA ist ein anderes als in Deutschland.
  2. Voreingenommenheit, Verblendung, Einseitigkeit, Parteilichkeit. Die Aktivitäten des Iran zum Bau der Atombombe, genannt Iran Nuclear Energy Program, verbunden mit ständigen Drohungen der iranischen Regierung: Israel muß von der Oberfläche der Welt verschwinden, läßt er außen vor.
  3. Feindseligkeit, Vorurteil, Abneigung, Befangenheit. Die Gleichsetzung von Haredim mit islamischen Terrorgruppen ist durch keine Tatsache zu belegen. Hier ein kritischer Artikel:‘Israelis should stand up to haredim’, hier “haredim terror” und hier “islamic terror” israel.
  4. Feindschaft, Haß, Parteilichkeit, Verblendung Abneigung, Antipathie, Ekel, Neid, Mißgunst. Nicht die Araber macht er verantwortlich für den “arabischen Frühling”, die Muslimbrüder, Katar, Saudi-Arabien, sondern die Araber sind Opfer. Die Gewalt nutze den US-Republikanern und Israel. Nicht nur den US-Demokraten, sondern auch den übrigen beteiligten Mächten spricht er Mitwirkung, Verantwortung und Nutzen ab, Frankreich, der Türkei, dem Iran, Rußland, China. Deutschland kommt vor als zertretene Nationalflagge.
  5. Voreingenommenheit, Einseitigkeit, Parteilichkeit, Verblendung. Israel kann nichts dazu, daß inGaza 1,7 Millionen Menschen auf 360 qkm leben. Für seinen Platz am Ende der Welt geht’s dem Streifen recht gut, auch dank der Tonne Hilfsgüter und Lehrbücher aus Frankreich.

Jakob Augstein ist demnach tatsächlich kein Antisemit gemäß den obigen Definitionen des “Antisemitismus” und seiner Derivate. Nichts von allem trifft zu. Er betrachtet allerdings Israel nicht wie jeden anderen S
taat, die USA auch nicht (siehe Punkt 4), er entscheidet, daß und wann Israel das Völkerrecht bricht. Im Gespräch mit dem Präsidenten des ZdJ Dieter Graumann zeigt er die Wirklichkeitsverweigerung und Orientierungslosigkeit eines von Ressentiments verstellten Menschen, der nicht einmal ahnt, worum es geht. Nebenbei wird seine mangelhafte Bildung deutlich, über die man allerdings froh sein sollte, weil er sonst noch mehr Schaden anrichten würde.



Siehe auch:

Die Intellektuellen dieser Republik, die sonst jedem Zeitgeist auf der Spur sind, klammern sich an einen Begriff von Antisemitismus, der so alt und verstaubt ist wie eine mechanische Schreibmaschine aus den 30er-Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Antisemitismus – das ist die SA und die SS, die Endlösung und der Holocaust, Auschwitz und Nürnberg. Sie weigern sich einzusehen, dass auch der Antisemitismus mit der Zeit geht, dass er ein dynamisches und kein statisches Phänomen ist, dass er sich laufend ändert und vor allem: den Antisemitismusforschern immer um mindestens eine Nasenlänge voraus ist. Wie die Hacker den IT-Experten.

Die modernen Antisemiten argumentieren subtil
Von Henryk M. Broder, WELT, 8. Januar 2013


Über Theodor Lessing – Der jüdische Selbsthass

Die Anregung zu einer wissenschaftlichen
Werkausgabe Theodor Lessings geht auf den Biografen Rainer Marwedel zurück, der
im Jahre 1990 für seine Lessing-Biografie den Carl von Ossietzky-Preis der
Stadt Olden­burg erhalten hat und auch an der Erarbeitung der Ausgabe mitwirken
wird. Eine bemer­kenswerte Zufälligkeit ist, dass der Enkel Theodor Lessings
Professor an der Univer­sität Oldenburg ist, der Informatiker Peter Gorny,
dessen Familienarchiv schon für die Vorarbeiten genutzt werden konnte. Mit dem
bevorstehenden Abschluss der Vorarbeiten wird ein Generationswechsel in der
Leitung verbunden sein; sie wird in den Händen der Literaturwissenschaftlerin
Sabine Doering liegen. Die Interdisziplinarität bleibt durch die
Wissenschaftlichen Mitarbeiter und eine beratende Mitwirkung der Politikwis­senschaftler
Gerhard Kraiker und Joachim Perels (Uni Hannover) gewährleistet.

Ein
großer Publizist der Weimarer Republik – Theodor Lessing


D
er
Kulturphilosoph Theodor Lessing (1872-1933) mag dem heutigen inter­essierten
Publikum schon einmal begegnet sein, etwa durch seine 1925 erschienene Studie
über den berüchtigten Hannover­schen Serienmörder Fritz Haarmann. Auch die
Schrift „Der jüdische Selbsthaß“ von 1930 gehört noch heute zu den bekannteren
Werken. Zumindest der Titel dieses Werks ist weithin geläufig. Lessings
philosophische Arbeiten dagegen, etwa seine „Studien zur Wertaxiomatik“, seine
Sammlung „Phi­losophie als Tat“ oder die kulturkritische Abhandlung „Europa und
Asien“ sind nur einem engen Fachpublikum vertraut. We­niger bekannt ist auch,
dass der Philosoph zugleich als Mediziner, Pädagoge und Psy­chologe, als
Dichter, als Theaterkritiker und -theoretiker sowie als politischer Publizist
schriftstellerisch tätig war. Selbst an seine hochaktuelle Studie zum Lärmschutz
und seine Initiative, eine Bewegung gegen den Lärm ins Leben zu rufen, erinnert
sich kaum noch jemand, was nicht zuletzt daran liegt, dass sein außerordentlich
umfangreiches, weit verstreut erschienenes publizistisches Werk – mehr als
fünfhundert Artikel, Essays, Glossen oder Feuilletons – bis heute nicht
vollständig erschlossen ist und lediglich in einigen Auswahlausgaben vorliegt.

Wer
war dieser Autor, der einerseits zwei­fellos zu den großen kritischen
Publizisten der Weimarer Republik gehört, dem auf der anderen Seite der Ruf
eines Außenseiters und eines Unzeitgemäßen anhaftet und dessen facettenreiches
Werk bisher nur in der Biografie von Rainer Marwedel eine erste angemessene
Aufarbeitung erfuhr? Eine grobe Skizze muss hier genügen.

Theodor
Lessing war der Sohn eines an­gesehenen jüdischen Arztes aus Hannover. Auf
Wunsch des Vaters studierte er zunächst Medizin, wandte sich dann der
Psychologie und Philosophie zu, worin er schließlich im Jahr 1899 mit einer
Arbeit über den russi­schen Philosophen Afrikan Spir promovierte. Nebenbei
verfasste er einen Roman, mehrere Theaterstücke und Gedichtsammlungen, die zwar
publiziert wurden, aber kaum Beachtung fanden. In den folgenden Jahren
arbeitete Lessing als Lehrer an reformpäd­agogischen Schulen, hielt Volkshochschul­vorträge,
aus denen seine Einführung in moderne Philosophie „Schopenhauer, Wag­ner,
Nietzsche“ entstand, die 1906 erschien. Darin entwickelt Lessing seine
„Philosophie der Not“, die Not als materialen Kern und Triebkraft der
geschichtlichen Phänomene erklärt. 1907 habilitierte er sich mit einer Schrift
zur Kant’schen Ethik, erhielt 1908 eine Privatdozentur an der Technischen
Universität Hannover, wurde 1923 zum außerordentlichen Professor ernannt und
erhielt einen Lehrauftrag für Philosophie der Naturwissenschaften.

Der
Euphorie des Ersten Weltkriegs verfiel Lessing nicht, im Gegensatz zu vielen an­deren
Intellektuellen. Er arbeitete als Laza­rettarzt und schrieb an seinem Buch
„Europa und Asien“, einer kulturkritischen Gegen­überstellung von asiatischer
Lebensweise und europäisch-technischer Zivilisation, das, von der Militärzensur
verboten, erst 1918 erscheinen konnte. Unter dem Eindruck des Krieges entstand
auch sein Werk „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ (1918), das Geschichte
– die Aktualität ist unübersehbar – als eine Konstruktion von Wunschbildern
begreift, die häufig genug zur Legitimation von Gewaltakten dienen.

Vom
Bücherschreiben war keine Familie zu ernähren, so dass Lessing gezwungen war,
auch nach dem Krieg seine mühevolle publizistische Arbeit wieder aufzunehmen.
Daran änderte auch seine Hochschullehrer­stelle nichts, denn man verweigerte
ihm die Verbeamtung und sein Entgelt war minimal. Vor dem Krieg hatte Lessing
re­gelmäßig Theaterkritiken für die „Göttinger Zeitung“ oder Aufsätze über das
Theater in Siegfried Jacobsohns „Schaubühne“ geschrieben. Außerdem publizierte
er in den Zeitschriften „Die Gegenwart“, „Die Gesellschaft“, „Nord und Süd“.
Nach dem Krieg veröffentlichte er in politisch-kulturellen Zeitschriften bzw. Zeitungen
wie „Das Tage-Buch“, der „Aktion“, dem „Prager Tagblatt“ und dem „Dortmunder
Generalanzeiger“.


Lessing war ein streitbarer Publizist. So führ­te z.B. seine 1910 erschienene
boshafte Satire über den Literaturkritiker Samuel Lublinski, den Lessing als
Repräsentanten eines as­similierten, „verfehlten Kulturjudentums“ ansah, zum
öffentlichen Protest zahlreicher Publizisten und Schriftsteller.


Lessings lebenslange Auseinandersetzung mit der Welt der Ostjuden wie mit dem
Typus des assimilierten jüdischen Intellektuellen, mit dem Zionismus oder mit
der Psycho­pathologie des jüdischen Selbsthasses war zugleich ein Ringen um die
eigene Identität als deutsch-jüdischer Intellektueller. 1925 löste die schon
erwähnte, aus einer Serie von Prozessberichten entstandene Haarmann-Studie
einen Skandal aus, weil Lessing darin den Weltkrieg mit dem Massenmörder in
Beziehung setzte und auf den schmalen Trennstrich zwischen Barbarei und
Zivilisa­tion aufmerksam machte. Zu einer heftigen öffentlichen
Auseinandersetzung führte im gleichen Jahr seine anlässlich der anste­henden
Reichspräsidentenwahl verfasste hellsichtige Warnung vor dem Kandidaten
Hindenburg. Nach einem von nationalen und völkischen Gruppen initiierten
Vorlesungs­boykott und der Gründung eines „Kampf­ausschusses gegen Lessing“
wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen, er musste fortan mit einem schlecht
dotierten Forschungsauftrag vorlieb nehmen.

 

Spätestens seit dieser Affäre war
Lessing in rechtsnationalen und antisemitischen Krei­sen einer der
meistgehassten Publizisten. Im März 1933 sah er sich zur Emigration gezwungen.
Er ging zunächst nach Prag, kurz darauf nach Marienbad, um sich dort mit seiner
Familie niederzulassen und eine Schule für jüdische Emigrantenkinder zu
eröffnen. In Deutschland wurden unterdessen seine Bücher verbrannt. Bereits im
Juni war in sudetendeutschen Zeitungen zu lesen, die deutsche Regierung habe
auf ihn eine Prämie von 80.000 Reichsmark ausgesetzt. In der Nacht des 30.
August 1933 wurde Lessing von zwei sudetendeutschen Nationalsozia­listen
ermordet.

Ein
Beitrag zur Wiederentdeckung

Eine noch von Lessing
selbst geplante Ausgabe seiner Schriften kam nicht mehr zustande. Es erschienen
lediglich seine Erinnerungen als erster einer auf zehn Bände ausgelegten
Edition. Den unter ande­rem von Bertrand Russell, Albert Einstein, Romain
Rolland und Max Brod unterstütz­ten Plan einer Gesamtausgabe machte der Zweite
Weltkrieg zunichte. Danach wurden einige von Lessings selbständigen Publi­kationen
wieder gedruckt, aber ebenso wie die Sammlungen seiner kleineren Schriften
waren diese Neudrucke als Leseausgaben konzipiert, die weder eine textkritische
Aufbereitung noch einen eingehenden Kommentar bieten. Eine wissenschaftlich
edierte und kommentierte Ausgabe der Ge­sammelten Schriften fehlt bis heute.
Dabei könnte eine solche Edition, wie sie an der Universität Oldenburg in
Zusammenarbeit mit Hannoveraner Wissenschaftlern und dem Göttinger Wallstein
Verlag entstehen soll, der Erforschung des Lessing’schen Werks einen wertvollen
Dienst erweisen, in­dem sie vor allem eine gesicherte Textbasis herstellen, die
bisher nur zum kleineren Teil edierten publizistischen Arbeiten versam­meln und
das Werk in seiner ganzen Breite und Vielfalt erstmals zugänglich machen würde.
Ein Kommentar könnte neben den üblichen Sach- und Worterläuterungen, der
Aufklärung von Anspielungen oder Angaben zu genannten Personen Informa­tionen
zum fachspezifischen oder histo­rischen Kontext der Texte bieten. Gerade die
publizistischen Texte sind häufig eng an ihren Publikationskontext gebunden,
den ansatzweise zu rekonstruieren für ein heutiges Textverständnis unerlässlich
ist, wie die beiden Oldenburger Vorgängeredi­tionen zeigen.

 

Zu entdecken wäre ein Autor, der in
seinem die Grenzziehungen wissenschaftlicher Disziplinen überschreitenden
Denken und Schreiben als Kulturwissenschaftler par excellence gelten kann. Sein
Werk spiegelt in der kritischen Akzentuierung der Moder­nisierungsprozesse in
beeindruckender Weise die intellektuellen, kulturellen, sozialen und
politischen Umbrüche der Moderne in Kai­serreich und Weimarer Republik wider
und kann in vieler Hinsicht als originärer Beitrag zu der seinerzeit schon
begonnenen Debatte um die Dialektik der Aufklärung gelten. Und nicht zuletzt
zeigen sich in Lessings Werk die Probleme jüdischer Assimilation/Akkultura­tion
in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

„Der jüdische Selbsthass“ online: http://archive.org/stream/DerJdischeSelbsthass

Lizas Welt: Freispruch für Deutschland

5. Januar 2013, 


In der Debatte über die Berufung von Jakob Augstein auf eine Liste des Simon Wiesenthal Centers haben sich die Grenzen des Unsäglichen in Bezug auf die »Israelkritik« erneut verschoben. Noch die übelsten Tiraden gegen den jüdischen Staat sind – so meint eine ganz große Koalition von FAZ bis taz und von CDU bis Linkspartei – schlimmstenfalls grenzwertig, keinesfalls aber antisemitisch.

Es fängt schon mit simplen Fehlern im Rüstzeug an. Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit sollten sich als Prinzipien für jeden Journalisten eigentlich von selbst verstehen, doch ist es damit hierzulande oftmals nicht allzu weit her, auch diesmal nicht. Denn was soll das Simon Wiesenthal Center (SWC) getan haben, folgt man führenden deutschen Medien, die sich in dieser Frage nahezu wortgleich äußern? Es habe den Publizisten Jakob Augstein »auf eine Liste der zehn schlimmsten Antisemiten der Welt gesetzt«, glaubt der Tagesspiegel, »auf Platz 9 seiner jährlichen Liste der schlimmsten Antisemiten gesetzt«, meint die Tagesschau, »auf Platz neun einer Liste der weltweit zehn schlimmsten Antisemiten gesetzt«, behauptet dieFrankfurter Rundschau, »zu einem der schlimmsten Antisemiten der Welt erklärt«, beteuert die Zeit, »auf Platz neun der Liste der zehn schlimmsten Antisemiten« nominiert, ist die FAZ überzeugt, »auf einer Rangliste der schlimmsten Antisemiten der Welt auf Platz neun gesetzt«, schreibt Spiegel Online, »auf Platz neun der gefährlichsten Antisemiten weltweit verortet«, erklärt die taz. Knapp daneben ist auch vorbei, kann man da nur konstatieren.

Die besagte Liste umfasst in Wahrheit nämlich die »2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs« – also die zehn aus Sicht des SWC erwähnenswertesten antisemitischen respektive antiisraelischen Verunglimpfungen des vergangenen Jahres –, ist also wesentlich eher eine Sammlung markanter Zitate als ein Fahndungsaufruf. Und dasZiel ist es dabei offenkundig auch weniger, eine Rangliste entlang der machtbedingten Gefährlichkeit der Urheber dieser Zitate zu erstellen, als vielmehr, plakativ zu verdeutlichen, wie beängstigend groß das Spektrum des Judenhasses weltweit ist und wie sich der massenkompatible Antisemitismus in den einzelnen politischen Lagern äußert, selbst bei vermeintlich unverdächtigen, seriösen Akteuren. So erklärt sich auch, warum bei der Erstveröffentlichung der »Top Ten« im Jahr 2010 die renommierte amerikanische Journalistin Helen Thomas, immerhin dienstältestes Mitglied des White House Press Corps, auf dem ersten Platz landete und ein Jahr späterder griechische Komponist und Politiker Mikis Theodorakis, eine Ikone der Linken, Dritter wurde. Ebenfalls in den letzten Jahren dabei: ein Mitglied der EU-Kommission, ein populärer Filmregisseur, ein prominenter Pastor und sogar die sozialen NetzwerkeFacebook und Twitter.

Auch zwei Deutsche schafften es schon vor Augstein mit antisemitischen Äußerungen in die »Top Ten« des SWC: Thilo Sarrazin im Jahr 2010 und Hermann Dierkes zwölf Monate später. Darüber echauffiert hat sich damals allerdings kaum jemand: Bei dem einen interessierten sich die Medien erheblich mehr für dessen Äußerungen zum Islam, und der andere ist ein derartig bockbeiniger Desperado, dass ihn außerhalb der Linkspartei kaum jemand verteidigen mochte. Augsteins Nominierung dagegen sorgt nun für eine Welle der Empörung in nahezu sämtlichen Medien und in fast allen politischen Lagern (selbst beim Zentralrat der Juden in Deutschland, der augenscheinlich nach dem Motto »Lieber mit der Rotte heulen als im Abseits stehen«verfährt). Nicht wenige glauben, dem SWC allerlei Ratschläge erteilen zu müssen, wie es seine »Top Ten« zu gestalten und welche Kriterien es dafür zugrunde zu legen habe. In Abwandlung von Karl Luegers Diktum »Wer Jude ist, bestimme ich« heißt es nun: »Wer Antisemit ist, bestimmen wir« – und nicht etwa eine jüdisch-amerikanische Organisation, deren Namensgeber, ein Überlebender der Shoa, die »Suche nach Gerechtigkeit für Millionen unschuldig Ermordeter« zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte.


Das Gerücht über die Juden

Dabei gibt es beste Gründe, Augstein einen Antisemiten zu nennen, wie insbesondere Henryk M. Broder in der Welt, Rainer Trampert in Konkret und Stefan Gärtner in derTitanic (sic!) überzeugend nachgewiesen haben. »Die fantasierte jüdische Weltherrschaft«, so resümiert Trampert, »die Weltkriegsgefahr, die Aufregung über eine Fiktion und die Gleichgültigkeit gegenüber realen Kriegen und Kriegstoten, die Insinuationen, dass Israel hinter dem Mohammed-Film, dem Krieg in Syrien und der iranischen Bombe stecke und die Toten in den innerarabischen Machtkämpfen zu verantworten habe, die Wiederholung der Lüge vom Juden, der aus dem Antisemitismus Profit schlage, diese ganze Sammlung perfider Projektionen zeigt eine Verblendung, die mit einer Kritik an Aspekten israelischer Politik nichts mehr zu tun hat.« Hinzu gesellt sich noch der altbekannte Trick, »sich als Verfolgte[r] darzustellen«, wie Adorno analysierte, »sich zu gebärden, als wäre durch die öffentliche Meinung, die Äußerungen des Antisemitismus heute unmöglich macht, der Antisemit eigentlich der, gegen den der Stachel der Gesellschaft sich richtet, während im Allgemeinen die Antisemiten doch die sind, die den Stachel der Gesellschaft am grausamsten und am erfolgreichsten handhaben«. Oder, um es mit Stefan Gärtner zu formulieren: »Dass die Juden uns den Mund verbieten, ist das Gerücht über die Juden, das nach Adorno der Antisemitismus ist. Wer glaubt, dass es wahr sei, ist ein Antisemit. Augstein ist einer.«

Dass er nun trotzdem nahezu unisono freigesprochen wird, liegt maßgeblich daran, dass diejenigen, die sich zu seinen Anwälten aufschwingen, keinen Begriff vom (modernen) Antisemitismus haben und sich in Bezug auf Israel in der Regel kaum bis gar nicht von Augstein unterscheiden. »Die meisten wollen Augsteins antisemitisches Potenzial schlicht nicht erkennen, weil sie es mit ihm teilen«, schreibt Jennifer Nathalie Pyka zu Recht. Augsteins Auslassungen über den jüdischen Staat und seine Regierunghält beispielsweise der Zeit-Autor Frank Drieschner bloß für »triviale Feststellungen«, Nils Minkmar befindet in der FAZ, sie entstammten »keinem vagen Ressentiment«, sondern entsprächen »der Wahrheit«, und Christian Bommarius urteilt in derFrankfurter Rundschau, Augstein nehme sich »lediglich die Freiheit, die Regierung Netanjahu dafür zu kritisieren, wofür sie alle Welt kritisiert« – so, als wäre der fundamentale Unterschied zwischen Kritik und Ressentiment eine Frage von Mehrheiten. Henryk M. Broder hat die Unfähigkeit und den Unwillen, im Volkssport namens »Israelkritik« eine moderne und gefährliche Form von Judenhass zu erkennen, bereits im November 2011 auf den Punkt gebracht: »Für Antisemitismus gibt es in Deutschland seit 1945 einen klaren Maßstab: den Holocaust. Alles darunter ist eine Ordnungswidrigkeit.« Wenn nicht sogar ein Menschenrecht.

Und da Broder vom Simon Wiesenthal Center gewissermaßen als Gewährsmann für Augsteins Antisemitismus geführt wird, stürzen sich nun nicht wenige wie die Hyänen auf ihn. Niemand davon unternimmt auch nur den Versuch, Broders präziser und hellsichtiger Kritik mit Argumenten zu begegnen; an die Stelle einer inhaltlichen Auseinandersetzung treten teilweise hasserfüllte Beschimpfungen, die Bände sprechen. Der »Antisemiti
smusexperte« Klaus Holz etwa bezeichnet Broder im Deutschlandradioals »Pöbler«, Nils Minkmar nennt ihn in der FAZ den »Bud Spencer unter den deutschen Kommentatoren«, Joachim Petrick hält ihn in Augsteins Freitag für einen »hochtrabend dahergaloppierenden ruchlosen Rüstungslobbyisten des militärisch-psychiatrisch-pharmazeutischen Industriekomplexes der USA«. Für Christian Bommarius, Autor der Frankfurter Rundschau, ist der jüdische Publizist gar ein moderner Goebbels, der froh sein kann, dass er »bis heute frei herumläuft«. Es blieb Rabbi Abraham Cooper, dem stellvertretenden Direktor des SWC, vorbehalten, nüchtern klarzustellen: »Wir haben nicht mit Broder gesprochen, er hatte keinen Einfluss auf die Entscheidung. Aber ein Großteil unserer Mitglieder kennt Augstein nicht, deswegen wollten wir Broders Perspektive dazunehmen. Er ist ein in der jüdischen Gemeinde weltweit respektierter Wortarbeiter, und anders als wir ist er vor Ort in Deutschland. Augstein hat auf seine Kritik übrigens nie reagiert, das halte ich für sehr vielsagend.«


Die Grenzen des Unsäglichen

Apropos vielsagend: Kaum jemandem scheint aufgefallen zu sein, dass bereits die faktische Existenz einer ganz großen deutschen Koalition gegen das SWC und für Jakob Augstein, die von der FAZ bis zur taz und von der CDU bis zur Linkspartei reicht, einen Beweis dafür darstellt, wie falsch, um nicht zu sagen demagogisch die allenthalben – und natürlich auch von Augstein selbst – zu vernehmende Behauptung ist, der Antisemitismusbegriff werde inflationär verwendet und damit schändlich missbraucht. Ganz im Gegenteil ist durch die massive öffentliche Intervention zugunsten eines prominenten israelfeindlichen Publizisten – und genau das war ihr Ziel – die Grenze des Sagbaren (genauer: des Unsäglichen) noch einmal verschoben worden. Wer künftig behauptet, Israel führe »die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs«, gefährde den Weltfrieden und pferche Palästinenser in einem Lager namens Gaza zusammen, kann sich im Falle von Kritik bequem auf den Freispruch für Augstein berufen – der ein kollektiver Freispruch für Deutschlandist und zudem einem Persilschein für die gesamte »Israelkritik« gleichkommt. Selbst am Zentrum für Antisemitismusforschung ist man schließlich der Ansicht, dass derartige Äußerungen vielleicht »grenzwertig« sind, aber nicht antisemitisch (was das ganze Elend perfekt macht, doch keineswegs überraschend kommt).

Betrachtet man die gegenwärtige Debatte geschichtspolitisch, dann gesellt sich noch ein weiterer, nicht unwichtiger Aspekt hinzu: Nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Mauthausen hat Simon Wiesenthal alles daran gesetzt, nationalsozialistische Täter einem juristischen Verfahren zuzuführen, während sie in Deutschland geschützt und gedeckt wurden, Pensionen erhielten und wieder teilweise höchstrangige Ämter bekleiden durften. Als die meisten Altnazis nicht mehr lebten und es den Deutschen, nachdem sie sich wiedervereinigt hatten, schließlich auch noch gelang, einen finanziellen Schlussstrich unter die NS-Zeit zu ziehen, begannen sie, Mahnmale zu bauen, staatliche Gedenkveranstaltungen auszurichten, sich selbst für geläutert zu erklären und schließlich den moralischen Profit aus ihrer »Vergangenheitsbewältigung« einzufordern – wozu es auch gehört, die »Israelkritik« als »Lehre aus der Geschichte« zu verkaufen. Dass man diese Masche beim Simon Wiesenthal Center durchschaut, aus guten Gründen misstrauisch bleibt und auch deshalb regelmäßig Deutsche in die »Top Ten« der erwähnenswertesten antisemitischen Verunglimpfungen beruft, nehmen die Nachfahren und Erben der Täter dem Zentrum erkennbar übel.

Umso erfreulicher, dass man beim SWC nun Augsteins Nominierung bekräftigt und verteidigt. »Ich habe großes
Verständnis dafür, dass Henryk M. Broder Augstein wegen dessen Agitationen mit Julius Streicher vergleicht«, sagt Efraim Zuroff, der Direktor der Jerusalemer Dependance dieser Einrichtung. »Augstein misst beim Thema Israel mit zweierlei Maß, macht aus Tätern Opfer, klammert den Terror der Hamas vollkommen aus. Seine Äußerungen sind ganz und gar empörend, diffamierend und ekelhaft.« Und Rabbi Abraham Cooper fordert: »Augstein sollte sich bei seinen Lesern und dem jüdischen Volk entschuldigen.« Dass er das nicht tun wird, darf als sicher gelten – so sicher, wie das SWC auch am Ende dieses Jahres wieder reichlich Auswahl haben wird, wenn es darum geht, die Ausfälle eines deutschen »Israelkritikers«, der kein Antisemit sein will, in die »Top Ten« zu hieven.

Lesetipp: »Die Verhältnisse in Deutschland«, veröffentlicht auf dem Weblog Verbrochenes.

Quelle

Matthias Küntzel: Jakob Augstein und der Israelkomplex

Antisemitisch angehauchte Israelkritik ist in Deutschland längst mehrheitskompatibel – Jakob Augstein macht sie nun salonfähig. Wie ernst es ihm damit ist, zeigt ein Streitgespräch im “Spiegel”.

Einige von Ihnen werden sich noch an die Rede Martin Walsers in der Frankfurter Paulskirche aus dem Herbst 1998 erinnern, in der er gegen “Auschwitz” als “Moralkeule” vom Leder zog. 1200 Zuhörer erhoben sich damals zu Standing ovations. Nur einer blieb sitzen und sprach von “geistiger Brandstiftung”: Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Wochenlang stand Bubis mit seiner Kritik allein. Heute gilt als sicher, dass Bubis damals im Recht war, die Masse der Claqueure hingegen nicht.

Seit Anfang dieses Jahres erheben sich erneut einige Tausende, um den Positionen Jakob Augsteins Beifall zu spenden oder sie doch zumindest gegen die Vorhaltungen des Simon-Wiesenthal-Zentrums(SWZ) zu verteidigen.

Das SWZ veröffentlicht jährlich eine Liste mit den zehn gravierendsten Äußerungen des Antisemitismus bzw. Anti-Israelismus. In seiner Aufstellung für 2012 führt es auf dem vorletzten Platz Zitate des Journalisten Augstein an. In Deutschland gelten nicht dessen Äußerungen, sondern deren Platzierung auf der SWZ-Liste als Skandal.

“Die Zitate aus Texten von Augstein … spiegelten Kritik, aber keine Hetze wider”, protestiert der Deutsche Journalisten-Verband. Es sei die Aufgabe von Journalisten, “kritisch zu berichten. Das schließt die israelische Politik mit ein.”

“Im Zweifel rechtsradikal”

Wer genauer hinschaut, stellt aber fest, dass bei Augstein von “kritischer Israel-Berichterstattung” keine Rede sein kann. In seinenIsrael-Kommentaren auf Spiegel-Online, die der Journalist zwischen September 2011 und November 2012 veröffentlichte, tritt der Antisemitismus offen zutage.

“Wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen”, behauptet Jakob Augstein und bringt damit nicht nur jüdische Strippenzieher ins Spiel, die “unsere” Politik klammheimlich bestimmen. Gleichzeitig wird mit dem Verb “sich beugen” das Bild des “Erfüllungspolitikers” evoziert: Der Jude kommandiert, der Deutsche kuscht.

Das ist nicht, wie Augstein seine “Spiegel”-Rubriken überschreibt, “Im Zweifel links”, sondern “Im Zweifel rechtsradikal”; ein Slogan, der weniger einem Möllemann, als einem Jörg Haider eingefallen wäre, eine Hetze, wie sie ansonsten Mahmud Ahmadinedschad formuliert.

Ein einziges Mal habe sich die Bundesregierung nicht gefügt, sondern“kurz versucht, von den Israelis so etwas wie eine Gegenleistung für die deutsche Großzügigkeit zu erlangen”, behauptet Augstein. Und was geschah? “Als die Israelis mit dem Lachen fertig waren, haben sie die palästinensischen Steuergelder freigegeben. Das wars.”

Phantasie um infam lachende Juden

Mit dem “Lachen” israelischer Regierungspolitiker beschreibt Augstein keine Realität. Er lässt uns stattdessen an seiner Phantasie teilhaben; einer Phantasie, die um infam lachende Juden und ausgelachte Deutsche kreist.

In Augsteins Hymne auf das berüchtigte Israel-Gedicht von Günter Grass taucht jene Phantasievorstellung wieder auf – jetzt aber unter einem umgekehrten Aspekt. Die Zeilen von Grass, begeistert sich Augstein, “bezeichnen eine Zäsur. Es ist dieser eine Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen: ,Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.’ Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt.”

Wir sehen hier, wie wichtig es für ihn ist, dass gerade “ein Deutscher” Israel zum potenziellen Welt-Brandstifter erklärt. Hierin liegt für Augstein das Moment, hinter das “wir künftig nicht mehr zurückkommen” dürfen.

Verschwörungstheorien stehen im Zentrum

Augstein macht aus seinem Wunsch nach einer Revision der deutschen Israelpolitik keinen Hehl. “Es muss uns endlich einer aus dem Schatten der Worte Angela Merkels holen”, insistiert er in diesem Kommentar mit Bezug auf die Rede, die die Bundeskanzlerin am 18. März 2008 vor der Knesset hielt. Augstein will “endlich” den Schatten jener Worte, d.h. den Schatten des Holocaust verlassen. Es gehe heute “nicht um die Geschichte Deutschlands. Sondern um die Gegenwart der Welt”, zwei Dinge, die der Autor fein säuberlich getrennt wissen will.

Verschwörungstheorien stehen im Zentrum des modernen Antisemitismus, wie die “Protokolle der Weisen von Zion”, Hitlers Leitfaden für den Holocaust, beweisen. Die “Juden”, heißt es darin, werden, “sobald ein nichtjüdischer Staat es wagt, [ihnen] Widerstand zu leisten, … den Weltkrieg entfesseln.”

Grass hat als erster prominenter Deutscher die Phantasie vom jüdischen Weltfriedenssaboteur neu popularisiert, Augstein hat sie für den hiesigen Zeitungsbetrieb salonfähig gemacht. Immer wieder blitzt bei ihm das Phantasma jüdischer Allmacht auf, etwa wenn er behauptet, dass “die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband (führt)”.

Schon Ahmadinedschad hatte 2007 ohne die Spur eines Beweises darauf insistiert, dass die dänischen Mohammed-Karikaturen von Israel initiiert worden seien. Fünf Jahre später spekulierte Augstein, dass auch das Mohammed-Video, das im Herbst 2012 antiwestliche Ausschreitungen provozierte, von Israel initiiert worden sei – ohne Beweise, aber mit suggestiven Anspielungen und Assoziationen.

“Wem nützt solche Gewalt?”, müsse fragen, wer wissen wolle, wer hinter derartigen Ausschreitungen steckt. Sie nütze “den US-Republikanern und der israelischen Regierung”, flüstert Augstein uns zu”.

Von antisemitischen Stereotypen geprägt

36 Prozent der in Deutschland Befragten stimmten 2008 der Aussage: “Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat” zu. Augsteins Kommentare tragen dazu bei, diesen Prozentsatz zu erhöhen.

Seine Israeldarstellung ist von antisemitischen Stereotypen geprägt, etwa wenn er die israelische Politik in einem einzigen Kommentar gleich viermal mit dem “Gesetz der Rache” in Verbindung bringt; wenn er den israelischen Streitkräften die gezielte Tötung von Kindern unterstellt (“Ein 13-jähriger palästinensischer Junge soll vor einer Woche beim Fußballspielen von einem israelischen Helikopter aus erschossen worden sein.”) oder wenn er den Gaza-Streifen mit einem KZ assoziiert (“1,7 Millionen Menschen hausen da, zusammengepfercht. … Gaza ist ein Gefängnis. Ein Lager.”)

Es ist eben nicht so, dass sich Augstein “kritisch mit der israelischen Politik beschäftigt”, wie der Digitalchef des “Spiegel”, Mathias Müller von Blumencron, schreibt. Sondern Augstein unterstellt, dass Israel “an Frieden … kein Interesse” hat und akzeptiert anschließend nur noch das, was in dieses Wahrnehmungsmuster passt.

Weil Israel keinen Frieden will, “brütet” es sich in Gaza “seine eigenen Gegner aus”; weil Israel keinen Frieden will, “will (es) gar nicht beweisen, … dass Iran eine Bombe baut”; weil Israel keinen Frieden will, setzt es seit 44 Jahren seine Interessen “ohne Rücksicht auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel” durch; weil Israel keinen Frieden will, gehe eine “nukleare Bedrohung, … von Israel für den Nahen Osten aus.”

Ernsthafte Debatte über Antisemitismus

Keine dieser Behauptungen ist belegt, eine ist absurder als die andere. Gleichzeitig wird der regionale Kontext, den jeder Politiker in Israel stets zu gegenwärtigen hat, so gut wie vollständig ignoriert.

Wenn die Redaktion des “Spiegel” in Heft 2/2013 erklärt, sie sei bei ihrem Versuch “heraus(zu)finden, warum Augstein auf der Liste gelandet war, … gescheitert”, stellt sie sich ein wahrhaft einzigartiges Armutszeugnis aus. Ihr Eingeständnis “spiegelt” zugleich, wie es um den Anti-Antisemitismus in Deutschland steht.

Die Intervention des Simon-Wiesenthal-Zentrums eröffnet die Möglichkeit einer ernsthaften Debatte über Antisemitismus und Journalismus. Warum wird diese so wenig genutzt? Warum formiert sich stattdessen eine publizistische Wagenburg, um der Kritik des Wiesenthal-Zentrums ebenso ungeprüft wie unreflektiert zu trotzen?

Gewiss – nicht wenige Berufskollegen halten es für klüger, sich mit dem “smarten Dauerhetzer aus Deutschlands Top-Medien” (“Jungle World”), der 24 Prozent der Anteile des “Spiegel”-Verlags kontrolliert, nicht anzulegen. Als Erklärung reicht dies jedoch nicht aus.

Unverblümt narzisstisch

Einen Hinweis liefert die Augstein-Solidarisierung des “FAZ”-Journalisten Nils Minkmar, mit dessen Intervention die Debatte am 2. Januar 2013 begann. Dem SWZ sei “ein schwerer intellektueller und strategischer Fehler” unterlaufen, dozierte der neue Feu
illetonchef der “FAZ”. Offenkundig gefiel er sich in der Rolle, dem SWZ Ratschläge zu erteilen und dessen Strategie zu bewerten.

Jakob Augsteins Reaktion auf seine Listung war nicht weniger verstiegen: Er zolle dem SWZ für dessen Kampf gegen den Antisemitismus zwar Respekt. Es sei aber “umso betrüblicher”, schrieb er auf Facebook, “wenn dieser Kampf geschwächt wird. Das ist zwangsläufig der Fall, wenn kritischer Journalismus als rassistisch oder antisemitisch diffamiert wird.”

Unverblümt narzisstisch schwingt sich hier der Angeklagte, noch bevor der (Diskussions-)prozess begonnen hat, zum Richter über seine Ankläger auf. Von Innehalten, Nachdenken, Reflektieren, Debattieren keine Spur.

Wir deutsche Achtundsechziger und Nach-Achtundsechziger, geben Minkmar und Augstein zu verstehen, sind Weltmeister, wenn es um die Auseinandersetzung mit Deutschlands Vergangenheit geht. Wir müssen uns beim Thema Antisemitismus von niemandem belehren lassen und lassen uns auch von niemandem belehren!

Angemaßte Antisemitismuskompetenz

Da kann Dieter Graumann, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland in seinem Streitgespräch mit Augstein sagen was er will: Der junge Aufsteiger (“Für mich ist die Auseinandersetzung mit dem Holocaust die prägende, politisierende Kindheitserfahrung.”) weiß nun einmal besser, was den Kampf gegen den Antisemitismus schwächt oder nutzt. Graumanns Kritik sei “anmaßend”, sie wolle “Debattenverläufen den Riegel vorschieben” und – sie spiele “den Antisemiten in die Hände.” (Spiegel 3/2013) Der Jude macht es eben selbst, dass die Welt ihm immer feindseliger wird.

Dies gilt besonders für Henryk Broder, auf den die Wut sich konzentriert, weil er Augstein bei amerikanischen Juden denunziert haben soll. Dementis haben in diesem Fall keine Chance: Wem der Ruf des “Nestbeschmutzers” anhängt ist, findet keinen Pardon.

Daran konnte weder Broders Selbstkritik noch seine Entschuldigung über die Charakterisierung Augsteins als potentieller Nazi etwas ändern: Broder habe sich nur “teilweise” entschuldigt und “wirklich nur ein wenig Schaum vom Mund (genommen)”, gifteten “Spiegel Online” und die “Süddeutsche Zeitung”, so als hätten sich nicht schon genug Beteiligte in dieser Auseinandersetzung blamiert.

Dabei hat Broder, wenn es um die angemaßte Antisemitismuskompetenz seiner Kritiker geht, vollständig recht: “Die Intellektuellen dieser Republik”, schrieb er hier, “die sonst jedem Zeitgeist auf der Spur sind, klammen sich an einen Begriff von Antisemitismus, der so alt und verstaubt ist, wie eine mechanische Schreibmaschine aus der Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. … Sie weigern sich einzusehen, dass auch der Antisemitismus mit der Zeit geht, dass er ein dynamisches und kein statisches Problem ist, dass er sich laufend ändert.”

Angriff in Form einer Zangenbewegung

Würde es diese Weigerung nicht geben, wäre ohne Weiteres klar, was die ägyptischen Muslimbrüder (Platz 1 der SWZ-Liste), das iranische Regime (Platz 2) und der deutsche Verleger (Pl
atz 9) gemeinsam haben: Mursi, Ahmadinedschad und Augstein haben Israel zu ihrem Angriffspunkt erkoren, wobei dieser Angriff in der Form einer Zangenbewegung verläuft.

Am einen Ende dieser Zange sammeln sich die Islamisten, die den jüdischen Staat aus religiösen Motiven auslöschen wollen und heute schon prophezeien, dass er in zehn Jahren nicht mehr existiert. Am anderen Ende der Zange tummeln sich westliche Intellektuelle, die wie Jakob Augstein den Auslöschungsfuror der Islamisten in den westlichen Gesellschaften flankieren, indem sie Israel dämonisieren, dessen Todfeinde aber in Schutz nehmen.

Wie dies geht, demonstrierte Jakob Augstein in einer Talkshow, die Günther Jauch im April 2012 zum Thema “Der Blechtrommler – was ist dran an Grass’ Israel-Kritik?” veranstaltete. “Israel ist eine größere Bedrohung für den Weltfrieden als Iran” rief Augstein bei dieser Gelegenheit dem Fernsehpublikum zu – Lüge Nummer 1. Teheran hingegen, fuhr Augstein fort, habe Israels Vernichtung niemals angedroht, diese Behauptung beruhe auf einem “Übersetzungsfehler” – Lüge Nummer 2.

Mit Abstand am meisten Applaus

Augstein erhielt in dieser Fernseh-Debatte den mit Abstand meisten Applaus. Kein Wunder! Dass ein antisemitisch angehauchter Anti-Israelismus in der deutschen Bevölkerung mehrheitsfähig ist, ist durch zahllose Umfragen bewiesen. Bisher existiert jedoch zwischen diesem Massenbewusstsein und der historisch begründeten Israel-Haltung der deutschen Eliten eine sorgsam gehütete Kluft.

Jakob Augstein möchte diese Kluft so schnell wie möglich schließen. Auch deshalb soll mithilfe der laufenden Debatte die Antisemitismus-Latte derart hoch gelegt werden, dass er mit seinen als “Israel-Kritik” daherkommenden Tiraden bequem darunter durch laufen kann.

Sollte es ihm gelingen, aus der Auseinandersetzung mit dem Simon-Wiesenthal-Zentrum als “moralischer Sieger” herauszugehen, hätte er nicht nur einen Gutteil dieses Ziels erreicht. Er hätte zugleich demonstriert, dass es “heute schlimmer (ist), jemanden einen Antisemiten zu nennen, als einer zu sein”, wie “Zeit”-Herausgeber Josef Joffe sarkastisch bemerkt.

Ich glaube nicht, dass es soweit kommt. Was die internationale Antisemitismusforschung in den letzten Jahrzehnten zu Tage gefördert hat, lässt sich für ein paar Tage unter den Teppich kehren – auf Dauer aber nicht. Wenn die Affekte dieser Debatte abgeklungen und die Pulverschwaden verraucht sein werden, wird sich die Berechtigung der Kritik des Wiesenthal-Zentrums ebenso unzweifelhaft erweisen, wie sich die Bubis-Kritik des Jahres 1998 im Nachhinein als berechtigt erwies.

Matthias Küntzel ist Politikwissenschaftler und hat mehrere Bücher zum Thema Antisemitismus veröffentlicht. 2011 wurde er von der Anti Defamation League mit dem Ehrlich-Schwerin-Menschenrechtspreis ausgezeichnet.

Quelle Welt, 14. Jan. 2013

Henryk M. Broder: WIR KAPITULIEREN!

Vor vielen, vielen Jahren, als Jörg Haider noch ein Student war und Jean-Marie Le Pen sich bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich noch mit 0,7 Prozent zufrieden geben musste, da war Mogens Glistrup schon ein bekannter Mann. Zumindest in Dänemark, wo er eine eigene Partei, die Fortschrittspartei, gegründet hatte und mit 15,9 Prozent der Stimmen auf Anhieb ins Parlament gewählt wurde. Glistrup hatte kein richtiges Wahlprogramm, er war einfach gegen alles Etablierte, ein Rebell, der die Unmut- und Unlustgefühle der Wähler artikulierte und sie in politische Parolen übersetzte.

Ein Populist, würde man heute sagen, eine Naturbegabung mit mehr Instinkt als Verstand. Glistrup forderte einen radikalen Abbau der Staatsausgaben und eine Senkung der Steuern um jeden Preis. Besonders unnötig fand er, dass sich Dänemark eine Armee leistete, die im Ernstfall ohnehin nicht zum Einsatz kommen würde, denn wie sollten ein paar dänische Bataillone die Russen aufhalten, falls die jemals Dänemark angreifen sollten? Deswegen verlangte er die Auflösung der Armee und die Schließung des Verteidigungsministeriums. Stattdessen sollte eine Hotline mit einem Anrufbeantworter eingerichtet werden. Mit einem einzigen Satz auf Russisch, der Dänemark im Kriegsfall retten würde: “Wir kapitulieren!”

Die Dänen, mit ihrem Sinn fürs Praktische und Skurrile, fanden die Idee nicht schlecht und dankten es Glistrup mit dem Stimmzettel. Inzwischen hat der Mann an Popularität verloren. Doch gute Einfälle sind langlebiger als ihre Schöpfer. Die Glistrup-Formel sollte wieder zum Einsatz kommen, nicht mit den Russen als Adressaten, sondern gerichtet an einen mächtigen und unsichtbaren Gegner, von dem man nicht weiß, wann und wo er wieder zuschlagen wird: “Liebe Terroristen, wir kapitulieren, wir haben weder die Absicht noch die Mittel, gegen euch vorzugehen, also tut uns bitte nichts. Bitte, bedient euch, unser Haus ist euer Haus, der Roomservice ist Tag und Nacht für euch da!” Eine solche Ansage, unter einer gebührenfreien 0800-Nummer eingerichtet, könnte der Bundesrepublik viel Ärger ersparen und vielen Menschen das Leben retten. Wenn man schon kapitulieren will, dann am besten gleich und nicht erst nach einer verlorenen Schlacht. Denn wir haben weder den Willen noch die Ausrüstung, den Terroristen das Handwerk zu legen. De facto haben wir bereits kapituliert, wir wollen es nur nicht wahrhaben.

Das fängt damit an, dass immer öfter von “Widerstandskämpfern” die Rede ist, wenn von jenen berichtet wird, die sich in Israel in die Luft sprengen und dabei nach dem Zufallsprinzip Menschen mitnehmen, die nicht sterben wollen. Widerstandskämpfer klingt edel, sie vergießen zwar auch Blut, aber sie tun es nicht ohne Grund. Widerstandskämpfer waren die Franzosen, die Polen, die Niederländer, die Tschechen unter der NS-Besatzung, die Juden im Warschauer Ghetto und die Russen im belagerten Stalingrad. Freilich: Terroristen, die wahllos töten, Bomben in Cafés und Zügen deponieren, als Widerstandskämpfer zu bezeichnen, bedeutet zweierlei: eine Anbiederung bei den Tätern und eine moralische und politische Legitimierung der Taten.

Denn wir wissen genau, was die Täter antreibt: Verzweiflung über ihr Leben und die fehlende Aussicht auf eine Änderung der Zustände, auch “Perspektivlosigkeit” genannt. So liest und hört man es nicht nur in den Leitartikeln und Kommentaren, sondern auch in den Call-ins der Radiostationen und den Leserbriefen, wo sich das Volk aufrichtig und authentisch äußert. Wenn es so wäre, müsste es praktisch überall auf der Welt Terrorismus geben. Wie viele Millionen Unberührbare in Indien leben in tiefer Armut und Verzweiflung, ohne jede Aussicht auf eine Änderung ihrer Lebensumstände?

Wie viele Obdachlose in den USA wachen jeden Morgen im Freien auf, wissend, dass sie auch am Abend kein festes Dach über dem Kopf haben werden? Wie viele Arbeitswillige, aber Arbeitslose in Mecklenburg-Vorpommern sind verzweifelt, weil sie schon fünf Umschulungen hinter sich, aber immer noch keinen Job haben?

Verzweiflung ist die romantische Verkleidung für Blutrausch und Mordlust, für jene Positionierung, wie sie in dem Bekennerbrief zu den Anschlägen in Madrid im März formuliert wurde: “Ihr liebt das Leben, wir aber lieben den Tod!” Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn sich die Todessüchtigen irgendwo leise und dezent umbringen würden, ohne anderen Menschen ihren fatalen Willen aufzuzwingen.

Aber nicht die Terroristen sind verzweifelt, die ihren Abgang kühl wie eine Video-Performance inszenieren, verzweifelt sind wir, weil wir nach rationalen Gründen für den Todesakt suchen, Gründen, die wir gern akzeptieren möchten. Es macht uns irre, dass wir keine finden. Deswegen unterstellen wir den Terroristen “Verzweiflung”, denn das ist ein Gefühl, das wir kennen, und sei es nur aus einem Dienstmädchenroman, in dem die Hauptfigur aus Verzweiflung ins Wasser geht, weil sie von dem Gutsbesitzer geschwängert und sitzen gelassen wurde.

Was aber, wenn es für die Terrorakte keine vernünftige Erklärung gibt oder zumindest keine, die sich mit Hilfe unserer Vernunftskoordinaten einordnen ließe? So was kann vorkommen, nicht nur weit weg hinter den Karawanken, auch in München, Guben und Bad Reichenhall. Obwohl inzwischen Tausende von Arbeiten über das Dritte Reich und Hunderte von Biografien über Hitler und seine Kumpane geschrieben wurden, blieb eine Frage unbeantwortet: Wie konnte es passieren? Wie konnte ein zivilisiertes und überdurchschnittlich gebildetes Volk dermaßen destruktive Kräfte entwickeln, anfangs gegen andere, zuletzt gegen sich selbst? Man muss damit leben, dass es Fragen gibt, die immer wieder gestellt werden, ohne dass eine Antwort gefunden wird. Shit happens. Nicht nur in der Familie, auch in der Weltgeschichte.

Im Falle des Terrorismus freilich wollen wir uns damit nicht zufrieden geben. Wenn wir schon keine vernünftigen Erklärungen für das Verhalten der Täter finden können, so wollen wir doch wenigstens Maßnahmen zu unserer eigenen Beruhigung entwickeln.

Wir wissen nicht, wie wir mit der Arbeitslosigkeit und der Jugendkriminalität fertig werden, dafür wissen wir genau, woher der Terrorismus kommt und was man dagegen unternehmen müsste. Fast täglich melden sich Experten zu Wort, die uns sagen, wie man den mörderischen Furor der Verzweifelten und Gedemütigten in konstruktive Bahnen lenken könnte. Durch einen interkulturellen und interreligiösen Dialog. Wir brauchen mehr Begegnungszentren, mehr Gesellschaften für christlich-jüdischmuslimische Zusammenarbeit und vor allem: mehr Verständnis für die Kultur der Anderen! Günter Grass hat vor kurzem ganz im Ernst vorgeschlagen, eine Kirche in eine Moschee umzuwidmen, als Geste guten Willens. An sich keine ganz dumme Idee, obwohl es schon Hunderte, wenn nicht Tausende Moscheen in der Bundesrepublik gibt. Man sollte mit ihrer Verwirklichung aber abwarten, bis eine Moschee in Riad oder Islamabad in eine Kirche umgewandelt wurde und die Christen in Saudi-Arabien und Pakistan ihre Religion so frei praktizieren können, wie es Muslime, Juden und andere Minderheiten in der Bundesrepublik tun. Überhaupt sollte man das Prinzip der Reziprozität einführen. Das heißt, sobald die ersten muslimischen Frauen im Bikini am Strand von Dschidda gesichtet wurden, lassen wir das Kopftuch im öffentlichen Dienst und die Burka im Freibad zu, keinen Tag eher. Der interkulturelle Austausch darf keine Einbahnstraße sein. Ein anderer Vorschlag, der von der diabolischen Unschuld seines Erfinders zeugt, wurde von Jürgen Fliege unmittelbar nach dem Anschlag von Madrid (192 Tote, über 1000 Verletzte) als Wort zum Sonntag in die Welt gesetzt: Wir sollten uns nicht scheuen, “mit den Mördern von heute über die Welt von morgen” zu reden. Worüber denn? Über die Probleme des Nahverkehrs? Die Miniaturisierung von Kofferbomben? Den schonenden Umgang mit der Natu
r und die Nutzung erneuerbarer Energien?

Die Vorstellung, dass Armut Terrorismus generiert und man die “Ursachen” des Terrors bekämpfen muss, die ungerechte Verteilung der Reichtümer in der Welt, statt an den “Symptomen” rumzudoktern, ist inzwischen so weit verbreitet wie die Überzeugung, dass die Armut von der Poverté kommt. Das führt zu sehr kuriosen Kollateralerscheinungen. Eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, jedem Kind einen Kindergartenplatz zu geben und die es hinnimmt, dass jedes siebte Kind unterhalb der Armutsgrenze lebt, tritt für eine weltweite Umverteilung der Ressourcen ein und fordert die Reichen auf, mit den Armen solidarisch zu sein. Wer hingegen in Bottrop noch einen Arbeitsplatz hat, der käme nie auf die Idee, ihn mit einem Arbeitslosen aus Wanne-Eickel zu teilen.

Die Erkenntnis, dass der Terror kein Kind der Armut ist, dass die Terroristen nicht verzweifelt, sondern nur blutrünstig sind, dass man mit den Terroristen nicht einmal über das Wetter von gestern, geschweige denn über die Welt von morgen reden kann, ist so niederdrückend, dass man sich ihr gern verweigern möchte. Es hilft nur nichts, genauso wie ein Krebskranker sich nicht einreden sollte, er hätte nur eine leichte Allergie gegen Birkenpollen. Genau das tun aber die Europäer. Sie verordnen sich ein paar Anti-Histaminika und hoffen, dass der Pollenflug bald vorbei sein wird, die einen mehr, die anderen weniger. Der Kampf gegen den Terror, der jetzt schon als “die Geißel des 21. Jahrhunderts” dargestellt wird, konzentriert sich darauf, über Maßnahmen zu diskutieren, wie man den Terrorismus bekämpfen könnte, sollte, müsste, ohne die Bürgerrechte einzuschränken, denn das sei es, heißt es immer wieder, was die Terroristen beabsichtigen: unsere liberale Ordnung von innen her auszuhöhlen. Wirklich? Vielleicht unterstellen wir den Terroristen zu viel taktisches Planen und Verhalten. Vielleicht macht ihnen das, was sie tun, einfach Spaß, und vielleicht nutzen sie nur unseren schwachen Punkt aus: unser schlechtes Gewissen. Wie Eltern, die sich fragen, “Was haben wir falsch gemacht?”, wenn ihre Kinder zu trinken und zu kiffen anfangen, fragen wir uns: Liegt es nicht an uns, wenn wir angegriffen werden? An sich glauben wir an keine Erbsünde und keine Kollektivschuld, aber dass wir für die Kolonialpolitik unserer Vorfahren zur Kasse gebeten werden, das finden wir ganz natürlich. Dabei sind uns die Terroristen immer mehrere Nasenlängen voraus, denn wir halten uns an die Spielregeln, sie aber kennen keine.

In der Bundesrepublik etwa gibt es 16 Landesbehörden für Verfassungsschutz, die jetzt erst langsam damit anfangen, Informationen untereinander auszutauschen und ihre Aktivitäten zu koordinieren. Sie haben mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass sie eines Tages mehr leisten müssten, als DKP- und NPD-Sympathisanten zu registrieren. Allerdings: Was kann man von Behörden erwarten, die sich von einem Metin Kaplan vorführen lassen?

Allein die Tatsache, dass die Fluggesellschaften ihre Passagierlisten auf den USA-Flügen an die amerikanischen Behörden schicken, bevor die Flugzeuge gelandet sind, hat zu Protesten von Datenschützern und Bürgerrechtlern geführt. Diese Proteste werden erst verstummen, wenn es den ersten großen Terroranschlag in Berlin, Frankfurt oder Grundremmingen gegeben hat. Danach wird auch die “Unschuldsvermutung” eines mutmaßlichen Terroristen weniger wert sein als der Wunsch der Bürger, bei der Live-Übertragung des “Musikantenstadl” nicht von einer heftigen Explosion in der Nachbarschaft gestört zu werden.

Was tun? “Terrorize the terrorists!”, heißt es in den USA und Israel auf die Frage, was man machen müsste. Das ist natürlich leichter gesagt als getan, wenn man nicht auf das Niveau der Terroristen sinken will. Am einfachsten ist es, präventiv zu kapitulieren, in der Hoffnung, dadurch verschont zu werden. Wir haben längst kapituliert. Es fehlt nur noch eine 0800-Nummer mit der entsprechenden Ansage.

SPIEGEL SPECIAL 2/2004, 29.06.2004

Quelle

Broder über die Linke: “Die Endlösung der Israel-Frage”

Henryk M. Broder verfolgt seit 1976, was in linken Organen über den Nahost-Konflikt geschrieben wurde. Was er fand: Antisemitismus im Kostüm des Antizionismus.


Israel-Gegner demonstrieren vor dem Brandenburger Tor

Unter anderen Bedingungen hätte aus mir was werden können. Im Sommer 1946, fünfzehn Monate nach Kriegsende geboren, hatte mich das Schicksal einem Vater und einer Mutter zugeteilt, die sich gegenseitig das Überleben übel nahmen. Wäre ich gefragt worden, ob ich unter diesen Voraussetzungen auf die Welt kommen wollte, hätte ich sicher mit einem klaren “Nein!” geantwortet. Ich hatte eine ziemlich miese Kindheit im polnischen Kattowitz.

Die Jugend im rheinischen Köln war auch nicht viel besser. Wurzeln schlagen, irgendwo heimisch werden, das kam nicht infrage. Wir waren auf der Durchreise. Leider hatten meine Eltern vergessen, wohin sie eigentlich wollten. In die Schweiz? Nach Amerika? Oder doch nur zur Kur nach Bad Kissingen?

Lernte früh, was “Streitkultur” bedeutet

Es gab immer genug zu essen, auch über einen Mangel an Emotionen konnte ich mich nicht beklagen. Dass sich meine Eltern nicht gegenseitig umbrachten, lag vor allem daran, dass ich im entscheidenden Augenblick dazwischenging und sie entwaffnete. So lernte ich sehr früh, was “Streitkultur” bedeutet.

Mit 18 machte ich den Führerschein, mit 20 das Abitur, dazwischen verlor ich die Unschuld an Christiane, eine Trotzkistin aus gutem Hause, die sich sehr viel Mühe machte, mir den Unterschied zwischen der Dritten und der Vierten Internationale zu erklären.

Sie brachte mir auch alles Wissenswerte über die “Diktatur des Proletariats” bei, die reaktionäre Kleinbürger wie mich, die sich weigerten, morgens um fünf Flugblätter an Fordarbeiter zu verteilen, sofort an die Wand stellen oder in ein Erziehungslager einweisen würde.

Sie versprach, sich dafür einzusetzen, dass man mich im Erziehungslager anständig behandelt, allerdings konnte sie mir weder ein Einzelzimmer garantieren noch zusichern, dass man mir erlauben würde, abends nach getaner Zwangsarbeit einen anderen Sender als Radio Tirana zu hören. Später erfuhr ich, dass sie heimlich Klavierstunden bei einem Privatlehrer nahm.

Ich war, natürlich, links, nahm an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, Springer und die Erhöhung der Fahrpreise bei den Kölner Verkehrsbetrieben teil. Ich bedauerte, den Kriegsdienst nicht verweigern zu können, weil ich, als Kind von Überlebenden, gar nicht dazu eingeladen wurde, ihn zu leisten.

Besonderes Interesse – Darstellung der Sexualität in Wort und Bild

Gleich nach dem Abitur wollte ich Jurist werden, Strafverteidiger, der Unschuldige aus den Klauen der Klassenjustiz befreite, später Soziologe, der die Arbeit von Max Weber und Émile Durkheim fortsetzte. Mein besonderes Interesse galt der Darstellung der Sexualität in Wort und Bild, die Feldarbeit leistete ich in Antiquariaten, die “Bücher für Erwachsene” anboten:

“Die vollkommene Ehe” von Theodor Hendrik van de Velde, “Josefine Mutzenbacher” von Felix Salten, die “Venus im Pelz” von Leopold von Sacher-Masoch, die “Sittengeschichte” in sechs Bänden von Eduard Fuchs.

Mit 24 schrieb ich mein erstes Buch, “Wer hat Angst vor Pornographie?”, eine wilde Suada gegen Zensur im Literaturbetrieb, die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften und notgeile Staatsanwälte, die sich bei der Jagd auf unanständige Bücher abreagierten. Ich ließ mich, nur mit einem Handtuch bekleidet, als Pin-up-Boy fotografieren, was meine Eltern dermaßen aus der Fassung brachte, dass sie ihre Streitigkeiten für eine Weile einstellten.

So tobte ich durch das Leben, wie ein Kind auf einer Kirmes, vom Autoskoote
r zur Achterbahn, vom Kettenkarussell zum Riesenrad. Es gab damals kein Facebook, kein Internet, keine Klimakatastrophe und kein allgemeines Rauchverbot. Wer etwas erleben wollte, konnte aus dem Haus gehen, ohne sich dabei Sorgen über den CO2-Fußabdruck zu machen, den er den nachfolgenden Generationen hinterließ.

Anfang September 1972 kam es zu dem “Massaker von München”. Palästinensische Terroristen aus dem Umfeld des “Schwarzen September” überfielen die israelische Olympiamannschaft, nahmen elf israelische Sportler als Geiseln und brachten zwei von ihnen gleich bei der Geiselnahme um. Die übrigen neun wurden bei einem missglückten Befreiungsversuch getötet.

Ich gab mir damals alle Mühe, das Ereignis zu ignorieren oder es zumindest nicht als das wahrzunehmen, was es war: ein politisch motivierter Mord an Juden unweit der Stelle, an der bis 1945 einige Zehntausend Häftlinge im Konzentrationslager Dachau vom Leben zum Tode befördert worden waren.

Kommentar der Medien zu dem Anschlag

Noch auffälliger war, wie der Anschlag in den Medien kommentiert wurde: zum einen als ein Versagen der deutschen Sicherheitsorgane, zum anderen als Reaktion auf die Politik Israel s den Palästinensern gegenüber.

Vor allem aber als eine Bedrohung für die “heiteren Spiele”, die “eine Werbung für die Bundesrepublik Deutschland sein” sollten (Willy Brandt), ein unbeschwertes, fröhliches Land, weltoffen und gastfreundlich, ganz anders als das Dritte Reich, das sich 1936 mit Olympischen Spielen schmückte.

Nach dem Tod der elf israelischen Sportler wurden die “heiteren Spiele” fortgesetzt, als wäre ein Lieferwagen mit Leberkäse auf dem Weg zum Olympiapark verunglückt.

Die heiteren Spiele gingen mit einer heiteren Feier zu Ende. Danach ging es nur noch um die Frage, ob die Bundesrepublik “Schadenersatz” an die Angehörigen der Opfer zahlen sollte.

Vier Jahre später, im Sommer 1976, wurde eine Air-France-Maschine auf dem Flug von Tel Aviv nach Paris nach einer Zwischenlandung in Athen von zwei Terroristen der “Volksfront zur Befreiung Palästinas” und zwei Angehörigen der deutschen “Revolutionären Zellen” über Bengasi in Libyen nach Entebbe in Uganda entführt.

Die Entführer wollten über 50 inhaftierte Gesinnungsgenossen aus Gefängnissen in Israel, Deutschland, Frankreich und der Schweiz freipressen, darunter Angehörige der RAF und der “Bewegung 2. Juni”.

Bis dahin handelte es sich um ein “normales” terroristisches Unternehmen. Dann aber fand auf dem Flughafen von Entebbe eine Selektion statt: 80 Israelis und 22 Juden mit französischen Pässen wurden aussortiert und festgesetzt, die übrigen Passagiere freigelassen. Sie durften mit einer anderen Air-France-Maschine heimfliegen.

Da die palästinensischen Terroristen aufgrund gewisser Bildungsdefizite nicht imstande waren, Juden von Nichtjuden anhand der Namen in den Pässen zu unterscheiden, übernahm der deutsche Terrorist Wilfried Böse – nomen est omen – diese Aufgabe. Als ihm einer der jüdischen Passagiere seine auf den Unterarm eintätowierte KZ-Nummer zeigte, soll Böse gesagt haben, er sei kein Nazi, sondern ein “Idealist”.

Eine Woche nach der Entführung der Air-France-Maschine, in der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1976, landete ein israelisches Kommando in Entebbe, liquidierte die Geiselnehmer, befreite die Geiseln aus der Obhut der ugandischen Armee und flog sie über Nairobi nach Tel Aviv. Bei der Befreiungsaktion kamen drei der 103 Geiseln ums Leben.

Eine 75 Jahre alte Israelin, die in einem Krankenhaus in Kampala lag, wurde am folgenden Tag von Mitarbeitern des ugandischen Präsidenten Idi Amin in ihrem Bett getötet, ebenso die Ärzte und Krankenschwestern, die sie beschützen wollten.

Kaum waren die befreiten Geiseln in Tel Aviv gelandet, setzte eine Diskussion über die völkerrechtlichen Aspekte der israelischen Kommandoaktion ein. Der damalige UN-Generalsekretär Kurt Waldheim, ein Österreicher mit einer lupenreinen NS-Vergangenheit, bezeichnete die Aktion als eine “ernste Verletzung der Souveränität eines UN-Mitgliedsstaates”. Deutsche Antiimperialisten stimmten Waldheim zu und beklagten in Botschaften an Idi Amin die “flagrante Verletzung der Souveränität” Ugandas durch die brutalen Israelis.

Ich kam mir vor wie ein Besucher in einem Irrenhaus, in dem die Patienten die Verwaltung an sich gerissen hatten. Stein des Anstoßes war nicht die Entführung der Maschine und die Selektion der jüdischen Geiseln – die erste nach 1945 -, es war die israelische Aktion zur Befreiung der Geiseln. Die “Operation Entebbe” war mein privates Erweckungserlebnis.

Anders als bei dem Olympia-Anschlag von 1972 war ich nicht in der Lage, mich in das Paradies der selig machenden Ignoranz zurückzuziehen. Wenn dies das fortschrittliche politische Milieu war, dann wollte ich mit dieser verkommenen Mischpoche nichts zu tun haben.

Die gleichen Dritte-Welt-Aficionados, die bewaffnete Befreiungsbewegungen unterstützten, ohne sich um die Souveränität der betroffenen Staaten zu kümmern, di
e gleichen Hinterfrager, die nicht verstehen konnten, warum die Juden keinen Widerstand geleistet und sich “wie Vieh zur Schlachtbank” hatten führen lassen, waren nun ganz aus dem Häuschen, weil die Souveränität einer Telenovela-Republik verletzt wurde und Juden Widerstand geleistet hatten, ohne einen UN-Beschluss zum Umgang mit Entführern und ihren Komplizen abzuwarten.

Der “Ständige Ausschuss des Politbüros des ZK der KPD” – einer kleinen, aber sehr aktiven und lautstarken maoistischen Gruppe – gab eine “Erklärung” heraus, die mit dem Satz schloss: “Dem Ministerpräsidenten von Uganda, seiner Exzellenz Idi Amin, drücken wir unsere uneingeschränkte Solidarität aus und versichern ihm unser tief empfundenes Mitgefühl anlässlich der Ermordung von Angehörigen der ugandischen Armee.”

Das Zentralorgan einer anderen maoistischen Organisation, des vor allem an Universitäten aktiven KBW, stellte grundsätzliche Überlegungen zur “Geschichte des Zionismus” an, die vor allem eine “Geschichte des Terrors” sei:

“Mit seiner bewaffneten Aggression gegen Uganda, einen souveränen Staat, 3700 km von Israel entfernt, hat der zionistische Staat eine weitere Seite in dieser Geschichte aufgeschlagen. Der zionistische Staat und seine imperialistischen Hinterleute mögen es noch eine Weile so treiben und die Unabhängigkeit der Staaten mit Füßen treten. Ihr Weg führt unvermeidlich in den Untergang. Hitlers Blitzkriege haben oberflächlichen Beobachtern große Bewunderung und großes Erstaunen abgerungen. Man weiß, wie es mit dem 3. Reich geendet hat … Die jetzige Aggression Israels gegen einen unabhängigen und souveränen Staat Afrikas wird früher oder später die angemessene Antwort erhalten …”

“Blutrünstige und machtgierige Bastion gegen die Völker”

Das waren sozusagen rhetorische Höhenflüge aus gegebenem Anlass. Aber auch die ganz normale tägliche Berichterstattung kam ohne antisemitische Sottisen nicht aus.

Israel, der “militärische Brückenkopf der US-Imperialisten mitten im Herzen der arabischen Länder”, ist “die blutrünstige und machtgierige Bastion gegen die Völker”, ein “bis an die Zähne bewaffneter grausamer Feind, der auch vor Völkermord nicht zurückschreckt”, “die israelischen Faschisten kennen kein Erbarmen”, “die Zionisten sind tausendfach Mörder und nur durch Terror und Massenmord in den Besitz des palästinensischen Territoriums gelangt”, “israelische Supermörder” und “zionistische Mordbanden” bedienen sich “des faschistischen Terrors, um ganze Landstriche Palästinas araberfrei zu machen”, die Zionisten sind “die Nazis unserer Tage”, in Israel zeigt sich “der unterdrückerische und menschenverachtende Charakter des israelischen Kolonialstaates” und “der menschenverachtende und parasitäre Charakter des israelischen Unterdrückerstaates”, Israel wird “von einer Militärkaste beherrscht” und ist ein “mit geraubtem Land und geschnorrtem Geld errichtetes künstliches Gebilde”.

Die “Zentralorgane”, in denen diese Überlegungen zur Lage im Nahen Osten erschienen sind, gibt es nicht mehr, sie modern im Abgrund der Geschichte. Aber die Inhalte der “Roten Fahne”, des “Roten Morgens”, der “Kommunistischen Volkszeitung”, des “Arbeiterkampfes” und anderer Sprachrohre des Anti-Imperialismus findet man heute in der FAZ und der taz, der SZ und der FR, dem “Stern” und der “Berliner Zeitung”.

Heutiger Mainstream

Etwas feiner formuliert, aber substanziell gleich. Im redaktionellen Teil, in den Leserbriefen und in den Foren der Online-Angebote. Was in den 70er-Jahren an den Rändern der Gesellschaft vor sich hin köchelte, macht sich heute im Mainstream breit.

Alles, was man über den “menschenverachtenden Charakter des israelischen Unterdrückerstaates” wissen muss, fasste “Focus Online” in einem einzigen Satz zusammen: “Israel droht mit Selbstverteidigung.” Ja, so sind sie, die Zionisten: passiv-aggressiv und bis an die Zähne bewaffnet, während die Hamas im Gazastreifen nur “selbst gebaute” bzw. “selbst gebastelte” Raketen abfeuert, harmlos wie Silvesterkracher, wie uns immer wieder versichert wird, um die “Unverhältnismäßigkeit” der israelischen “Vergeltungsmaßnahmen” zu beschreiben.

Antisemitismus im Kostüm des Antizionismus

Mit Entebbe war es mit meinem “state of denial” schlagartig vorbei. Ich mutierte zu einem Streckenwärter, der die Gleise entlangläuft und einsammelt, was aus den vorbeifahrenden Zügen fällt. Ich las die vielen linken Organe und exzerpierte alles, was mit dem Konflikt im Nahen Osten zu tun hatte. Von einer bösartigen, einseitigen, tendenziösen Berichterstattung oder Kommentierung zu sprechen, wäre eine arge Untertreibung.

Es war der reine Antisemitismus im Kostüm des Antizionismus; die Maskerade war ein wichtiger Teil der Vorstellung, denn nicht nur Gerhard Zwerenz war damals der Überzeugung, ein Linker könne von Natur aus kein Antisemit sein, basta!

“Juden” gegen “Zionisten” getauscht

Die private Überzeugung von Zwerenz und seiner politischen Freunde war in der DDR Teil der Staatsräson. Da man mit dem Dritten Reich nichts zu tun und den “Hitler-Faschismus” mit Stumpf und Stiel “ausgerottet” hatte, war man auch gegen Antisemitismus vollkommen immun.

Man hatte einfach “Juden” gegen “Zionisten” und “Weltjudentum” gegen “Zionismus” ausgetauscht – so wie Gysi und seine Freunde später den Firmennamen “SED” aufgaben und sich den Namen “Partei des demokratischen Sozialismus” zulegten.

Historischer Müll außer Landes

Sowohl in der Bundesrepublik wie in der DDR war Antisemitismus gleichbedeutend mit Rassismus und Ressentiment, roch nach SA, SS und Zyklon B. Antizionismus aber war eine saubere politische Haltung, man hatte nichts gegen Juden, denen so Schreckliches widerfahren war, man übte nur Kritik am Verhalten der Zionisten, den “Nazis unserer Tage”.

Die Verlagerung der eigenen Vergangenheit auf Israel war ein durchaus kluges Manöver, auch wenn es nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Verdauungstrakt kam. Deutschland hatte einfach ein zu großes Stück Geschichte abgebissen, das nun buchstäblich quer im Magen lag und Schmerzen verursachte.

Kampf gegen einen “grausamen Feind”

Und so wie man gelegentlich deutschen Mül
l auf Deponien im benachbarten Ausland entsorgte, so wollte man auch den historischen Müll außer Landes bringen. Ihn nach Israel zu schaffen, hatte gleich zwei Vorteile: Erstens konnte man damit den “Judenknacks” (Dieter Kunzelmann) loswerden, der die Deutschen an ihrer “Wiedergutwerdung” (Eike Geisel) hinderte. Zweitens holte man damit vollkommen risikolos den Widerstand nach, den die eigenen Eltern nicht geleistet hatten.

Man kämpfte gegen “israelische Faschisten”, die Palästina “araberfrei” machten, gegen einen “grausamen Feind”, der auch vor “Völkermord” nicht zurückschreckte. Aber es waren nicht die Wehrmacht, die Waffen-SS und die Sondereinheiten des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), die hinter der Front aufräumten, es waren “israelische Supermörder” und “zionistische Mordbanden”, die man daran hindern musste, ein anderes Volk, die Palästinenser, auszurotten.

“Israelkritik” nicht ohne einen Rekurs auf das Dritte Reich

Damals wie heute kam die “Israelkritik” nicht ohne einen Rekurs auf das Dritte Reich aus. Mir waren der obsessive Charakter und die historische Dimension dieser Strategie nicht klar, ich fand sie nur seltsam. Ich ahnte, es ging nicht um Israelis, es ging um Deutsche, die Kinder von Adolf Eichmann, Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich.

Das Einzige, was man ihnen zugutehalten konnte, war, dass sie tatsächlich mit der eigenen Geschichte haderten. Das reichte aber nicht, um ihnen durchgehen zu lassen, dass sie in den Spuren ihrer Eltern wandelten. Die Deutschen, schrieb Wolfgang Pohrt, führten sich auf wie “Bewährungshelfer”, die vor allem darauf achten, dass “ihre Opfer nicht rückfällig werden”. Eine bessere, genauere und trostlosere Beschreibung der deutschen Krankheit ist noch niemandem gelungen.

Hinzu kam, dass die einzelnen linken Gruppen und “Massenorganisationen” sich bis aufs Blut bekämpften, gegenüber Israel aber eine feste Front bildeten. Israel war nicht nur der kleinste, es war auch der einzige gemeinsame Nenner ihrer Politik.

Ein Mann wie Klaus Rainer Röhl, der Herausgeber der Zeitschrift “konkret”, war in der linken Szene höchst umstritten, seinem Satz, Israel sei ein “mit geraubtem Land und geschnorrtem Geld errichtetes künstliches Gebilde”, konnten aber alle zustimmen, die sich mit ihm nicht einmal auf die beste Whiskey-Sorte einigen konnten.

Dabei – wir sind noch in den 70er-Jahren, acht Jahre nach dem Sechstage- und drei Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg – ging es nicht um die besetzten Gebiete, um Gaza, den Golan und die Westbank, es ging um Israel an sich, ein mit geraubtem Land und geschnorrtem Geld errichtetes künstliches Gebilde, das man seinen rechtmäßigen Besitzern zurückgeben müsse.

So wie Deutschland “Wiedergutmachung” an den Juden geleistet hatte, so sollte es auch dafür sorgen, dass die Palästinenser entschädigt werden, denn sie waren ja die “Opfer der Opfer”. Der moralische Imperativ dieser Forderung bestimmt bis heute die deutsche Haltung zum Nahostkonflikt.

Bekennung zum Antisemitismus

Damals wie heute war es schwierig bis unmöglich, einen ehrlichen Antisemiten zu finden, der aus seinem Herzen keine Mördergrube macht. Eher zeigt sich ein Steuerhinterzieher selbst beim Finanzamt an, als dass ein ganz normaler Deutscher zugibt, ein Problem mit Juden zu haben. Solange sich der Antisemitismus auf Ausgrenzung und Diskriminierung beschränkte, war er eine halbwegs ehrenwerte Haltung, nicht nett, aber auch nicht letal.

Nach Auschwitz wäre ein offenes Beken
ntnis zum Antisemitismus eine retroaktive Beihilfe zum Massenmord. Es ist also erheblich komplizierter geworden, die Juden nicht zu mögen und diesem Gefühl einen zeitgemäßen Ausdruck zu verleihen – indem man zum Beispiel schreibt, Israel sei ein “mit geraubtem Land und geschnorrtem Geld errichtetes künstliches Gebilde”.

In diesem Satz stecken zwei Botschaften. Erstens: Die Israelis sind Landräuber und Schnorrer, eine Variante des antisemitischen Klassikers von den Juden als Blutsauger und Parasiten. Zweitens: Ein auf dieses Weise zustande gekommenes “künstliches Gebilde” hat keine Existenzberechtigung.

Raub und Schnorrerei

Natürlich sagte Röhl nicht, so ein Land gehöre abgeschafft oder aufgelöst. Aber genau das ist der Subtext, der sich dem Leser erschließt. Weg mit diesem künstlichen Gebilde, das durch Raub und Schnorrerei entstanden ist!

Als Röhl diese Zeilen schrieb, im Sommer 1973, war er selbst ein Schnorrer, der kofferweise Bargeld aus der DDR anschleppte, um ein künstliches Gebilde namens “konkret” am Leben zu erhalten. Aber anders als die Israelis tat er es für einen guten Zweck – um Sand ins Getriebe des Kapitalismus zu streuen und nebenbei seinen aufwendigen Lebensstil zu finanzieren.

Und so wie sich Dr. Jekyll bei Vollmond in Mr Hyde verwandelt, so mutierte der Hanseat Röhl immer wieder zu einem antisemitischen Jammerlappen, der sich beispielsweise über die gute körperliche Verfassung von Henry Kissinger wunderte, die es ihm erlaubte, die vielen Reisen “ohne eine Andeutung von Verschleiß oder Abnutzung” zu überstehen, was Röhl vor allem auf die “jahrtausendealte gesunde koschere Ernährung” zurückführte, speziell auf die mit “Knoblauch”, so Röhl in einem Artikel.

“Offene Denunziation, eine Aufforderung an die Justiz”

Ein anderes Mal räsonierte er über “kalte Krieger” wie Gerhard Löwenthal und William S. Schlamm, weil sie politische Positionen vertraten, die Röhl für inakzeptabel hielt: “In Nordamerika, wo es viele Schlamms und Löwenthals gibt, kursiert unter Studenten der Satz, dass Hitler die europäischen Juden vertrieben habe, damit sie in den USA den Faschismus aufbauen helfen …”

Nachdem die “Allgemeine Wochenzeitung der Juden” in einem ausgesprochen zurückhaltenden Beitrag Röhl vorgeworfen hatte, an “antisemitische Instinkte” zu appellieren, reagierte er wie ein Einbrecher, der sich über die schlechten Manieren des Hausbesitzers aufregt, weil dieser ihm die Tür nicht geöffnet habe. Der Artikel in der “Allgemeinen” sei “eine offene Denunziation, eine Aufforderung an die Justiz”, etwas, das man “nicht mit Schweigen übergehen” könne.

Ritualen des Antisemitismus

Also sprach “konkret”-Herausgeber Klaus Rainer Röhl: “Vorbild dieser Zeitschrift waren und sind die Weltbühne Ossietzkys und sein wichtigster Autor Tucholsky. Zu den Autoren der ersten Stunde gehören … Kurt Hiller und viele andere jüdische Schriftsteller und Publizisten, Opfer des Faschismus und Gegner der Faschisten: Robert Neumann und Erich Fried, der Ostberliner Anwalt Friedrich Karl Kaul ebenso wie der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, Ludwig Marcuse und Hermann Kesten, ebenso wie die Hamburger Freunde Peggy Parnass und Eberhard Zamory, Mitstreiter der frühen Jahre …”

Es gehört zu den Ritualen des Antisemitismus, dass seine Subjekte, sobald man sie mit beiden Armen bis zu den Ellbogen im Mustopf ihrer Aufwallungen erwischt, sofort anfangen, ihre “jüdischen Freunde” aufzuzählen. Eine Verteidigungsstrategie, wie sie idiotischer nicht sein könnte, geradezu ein Beweis, dass der Vorwurf berechtigt ist.

Antisemitismus ist eine Krankheit, die jeden befallen kann

Erstens haben sie ihre Umwelt bereits in Juden und Nichtjuden eingeteilt, was eine Lieblingsbeschäftigung der Antisemiten ist, zweitens übersehen sie, dass auch Juden Antisemiten sein können, wofür die Geschichte und die Literatur genügend Beispiele bieten: von Karl Marx bis Otto Weininger früher, von Norman Finkelstein bis Gerard Menuhin heute.

Ihre öffentliche Existenz verdanken sie vor allem dem Umstand, dass sie jüdische Antisemiten sind, wogegen im Prinzip nichts zu sagen ist – denn der Antisemitismus ist eine Krankheit, die jeden befallen kann, unabhängig von sozialer Herkunft, Bildungsstand, nationaler, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit. Die Welt ist voller Matrosen, die seekrank werden, und Moralhüter, die sich an Kindern vergreifen.

Fehlende Maßeinheit

Das Problem mit dem Antisemitismus ist, dass es für ihn keine Maßeinheit gibt, keinen Urmeter, an dem man ihn messen könnte. Natürlich kann man von “gemäßigten” und von “radikalen” Antisemiten sprechen (so wie man mittlerweile zwischen gemäßigten und radikalen Islamisten unterscheidet). Die liberalen klassischen Antisemiten wollten die Juden nur aus dem gesellschaftlichen Leben entfernen und sie irgendwohin ausschaffen, die radikalen klassischen Antisemiten wollten sie gleich ermorden. In der Praxis trägt diese Unterscheidung aber nicht wesentlich zur Klärung der Begriffe bei.

Denn um sicherzugehen, dass die Juden nicht zurückkommen und sich wieder in der Volksgemeinschaft festsetzen, musste man sie umbringen, auch die Kinder und die Ungeborenen. Als radikaler Antisemit beziehungsweise Antizionist gilt heute jemand, der Israel als ein Krebsgeschwür bezeichnet, das entfernt werden muss. Ein gemäßigter Antisemit bzw. Antizionist ist einer, der den Nahostkonflikt “gewaltfrei” lösen möchte, indem er vorschlägt, die Juden/Israelis sollten dahin zurückgehen, woher sie gekommen sind: nach Russland, Polen, Deutschland, Österreich, Ungarn und Hawaii.

Weil es also keinen Antisemitismus-Urmeter gibt, steht es jedermann und jederfrau frei, den Begriff nach eigenem Gusto und Bedarf zu definieren. Die Deutschen haben Glück gehabt, die Geschichte hat ihnen den Maßstab ins Haus geliefert: Auschwitz und der Holocaust. Deswegen rufen sie “Nie wieder!” und “Wehret den Anfängen!”, bauen monströse Mahnmale und gedenken jedes Jahr am 27. Januar der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee.

Es sei unsere gemeinsame Pflicht, sagen dann die Festredner, dafür zu sorgen, dass sich so etwas Schreckliches nie mehr wiederholt. Doch kaum haben die Redner ihre Manuskripte wieder eingesteckt und die Musiker ihre Instrumente eingepackt, geht es mit der Routine weiter. Man empfängt Vertreter der iranischen Regierung und der iranischen Wirtschaft und verhandelt mit ihnen über einen Ausbau der Beziehungen, wohl wissend, dass die iranische Atompolitik nicht nur Israel, sondern den ganzen Nahen und Mittleren Osten bedroht.

Was haben sie gelernt?

Die Deutschen sind dermaßen damit b
eschäftigt, den letzten Holocaust nachträglich zu verhindern, dass sie den nächsten billigend in Kauf nehmen. Man kann sich ja nicht um alles gleichzeitig kümmern, man muss Prioritäten setzen. Das “Nie wieder!” bezieht sich auf 1933, “Wehret den Anfängen!” meint die “Machtergreifung” durch die Nazis. Zugleich sind die Deutschen sehr stolz darauf, dass sie, im Gegensatz zu den Juden/Israelis, “aus der Geschichte gelernt” haben. Und was haben sie gelernt? Dass vom deutschen Boden nie wieder ein verlorener Krieg ausgehen darf!

Auschwitz ist zu einer Art Markenzeichen geworden, für das Böse an sich und für einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Also dafür, wie man erst maßlos sündigen und gleich darauf gewinnbringend büßen kann. “In anderen Ländern beneiden manche die Deutschen um dieses Denkmal”, sagte Eberhard Jäckel als Festredner bei dem “Bürgerfest” zum fünften Jahrestag der Inauguration des Berliner Holocaust-Mahnmals.

Obwohl der Eintritt frei ist, hat es seine Baukosten von etwa 25 Millionen Euro längst eingespielt, denn es zählt neben dem Jüdischen Museum, der Reichstagskuppel, der Museumsinsel und dem Checkpoint Charlie zu den wichtigsten Touristenattraktionen der Hauptstadt. Aber auch der nicht materielle Gewinn ist gewaltig. Das “Mahnmal für die ermordeten Juden Europas” zeugt von der Bereitschaft der Deutschen, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.

Das ist in der Tat eine ganze Menge in einem Land, in dem man sogar den Bundespräsidenten zwingen muss, kleine Sünden bei der Finanzierung einer Immobilie zuzugeben. Und verglichen mit den Türken, die bis heute den Völkermord an den Armeniern leugnen, sind die Deutschen die perfekten Aufarbeiter und Bewältiger. Manchmal freilich dauert es doch etwas länger.

Im Sommer des Jahres 2004 reiste die damalige Ministerin für Entwicklungshilfe, Heidemarie Wieczorek-Zeul, nach Namibia, um die dort lebenden Hereros um Vergebung für einen 100 Jahre zurückliegenden Völkermord zu bitten: Im Jahre 1904 hatte der kaiserliche Offizier Lothar von Trotha einen Herero-Aufstand mit deutscher Gründlichkeit niedergeschlagen, wobei etwa 70 000 Eingeborene ums Leben kamen.

Die Ministerin, so berichteten die Zeitungen, war während ihrer Ansprache “den Tränen nahe”, sie sagte, heute würde man so ein Ereignis “als Völkermord bezeichnen”. Allerdings erfolgte die Entschuldigung erst, nachdem feststand, dass die Nachkommen der Opfer keine “Wiedergutmachung” von der Bundesrepublik verlangen würden. Es war ein symbolischer Akt, gebührenfrei und im kleinen Rahmen.

Nicht ganz so lange, nämlich nur 67 Jahre, dauerte es, bis sich die deutsche Justiz auf die Suche nach den Tätern begab, die im Juni 1944 über 600 Einwohner des französischen Dorfes Oradour hingemetzelt hatten. Ende November 2011 wurden die Wohnungen von sechs Verdächtigen, alle Mitte bis Ende achtzig, durchsucht, wobei allerdings “keine wesentlichen Beweismittel” gefunden werden konnten.

Keine Leichen im Keller, keine Tapferkeitsorden, nicht einmal eine Postkarte von Eva Braun. Offenbar hatten die ehemaligen SS-Männer die Zeit seit Kriegsende genutzt, um belastendes Material beiseitezuschaffen. So viel kriminelle Energie hätte ihnen niemand zugetraut! Wahrscheinlich muss das Ermittlungsverfahren nun aus Mangel an Beweisen eingestellt werden.

Von Johannes Gross stammt der Satz: “Je länger das Dritte Reich zurückliegt, umso mehr nimmt der Widerstand gegen Hitler und die Seinen zu.” Gross ist leider zu früh gestorben, um zu erleben, wie sehr er mit dieser Feststellung richtiglag. Nichts hat derzeit in Deutschland eine solche Konjunktur wie der “Widerstand” – gegen den toten Onkel Adi und seine Kumpane, gegen Atommülltransporte und den Neubau eines Bahnhofs zum Schutze einiger Juchtenkäfer. Wenn sich “Wutbürger” zusammenrotten, um Bäume vor dem Umbetten zu bewahren, so gilt das bereits als “Widerstand”.

Das Dritte Reich ist eine Art Wechseltapete, mit deren Hilfe man Zeitreisen inszenieren kann. Fritz Kuhn von den Grünen zum Beispiel, der zum Realo-Flügel seiner Partei zählt, hat im Zusammenhang mit dem Streit um die Mohammed-Karikaturen, die in der dänischen Tageszeitung “Jyllands-Posten” erschienen sind, erklärt, ihn würden diese (exzessiv harmlosen) Cartoons an die “antisemitischen Karikaturen im Stürmer” erinnern. Entweder hatte Kuhn grad kein Kleingeld bei sich oder er verfügt über ein phänomenales pränatales Gedächtnis, wurde er doch erst 1955 geboren.

Es scheint ein Teil des deutschen Generationenvertrages zu sein, dass die Kinder und Enkel das nachzuholen versuchen, was die Eltern und Großeltern versäumt haben. Das kann natürlich nicht funktionieren, schon gar nicht in einem System, das auf Deeskalation und Dialog setzt und Polizisten als “Anti-Konflikt-Berater” in die Straßenschlachten mit der Autonomen Antifa schickt, die man schon rein äußerlich nicht von den Schlägertrupps der Neonazis unterscheiden kann.

Dennoch: Die Freude, einen Castortransport ein paar Stunden aufgehalten zu haben, bringt die Aktivisten gefühlt in die Nähe der Geschwister Scholl. Wer im Bioladen einkauft, fair gehandelten Kaffee trinkt, kalt duscht und seinen Müll trennt, der führt schon “ein widerständiges Leben”.

Entsorgung der eigenen Geschichte vor der Tür der Opfer

In diesem Kontext der paradoxen Befindlichkeiten bietet der “Widerstand” gegen die “israelischen Faschisten” und “zionistischen Mörderbanden” eine zusätzliche Gratifikation. Man entsorgt nicht nur die eigene Geschichte vor der Tür der Opfer, man tritt auch zum Schulterschluss mit der Mehrheit der Volksgemeinschaft an.

Die Ansicht, dass die Israelis den Palästinensern das antun, was die Nazis den Juden angetan haben, ist in Deutschland inzwischen so weit verbreitet und so akzeptiert, dass “Gaza” und “Warschauer Getto” zu Synonymen geworden sind. Soll damit die Lage der Palästinenser dramatisiert oder das Warschauer Getto verharmlost werden? Beides geht, und das ist das Perfide daran.

Erst einmal ist es eine einfache rhetorische Figur, mit der die Israelis zu Nazis und die Palästinenser zu den Juden der Israelis ernannt werden. Diese rhetorische Figur ermöglicht es ihren Erfindern, “Widerstand” gegen Nazis zu leisten, weitgehend symbolisch und im Kreise Gleichgesinnter. Unnötig zu sagen, dass der antizionistische Flashmob über der Realität schwebt.

Gedenkindustrie “Gegen das Vergessen”

Für die freilich, die wohl wissen, dass Gaza zwar nicht der “Club Med” ist, dass es dort aber neben Elendsquartieren auch elegante Shoppingmalls, luxuriöse Restaurants und ein reges Strandleben gibt, wirkt die Analogie anders: Wenn es in Gaza so zugeht wie einst im Warschauer Getto, dann können die Lebensbedingungen dort so schlimm nicht gewesen sein. Bingo!

Das Gleiche gilt auch für den “Völkermord”, den Israel an den Palästinensern begeht. Es handelt sich um den ersten Völkermord in der Geschichte der Menschheit, bei dem sich die betroffene Population um ein Vielfaches vermehrt hat, allein in Gaza von etwa 300.000 Menschen im Jahre 1967, dem Beginn der Besatzung, auf über 1,5 Millionen im Jahre 2005, als Israel den Küstenstreifen räumte.

Während sich in Deutschland eine gigantische Gedenkindustrie “Gegen das Vergessen” entwickelt hat, die Stolpersteine verlegt, Ausstellungen und Studienfahrten in ehemalige Konzentrationslager organisiert, die ihrerseits als “Bildungsurlaub” geltend gemacht werden, haben die Antisemiten durchaus dazugelernt. Nur noch Exzentriker wie Horst Mahler und seine Anhänger leugnen den Holocaust oder behaupten, die Juden seien in Arbeitslagern an Erschöpfung und Unterernährung gestorben, wie Millionen von deutschen Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft.

“Erinnerung an den Holocaust wachhalten”

Der moderne Antisemit benutzt die “Auschwitz-Keule”, um sie den Juden/Israelis um die Ohren zu hauen: “Ihr seid auch nicht besser, also hört endlich damit auf, uns Vorwürfe zu machen!” Eine verständliche und nachvollziehbare Strategie, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Schon deswegen wäre es sinnvoll, Auschwitz zu vergessen. Noch besser wäre es, das Lager dem Erdboden gleichzumachen, statt U
nsummen auszugeben, um diesen Rummelplatz des Schreckens zu sanieren und zu konservieren.

Allein die Bundesrepublik hat 60 Millionen Euro zugesagt, derweil die letzten Überlebenden des Holocaust in Polen mit weniger auskommen müssen als ein von der UNRWA versorgter Palästinenser in Gaza. Eine Sprecherin des Außenamtes erklärte Anfang 2009 gegenüber der dpa: “Wir betrachten es weiterhin als eine Kernaufgabe Deutschlands, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Wir werden weiterhin zu der historischen Verantwortung Deutschlands stehen.”

60 Millionen Euro – nur ein Bruchteil der Summe

Genau darin liegt das Problem. Die historische Verantwortung Deutschlands erschöpft sich darin, “die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten”, nicht etwa die kommende Endlösung der Nahostfrage zu verhindern. Es ist eine Art Ablasshandel.

Dabei sind 60 Millionen für die Sanierung von Auschwitz nur ein Bruchteil der Summe, die im deutsch-iranischen Handel umgesetzt wird; eine Broschüre der “Deutsch-Iranischen Handelskammer zu Teheran” führt 200 deutsche Firmen auf, die im und mit dem Iran Geschäfte machen, darunter auch zwei Unternehmen, die Tunnelbohrmaschinen herstellen, die für den Bau von unterirdischen Urananreicherungsanlagen gebraucht werden, und zwei Hersteller von “fahrzeuggestützten”, das heißt mobilen Kränen, die bei öffentlichen Hinrichtungen zum Einsatz kommen.

Eine große Mehrheit der Deutschen will von einer besonderen deutschen Verantwortung für Israel nichts wissen. Bei einer Emnid-Umfrage vom November 2011 waren sich 70 Prozent der Befragten der “ernsthaften Gefahr” bewusst, die das iranische Atomprogramm für Israel bedeutet, dennoch sprachen sich 83 Prozent dafür aus, dass Deutschland neutral bleibt, falls es zu einem militärischen Konflikt zwischen Israel und dem Iran kommen sollte. So viel zur Parole: “Wehret den Anfängen!”

Und nun wird es ernst. Rainer Werner Fassbinder lässt in seinem Theaterstück “Der Müll, die Stadt und der Tod” den Antisemiten Hans von Gluck Folgendes sagen: “Und Schuld hat der Jud, weil er uns schuldig macht, denn er ist da. Wär er geblieben, wo er herkam, oder hätten sie ihn vergast, ich könnte heute besser schlafen. Sie haben vergessen, ihn zu vergasen. Das ist kein Witz, so denkt es in mir.” Vor allem wegen dieser Sätze musste sich Fassbinder den Vorwurf gefallen lassen, ein Antisemit zu sein. Aber das war er nicht. Er hat nur genau und gnadenlos die Befindlichkeit eines Antisemiten in eine Formel gepackt. “So denkt es in mir.”

In der Tat denkt das Es im Antisemiten, während das Ich Ausreden erfindet, weil das Über-Ich gelernt hat, dass man nicht Antisemit sein darf. Deswegen berufen sich Antisemiten bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf “jüdische Freunde” oder ihre eigene Herkunft, deswegen gerieren sie sich als politische “Antizionisten”, die einen Beitrag zur Befriedung des Nahen Ostens leisten wollen, wobei sie genau wissen, dass sie nur alten Wein in neue Schläuche füllen.

Israel – im Wellness-Bewusstsein ein Störfaktor

“Und Schuld hat der Jud, weil er uns schuldig macht, denn er ist da. Wär er geblieben, wo er herkam, oder hätten sie ihn vergast, ich könnte heute besser schlafen”, sagt Hans von Gluck. Tauscht man den “Jud” gegen Israel aus, hat man den schmalen Grat vom Antisemitismus zum Antizionismus überschritten. Und schon wähnt man sich auf der vermeintlich sicheren, politisch-korrekten Seite.

Israel ist im Wellness-Bewusstsein der Deutschen ein Störfaktor. Ein Stachel im Fleisch, ein Steckschuss, der immer wieder Schmerzen verursacht. Israel erinnert die Deutschen nicht nur täglich daran, dass es den Holocaust gegeben hat, es macht ihnen auch bewusst, dass ihre Väter und Großväter mit einem kühnen Projekt gescheitert sind:
Europa judenrein zu machen.

Denn schlimmer, als ein Verbrechen zu verüben, ist es, ein Verbrechen nicht zu Ende gebracht zu haben. Erinnerungstechnisch wären die Deutschen – aber auch viele Europäer, die mit den Nazis kollaboriert haben – besser dran, wenn die Nazis die “Endlösung” vollendet hätten, wenn also niemand mehr da wäre, der sie daran erinnert, dass sie versagt haben.

Fairerweise muss man hinzufügen, dass Israel zu dieser Einstellung maßgeblich beigetragen hat, indem es sich seit seiner Gründung als das Nachspiel zum Holocaust präsentiert. Es ist keine gute Idee, jeden Staatsgast, kaum dass er in Tel Aviv gelandet ist, nach Yad Vashemzu karren, ihn dort einen Kranz zur Erinnerung “an die sechs Millionen” niederlegen und das übliche “Nie wieder!” ins Gästebuch schreiben zu lassen.

Auch wenn es nur ein Ritual ist, das beide Seiten lustlos absolvieren: Irgendwann wird der Bußgang zur Zumutung. Allmächtiger! Nicht schon wieder! Wer sich ständig als Opfer präsentiert, muss damit rechnen, dass das Mitgefühl der Umwelt irgendwann in Aggression umschlägt. Nicht zufällig ist “Du Opfer!” ein auf deutschen Schulhöfen beliebtes Schimpfwort geworden. Wer sich mit seiner Bestimmung als Opfer abgefunden hat, lädt den oder die Täter dazu ein, es noch einmal zu versuchen.

Die Frage, ob Israel auch ohne den Holocaust gegründet worden wäre, mag eine interessante Aufgabenstellung für wissenschaftliche Konferenzen und akademische Arbeiten sein, für den Alltag der Israelis und deren Beziehung zur übrigen Welt ist sie vollkommen irrelevant. Die zionistische Bewegung entstand Ende des 19. Jahrhunderts, Herzls “Judenstaat”, der “Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage”, erschien im Jahre 1896.

Wäre Israel tatsächlich nur ein weiterer Kollateralschaden des Zweiten Weltkrieges – wie beispielsweise die deutsche Teilung -, dann müsste man sich in der Tat fragen, warum die Juden ihren Staat nicht irgendwo in Europa, zum Beispiel in Schleswig-Holstein oder in der Steiermark, etabliert haben und warum die Palästinenser den Preis für die Sünden der Europäer bezahlen sollen.

Wie man die Sache auch dreht und wendet, Israel ist “a pain in the ass”. Und jetzt wollen die auch noch U-Boote! Es ist, als stünde einem jeden Morgen der Gerichtsvollzieher wegen längst verjährter Schulden vor der Haustür.

Kein Volk, keine Nation, keine Ethnie

Der Antizionismus in sich ist ebenso wenig eine monolithische Bewegung, wie es der Zionismus war: Der Bogen spannt sich von Neonazis, die mit dem Ruf “Nie wieder Israel!” zu erkennen geben, dass sie diskursmäßig auf der Höhe der Zeit sind, bis zu durchgeknallten ultraorthodoxen Juden und Juden-Darstellern, die den Allmächtigen darum bitten, dem zionistischen Frevel im Heiligen Land ein Ende zu bereiten. Wirklich relevant aber, weil auf einer Art Theorie basierend, ist nur der linke Antizionismus. Der geht, zusammengefasst, so:

Die Juden sind kein Volk, keine Nation, keine Ethnie, sie sind eine Glaubens- bzw. Schicksalsgemeinschaft. Als solche haben sie keinen Anspruch darauf, sich territorial zu organisieren.

Darüber diskutieren seit Tausenden von Jahren die Juden untereinander. Es wäre nett, wenn die Antizionisten es ihnen überlassen würden, darüber zu entscheiden, was sie sein möchten.

Emanzipieren, überall fort, wo sie leben

Der Zionismus ist eine nationale Bewegung, die im 19. Jahrhundert entstanden ist. Inzwischen haben Nationalismen ausgedient. Die “jüdische Frage” bzw. das “jüdische Problem” kann nicht dadurch gelöst werden, dass sich die Juden zu einer Nation erklären, zumal auf Kosten eines anderen Volkes. Sie müssen sich “emanzipieren”, überall dort, wo sie leben.

Wenn das so wäre, müssten die Völker des ehemaligen Jugoslawien ihre nationalen Organisationen wieder aufgeben. Osttimor, der Südsudan und die Slowakei ebenso. Auch die Palästinenser hätten keinen Anspruch darauf, als Nation anerkannt zu werden, denn sie sind Teil der Umma, der großen arabischen Gemeinschaft.

Falls sie doch ein Volk sein sollten, dann wurden sie dazu nur unter dem Druck der israelischen Besatzung. Und was die “Emanzipation” der Juden angeht, so heißt es schon bei Marx: “Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.”

Israel ist ein Fremdkörper im Nahen Osten, ein künstliches Gebilde. Der jahrzehntelange Nahostkonflikt ist ein gefährlicher Brandherd, der zum Dritten Weltkrieg führen könnte. Es gilt, ihn zu entschärfen, ehe er außer Kontrolle gerät.

Fremdkörper im Nahen Osten sind auch die Kopten in Ägypten , die Baha’i im Iran und die Kurden in der Türkei, im Irak, Iran und in Syrien, die seit dem Vertrag von Sèvres im Jahre 1920 auf die ihnen versprochene Autonomie warten. Außer Island, Japan, den Malediven und den Königreichen Tuvalu und Tonga gibt es keinen Staat auf der Welt, der nicht ein künstliches Gebilde wäre.

Ginge es nach diesem Kriterium, müsste man über das Existenzrecht der Bundesrepublik als Erstes verhandeln. Man sollte dabei auch nicht vergessen, welch fatale Rolle die deutsche Außenpolitik unter Genscher bei der Zerschlagung des “künstlichen Gebildes” Jugoslawien in andere “künstliche Gebilde” gespielt hat. Vor dem Hintergrund der Geschichte der letzten 60 Jahre und gemessen an der Zahl der Opfer ist der Kampf um Palästina einer der kleinsten und unwichtigsten Konflikte der Gegenwart.

Es ist aber auch der einzige Konflikt, bei dem der Flüchtlingsstatus vererbt wird, was dazu geführt hat, dass aus den etwa 800.000 Palästinensern, die nach der Gründung Israels fliehen mussten, inzwischen etwa 4,8 Millionen geworden sind, die auf ihr “Rückkehrrecht” nicht verzichten wollen. Die “United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA)”, 1949 gegründet, ist mit über 29.000 Mitarbeitern und einem Budget von etwa 1,2 Milliarden Dollar allein im Jahre 2011 der größte Arbeitgeber im Nahen Osten.

Israel als Gefahr für den Weltfrieden

Man kann nur schätzen, wie viele Milliarden die UNRWA seit ihrer Gründung eingenommen und ausgegeben hat, um die Lage der palästinensischen Flüchtlinge buchstäblich zu zementieren. In jedem Fall ist der Selbsterhaltungstrieb der Organisation das größte Hindernis bei der Rehabilitation der Objekte ihrer Fürsorge.

Alle Argumente der Antizionisten laufen auf einen Punkt hinaus: Israel stellt eine Gefahr für den Weltfrieden dar. Ohne einen befriedeten Nahen Osten kein Frieden in der Welt. Sogar für die Juden wäre es besser, wenn der Zionismus sein eigenes Ende erklären würde, denn er fördert und befördert nur den Antisemitismus.

Ein hoch entwickelter Sinn für Gerechtigkeit?

Womit ein Klassiker reaktiviert wird: Am Antisemitismus sind nicht die Antisemiten, sondern die Juden schuld, die durch ihr Dasein und ihr Sosein ganz unvoreingenommene Menschen dazu bringen, antisemitische Gefühle zu entwickeln.

Was aber ist es, das einen Kommunalpolitiker aus Duisburg, einen Rentner aus Dortmund und eine Hausfrau aus dem hinteren Kandertal dazu bringt, einen wesentlichen Teil ihres Lebens mit der Palästina-Frage zu verbringen? Kampagnen, Unterschriftenaktionen und Sammlungen zu organisieren, gegen die Zionisten zu agitieren, die Israel-Lobby zu entlarven, sich für die Anerkennung der Hamas und der Hisbollah einzusetzen und Konferenzen zu veranstalten, die mit Appellen an die deutsche Bundeskanzlerin und den amerikanischen Präsidenten enden, den Palästinensern zu ihrem Recht zu verhelfen? Was ist es, das sie antreibt? Ein besonders hoch entwickelter Sinn für Gerechtigkeit und Menschenrechte?

Dann würden sie sich für die Tibeter einsetzen, deren Land 1950 von den Chinesen überrannt wurde. Aber Tibet ist für sie kein Thema. Auch nicht der Aufstand in Syrien , der innerhalb weniger Monate über 5000 Menschen das Leben gekostet hat. Denn weder in Tibet noch in Syrien ist irgendeine “zionistische” Verwicklung erkennbar. Und auch diedeutsche Enthaltung in der Libyen-Fr age lässt sich mit den Prinzipien einer an den Menschenrechten orientierten Politik nicht vereinbaren.

So muss man vermuten, dass den Antizionisten auch die Palästinenser egal sind, dass sie nur als Alibi und Ausrede benutzt werden, um Israel auf der Anklagebank halten zu können. Als bei den internen Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und der Fatah erst Fatah-Leute von den Hamas-Leuten und dann Hamas-Leute von den Fatah-Leuten massakriert wurden, hüllten sich die deutschen Palästinafreunde in vernehmbares Schweigen.

Parallele zum Antizionismus – Antiamerikanismus

Zu Brutalitäten Stellung zu beziehen, die von der einen Palästinenserfraktion an der anderen begangen werden, ist ihre Aufgabe nicht. Die Antizionisten vom Dienst wachen erst auf, wenn Israel ins Spiel kommt. Dann chartern sie Schiffe, laden sie mit alten Sachen voll und segeln nach Gaza, um die Welt auf die Not der Palästinenser aufmerksam zu machen.

Es gibt zum Antizionismus nur eine Parallele: den Antiamerikanismus. Der ist sogar noch älter, er entstand schon Anfang des 19. Jahrhunderts zur Zeit der deutschen Romantik. Der Begründer des intellektuellen Antiamerikanismus, der österreichische Dichter Nikolaus Lenau, wanderte 1832 in die USA aus, um dort, wie viele Europäer, ein neues Leben anzufangen. Nachdem er als Geschäftsmann und Farmer gescheitert war, kehrte er nach nur einem Jahr nach Europa zurück, um fortan den Materialismus der Amerikaner anzuprangern und den Mangel an Kultur in den “Verschweinten Staaten” zu beklagen.

Armut, Gewalt, Korruption – und “der tägliche Faschismus”

Seine anfängliche Amerika-Begeisterung war in blanken Hass umgeschlagen. “Das scheint mir von ernster, tiefer Bedeutung zu sein, dass Amerika keine Nachtigall hat”, schrieb er aus den USA in die alte Heimat.

Seitdem wartet das deutsche Feuilleton darauf, dass die USA kollabieren. Die Lieblingsthemen der deutschen USA-Korrespondenten sind Armut, Gewalt, Korruption – und “der tägliche Faschismus” in den USA. So hieß auch ein Buch, das Reinhard Lettau, Deutscher mit amerikanischem Pass und Mitglied der “Gruppe 47”, im Jahre 1971 veröffentlichte.

Die “Evidenz aus sechs Monaten” war das Ergebnis intensiver Zeitungslektüre, eine Nachrichten-Collage über Amtsmissbrauch und Behördenwillkür, der Lettau den Titel “Täglicher Faschismus” gab, um darauf hinzuweisen, “dass die Indizien für den herannahenden Faschismus sich täglich und immer schneller verstärken – dass für seine Opfer die Unterschiede zwischen dem täglichen, inzipienten amerikanischen Faschismus und dem offenen, erklärten Faschismus nicht existieren”.

Outsourcing durch “kritische Amerikaner”

Nur vier Jahre zuvor, 1967, war Hans Magnus Enzensberger zu einem Studienaufenthalt an einer amerikanischen Universität aufgebrochen, den er aber bald für beendet erklärte, um stattdessen nach Kuba zu fahren. Er begründete diesen Schritt in einem “offenen Brief”, der in der “Zeit” zu lesen war: “Ich halte die Klasse, welche in den Vereinigten Staaten von Amerika an der Herrschaft ist, und die Regierung, welche die Geschäfte dieser Klasse führt, für gemeingefährlich … Ihr Ziel ist die politische, ökonomische und militärische Weltherrschaft.”

Enzensberger hat seine Ansichten über die USA mittlerweile gründlich geändert, das deutsche Feuilleton aber pflegt die Tradition des Antiamerikanismus weiter. Allerdings wird die Aufgabe inzwischen gerne an “kritische Amerikaner” wie Noam Chomsky oder Michael Moore outgesourct, die ihre Glaubwürdigkeit und Kompetenz nicht erst beweisen müssen.

Flucht aus der Mausefalle der Geschichte

Antiamerikanismus und Antizionismus gehören zusammen wie Pech und Schwefel. Man wird keinen Antiamerikaner finden, der nicht zugleich ein Antizionist wäre, umgekehrt ist es genauso. Konsequenterweise gilt Israel als der “Brückenkopf der USA” im Nahen Osten, während in den USA die Zionisten das Sagen haben. Der “große” und der “kleine” Satan arbeiten zusammen, um die Völker der Welt zu unterjochen.

Der Antizionismus geriert sich als politische Philosophie, ist aber in Wirklichkeit eine Flucht aus der Mausefalle der Geschichte. Wenn die Palästinenser die Juden von heute sind und wenn die “Islamophobie” den Antisemitismus ersetzt hat, dann muss man sich mit den Palästinensern solidarisieren und die “Islamophobie” bekämpfen, wenn man besser als die eigenen Eltern und Großeltern sein will.

Das ist aber noch nicht alles, was in der Wundertüte des Antizionismus steckt. Stellen wir uns kurz das Undenkbare vor: Ahmadinedschad beschließt eines Tages, die friedliche Nutzung der Kernkraft zugunsten einer militärischen Option aufzugeben und die erste “selbst gebaute” Atombombe über Israel auszuprobieren.

Katastrophe mit Politik heraufbeschwören

Die Antizionisten wären darüber nicht begeistert, denn der atomare Fallout würde auch über Jericho und Ramallah niedergehen – aber auch nicht allzu traurig. Wie schon zur Zeit des Golfkrieges von 1991, als irakische Scud-Raketen in Tel Aviv einschlugen, könnten sie auch diesmal Israel die Schuld geben, weil es mit seiner Politik gegenüber den Palästinensern diese Katastrophe heraufbeschworen habe.

Damals erklärte der Sprecher der Grünen, Hans-Christian Ströbele: “Die irakischen Raketenangriffe auf Israel sind die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels.”

Das offizielle Europa würde sich, wie Deutschland im Jom-Kippur-Krieg 1973, für neutral erklären, allerdings auch versichern, eine “Neutralität der Herzen” könne es nicht geben, und den Überlebenden “humanitäre Hilfe” in Form von Zelten und Trinkwasseraufbereitungsanlagen anbieten.

Inszenierung einer noch größeren Katastrophe

Lea Rosh und ihre Freunde würden sofort eine Bürgerinitiative für ein “Mahnmal zur Erinnerung an den jüdischen Staat im Nahen Osten” gründen, das auf dem Gelände der nunmehr nicht mehr benötigten israelischen Botschaft in Berlin entstehen sollte.

Das Beste aber wäre: Im Dunst der atomaren Endlösung der Nahostfrage würde der von den Nazis organisierte Holocaust mitsamt den Schuldgefühlen den Juden gegenüber im Abgrund der Geschichte verschwinden. Über eine Katastrophe kommt man nur hinweg, indem man eine noch größere Katastrophe inszeniert.

Das ist die Substanz der antizionistischen Anstrengungen, ob sie den Protagonisten bewusst ist oder nicht: Sie nehmen die Vernichtung Israels als Preis für ihren inneren Frieden in Kauf. So denkt es in ihnen.

Der Text ist ein Vorabdruck aus dem Buch “Vergesst Auschwitz!” von Henryk M. Broder .

Buchcover

Quelle: Welt, 6.3.2012

Israels 6-Tage-Krieg und danach

Wenn man in den deutschen Massenmedien nach einem Kommentar zum Sechstagekrieg sucht, der dessen Ursachen und Konsequenzen einigermaßen zutreffend und prägnant zu benennen weiß, stößt man auf einen bemerkenswerten Fund. Im Spiegel, dessen Redakteure Israel üblicherweise alles andere als wohlgesonnen sind, stand tatsächlich zu lesen, dass es vor allem die aggressive Rhetorik der arabischen Führer, der„Heilige Krieg der Araber“, der„panarabische Nationalismus“ und der„Aufmarsch der Araber“ gewesen seien, die „die Israelis so in die Enge“ getrieben hätten, „dass diese zum Präventivschlag gedrängt wurden“. Die „arabischen Gegner“ hätten dem jüdischen Staat „nicht ein Stück Land oder eine Konzession fortnehmen“ wollen, sondern „sie hatten es auf seine Existenz abgesehen“. Die Schlussfolgerung daraus: „Ein Land mit so ungünstiger Militärgeografie lässt sich nicht defensiv, sondern nur offensiv schützen. Um zu verhindern, dass die aufmarschierten arabischen Armeen das Land von allen Seiten zugleich angriffen, in mehrere Teile zerschnitten und die Verteidiger ins Meer trieben, rief General Dayan – wie 1956 – zum Angriff.“

Doch, doch: So stand es wirklich im Spiegel – vor vierzig Jahren, am 12. Juni 1967, verfasst von Rudolf Augstein unter dem Titel „Israel soll leben“Claudio Casula hat diesen Schatz fürSpirit of Entebbe wieder ausgegraben und auch daran erinnert, dass dem damaligen Herausgeber des Nachrichtenmagazins seine eigenen Erkenntnisse schon bald nichts mehr wert waren: „Wohl aber stand damals [1967] schon fest, dass Israel im technischen Sinne und für die Araber auch im moralischen Sinne der Aggressor war. Es wollte haben, was anderen gehörte und was ohne Krieg nicht zu haben war“, schrieb Augstein 1982. Heute gibt das Blatt seiner Rückblende die Überschrift „Der Sieg, der keiner war“ und lässt Christoph Schult befinden, die „Situation von damals“ sei längst „auf den Kopf gestellt“Der Sechstagekrieg habe „die Radikalen auf beiden Seiten gestärkt“ – die „Vertreter eines Groß-Israels“ wie die „extremen Kräfte“ auf „arabischer Seite“ –, doch während erstere noch immer stur seien, könne man in Bezug auf letztere Entwarnung geben: „Die Hamas fordert einen Rückzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten und hat sich längst von ihrer Rhetorik verabschiedet, ‚die Juden ins Meer zu treiben’.“ Diese Information hat er immerhin exklusiv für sich, um es zurückhaltend zu formulieren.

Doch der Spiegel ist erwartungsgemäß kein Einzelfall. Kaum ein Medium versäumt es, einen„Pyrrhussieg“ für Israel zu konstatieren, und paradigmatisch für die landläufige Sicht auf den Verteidigungsfeldzug des jüdischen Staates meint die FAZ allen Ernstes: „Zwar sind Islamismus, Djihadismus und Terrorismus nicht ursächlich mit dem Sechstagekrieg verknüpft (es gab sie schon viel früher), doch Israels glanzvoller Sieg, den die Muslime umgekehrt als weitere ‚Demütigung des Islam durch den Westen’ empfanden, verschaffte den radikalreligiösen Kräften im Islam endgültig jenen Zulauf, den zuvor der Arabismus und Nationalismus gehabt hatten. Die Fortdauer der Besatzung und deren Praktiken erlauben es selbst jenen Muslimen, die des Konflikts überdrüssig sind und eine Regelung wollen, sich mit den Fanatikern zu solidarisieren. Diese beherrschen heute weitgehend das Terrain.“ Dass diese angebliche „Demütigung des Islam durch den Westen“ darin begründet lag, dass sich Ägypten, Jordanien und Syrien aus freien Stücken daran machten, Israel per Angriffskrieg von der Landkarte zu radieren, schreibt die Zeitung für Deutschland nicht. Denn das würde in einen Konflikt mit ihrer Auffassung geraten, dass der jüdische Staat selbst schuld am Islamismus ist und diesem sogar vermeintlich moderate Muslime in die Arme treibt.

Da hierzulande also selbst grundlegende Fakten und Kenntnisse keine Selbstverständlichkeit sind, tun Basisbanalitäten zwangsläufig not. Das American Jewish Committee hat kürzlich eine Broschüre mit dem Titel 40 years after 1967 – Israel’s quest for peace: still a work in progress (40 Jahre nach 1967 – Israels Streben nach Frieden: immer noch in Arbeit) herausgegeben, die einen Überblick über die Ursachen des Sechstagekrieges, seinen Verlauf und seine Folgen bis heute gibt. Bernd Dahlenburg von Honest Reporting (deutsch) hat die Arbeit für Lizas Welt vollständig übersetzt.


American Jewish Committee

40 Jahre nach 1967

Vierzig Jahre nachdem es einen Krieg um sein Überleben geführt hat, ringt Israel immer noch mit dem Problem der Gebiete, die es während des Sechstagekrieges erwarb. Einerseits möchte es in Frieden und Wohlstand mit seinen arabischen Nachbarn leben – eine Priorität, für die Israel bereits einen bedeutenden Anteil Land abgegeben hat. Auf der anderen Seite sieht sich das Land ernsthaften Herausforderungen an seine Sicherheit gegenüber, denen es begegnen muss, damit es sich sicher fühlen kann, wenn es zusätzliches Land zurückgibt. Der vierz
igste Jahrestag des Sechstagekrieges bietet die Möglichkeit, sich die Umstände zu vergegenwärtigen, unter denen Israel in den Besitz dieser Gebiete kam, die Bereitschaft Israels zu prüfen, Land für Frieden zu geben, und die gegenwärtige Lage zu analysieren.


Im Gegensatz zu heute weit verbreiteten Behauptungen führte Israel den Sechstagkrieg gezwungenermaßen, nicht in Angriffsabsicht. Es antwortete nur auf die erklärten Absichten seiner Nachbarn, den jungen Staat zu vernichten. Der unmittelbare casus belli war die Sperrung der Straße von Tiran für israelische Schiffe, wie US-Präsident Lyndon Johnson nach dem Krieg bestätigte. Überdies trat Israel im Interesse des Friedens bedeutende Teile der Gebiete ab: Es gab den Sinai 1982 an Ägypten zurück und 2005 den Gazastreifen an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Heute hält Israel die Westbank, wenn auch in eingeschränktem Umfang, während die PA die Autonomie über einen Großteil der Gebiete ausübt. Aber wie schon im Falle des Sinai und des Gazastreifens hat Israel auch hinsichtlich dieser Gebiete die Bereitschaft gezeigt, über Vereinbarungen nach dem Prinzip Land für Frieden zu verhandeln.

Unprovozierte Aggression

Nachdem sie 1948 damit gescheitert waren, den jungen jüdischen Staat zu zerstören, bildeten die arabischen Staaten Ägypten, Syrien und Jordanien eine Koalition und mobilisierten ihre Streitkräfte, um einen neuen Anlauf zu unternehmen. Im Mai 1967 vertrieb der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser die Uno-Friedenstruppen aus dem Sinai und setzte tausende ägyptische Soldaten und Panzer in Bewegung, um die entstandene Lücke zu schließen. Nasser verkündete: „Unsere elementare Zielsetzung ist die Zerstörung Israels. Die arabischen Völker wollen kämpfen.“ Für Israel, zahlenmäßig und waffentechnisch unterlegen, war der bevorstehende Angriff existenzbedrohend.

Der syrische Verteidigungsminister Hafez Assad proklamierte: „Unsere Streitkräfte sind nun vollständig vorbereitet – nicht nur, um die Aggression zurückzuschlagen, sondern um den Akt der Befreiung einzuleiten und die zionistische Präsenz aus unserer arabischen Heimat herauszubomben.“ Während sowohl Ägypten als auch Syrien ihre Streitkräfte an Israels Grenze zusammenzogen, wurde der jüdische Staat weithin wie ein David angesehen, der sich vor der Schlacht mit einem Goliath befindet.

Israel kämpft um sein Überleben

Am 22. Mai 1967 schloss Ägypten unter Missachtung der internationalen meeresrechtlichen Abkommen die Straße von Tiran für alle israelischen Schiffe. Im Jahr 1957, als es sich im Tausch gegen das Nichtangriffsversprechen Ägyptens aus dem Sinai zurückzog, kündigte Israel an, dass eine neuerliche Sperrung der Straße, die dem Suezkrieg vorangegangen war, als Kriegshandlung betrachtet werden würde. Die Straße war ein anfälliger Verkehrsweg für den israelischen Handel – besonders für seine Ölimporte – über das Rote Meer.

Im Mai 1967 scheiterten diplomatische Bemühungen der USA, der Sowjetunion und der Uno, Nasser davon zu überzeugen, die Straße zu öffnen. Weil es nicht in der Lage war, seine Armee als Antwort auf die Mobilisierung arabischer Staaten auf unbegrenzte Zeit im Mobilisierungszustand zu halten, und angesichts einer militärischen Allianz, die jetzt Ägypten, Syrien, Jordanien und den Irak einschloss, führte Israel am 5. Juni 1967 einen Präventivschlag gegen Ägypten. In einem Überraschungsangriff am frühen Morgen zerstörte die israelische
Luftwaffe den Bestand ägyptischer Kampfflugzeuge noch am Boden. In vier Kampftagen schlug die israelische Armee die ägyptischen Streitkräfte im Sinai und im Gazastreifen und nahm beide Gebiete ein.


König Hussein greift trotz Friedensangebot an

Am Morgen des 5. Juni sandte Israel – darauf bedacht, es nicht zu Feindseligkeiten mit Jordanien kommen zu lassen – eine Mitteilung an König Hussein, in der stand, dass „Israel Jordanien nicht – um es zu wiederholen: nicht – angreifen wird, wenn Jordanien sich ruhig verhält.“ Trotz dieser Botschaft, die vom UN-General Odd Bull überbracht wurde, weigerte sich König Hussein, den geplanten Angriff zu stoppen. Jordanien nahm Gebiete im israelischen Landesinneren sowie Jerusalem unter Beschuss, bevor Israel Abwehrmaßnahmen ergriff. Jordanien lehnte auch einen Waffenstillstand ab, der während des Krieges von der Uno ausgehandelt worden war, und setzte stattdessen die Angriffe auf den jüdischen Staat fort. Als Antwort darauf drängte Israel die jordanischen Streitkräfte über den Jordan zurück und nahm Besitz von der Westbank, einem Gebiet kleiner als New Jersey. In einem überlegt geführten Kampf zum Schutz aller heiligen Stätten vereinigte Israel Westjerusalem wieder mit dem Ostteil der Stadt, der von 1948 bis 1967 von Jordanien besetzt war.

Mit der Wiedervereinigung Jerusalems konnten die Juden zum ersten Male seit 1948 wieder an der Klagemauer beten, der heiligsten Stätte des Judentums. Bis 1967 hatte Jordanien die Waffenstillstandsvereinbarungen von 1949 verletzt und den Israelis den freien Zugang zu den heiligen Stätten in Ostjerusalem verwehrt. Nach dem Krieg und bis zum heutigen Tag hat Israel dem Waqf, der islamischen Stiftungsbehörde, die Verwaltung der Moscheen auf dem Tempelberg gewährt – trotz der Bedeutung des Areals für das Judentum.

Drei Mal nein

Am 19. Juni 1967 – gerade einmal eine Woche, nachdem sich das Land seiner potenziellen Vernichtung gegenübersah – stimmte das israelische Kabinett zu, als Gegenleistung für Friedensvereinbarungen den Sinai an Ägypten und den Golan an Syrien zurückzugeben.„Alles ist verhandelbar“, sagte Israels Außenminister Abba Eban. Die arabische Antwort jedoch, vereint in ihrer kategorischen Ablehnung eines Friedens, folgte auf einem Gipfeltreffen in Khartoum im September 1967: „Kein Frieden mit Israel, keine Verhandlungen mit Israel und keine Anerkennung Israels.“

Zu diesem Zeitpunkt gab es selbst unter den arabischen Parteien noch keine Übereinstimmung über die Errichtung eines palästinensischen Staates in der Westbank und im Gazastreifen, in den Gebieten also, die Israel sich von Jordanien respektive Ägypten angeeignet hatte. Die Agenda der PLO, wie sie in der palästinensischen Nationalcharta formuliert worden war, rief zum „bewaffneten Kampf“ auf, um ganz Palästina zu befreien, einschließlich des Staates Israel. Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die PLO 1964 gegründet wurde, drei Jahre vor dem Sechstagekrieg. Ihre raison d’etre: die Zerstörung Israels.

1947 akzeptierte Israel einen UN-Plan, einen jüdischen und einen arabischen Staat in Palästina ins Leben zu rufen, was von den arabischen Staaten abgelehnt wurde. Nach Israels Unabhängigkeitskrieg besetzte Jordanien die Westbank und Ägypten den Gazastreifen. Keiner von beiden machte Anstalten, einen palästinensischen Staat zu gründen.

Sadat kommt nach Jerusalem

Im November 1977 besuchte der ägyptische Präsident Anwar Sadat als erster arabischer Führer in offizieller Mission Israel und sprach dort vor dem Parlament. Sadat bekundete Ägyptens Wunsch, Frieden mit Israel zu schließen. Weniger als zwei Jahre später, im März 1979, unterzeichneten Israel und Ägypten einen Friedensvertrag und normalisierten ihre Beziehungen. Im Gegenzug für einen Frieden mit Ägypten zog Israel sich aus der gesamten Wüste Sinai zurück (die drei Mal so groß wie Israel ist), gab das strategisch wichtige Territorium auf, räumte seine Luftwaffenstützpunkte und Siedlungen und büßte die Ölquellen ein, die es dort entdeckt hatte.

Das Osloer Abkommen

Seit 1967 verwaltete Israel die Westbank und den Gazastreifen und regelte die Angelegenheiten der palästinensischen Bevölkerung in diesen Gebieten. Während die Palästinenser, verglichen mit ihren Erfahrungen unter jordanischer und ägyptischer Herrschaft, wesentliche Verbesserungen in ihrem täglichen Leben erfuhren, trachteten sie weiterhin nach Selbstbestimmung. 1988 gab Jordanien seinen Anspruch auf die Westbank auf und gestattete der PLO, sich um die palästinensischen Interessen zu kümmern.

Im September 1993 unterzeichneten Israel und die PLO das Osloer Abkommen. Zum ersten Mal in der Geschichte entstand eine palästinensische Regierung, die Palästinensische Autonomiebehörde, die nach und nach die Kontrolle über die palästinensischen Staatsangelegenheiten übernahm. Diese Regelung sollte zu dauerhaften Gesprächen über die Zukunft der Palästinenser führen. Im Gegenzug für die Anerkennung durch Israel versprach die PLO, auf Gewalt als legitimes Mittel des „Widerstands“ gegen den jüdischen Staat zu verzichten. Dennoch verübten palästinensische Extremisten, unter ihnen Mitglieder der Hamas und des Islamischen Djihad, zahlreiche Terroranschläge gegen Israelis.

Als Folge des Osloer Abkommens unterzeichneten Israel und Jordanien 1994 einen Friedensvertrag, der die Beziehungen zwischen beiden Staaten normalisierte. Israelis und Palästinenser hatten zu dieser Zeit große Hoffnungen; eine vollkommene und dauerhafte Beilegung des Konflikts schien möglich.

Arafat weist beispiellose Angebote zurück, Gewalttätigkeiten folgen

Verbunden mit dem Wunsch, die israelische Präsenz in der Westbank und im Gazastreifen zu beenden, bot Premierminister Ehud Barak im Juli 2000 in Camp David einen palästinensischen Staat im gesamten Gazastreifen, in über 90 Prozent der Westbank und dazu eine palästinensische Hauptstadt Ostjerusalem an. Der Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde, Yassir Arafat, lehnte das Angebot ab. Monate später, im Beisein von US-Präsident Bill Clinton, erhöhte Barak das Angebot auf 97 Prozent der Westbank, einschließlich der palästinensischen Souveränität über den Tempelberg, den Ort der antiken jüdischen Tempel. Wieder wies Arafat das Angebot zurück, wie Präsident Clinton bestätigte.

Trotz der folgenden gewalttätigen Intifada hat jeder der letzten drei israelischen Premierminister – Ehud Barak, Ariel Sharon und Ehud Olmert – die Gründung eines palästinensischen Staates Seite an Seite mit Israel befürwortet. Doch anstatt sich Israels Friedensplan anzuschließen, lehnte Arafat ihn nicht nur ab, sondern unterstützte aktiv die Gewalt gegen Israel, die eine Periode des Terrors im September 2000 einleitete und alsZweite Intifada bekannt wurde. Über 1.000 Israelis wurden in ihr bei Anschlägen getötet und nahezu 8.000 verwundet.

Der Sicherheitszaun

Um sich vor den wahllosen Terrorangriffen im Rahmen der Intifada zu schützen, in der Männer, Frauen und Kinder getötet wurden, begann Israel im Jahr 2002, eine Sicherheitsbarriere zu errichten, zum größten Teil entlang der Grünen Linie, die die Westbank vom israelischen Staatsgebiet trennt. Zu 97 Prozent besteht diese Grenze aus einem Maschendrahtzaun. Nur drei Prozent werden durch eine Betonbarriere gebildet, die dazu dient, den Beschuss israelischer Zivilisten in dicht bevölkerten Gebieten zu verhindern.

Auch wenn der Sicherheitszaun keine Ideallösung ist, hat Israel sich sehr bemüht, das Lebensrecht israelischer Bürger mit dem Recht der Palästinenser auf Bewegungsfreiheit in Einklang zu bringen. Der Zaun beinhaltet Dutzende von Grenzübertrittsstellen für die Palästinenser, die es ihnen ermöglichen, sich in beide Richtungen zu bewegen und ihre Waren und Güter zu transportieren. Bei verschiedenen Anlässen hat Israels höchster Gerichtshof angewiesen, den Zaun zu versetzen, um den palästinensischen Bauern zusammenhängendes Land zu gewährleisten – trotz des damit verbundenen Sicherheitsrisikos.

2003, ein Jahr nach Baubeginn, kam es im Vergleich zum Vorjahr zu einem Rückgang von 50 Prozent der durch Terror bedingten Todesfälle auf israelischer Seite.

Einseitiger Rückzug

Im Sommer 2005 ließ Premierminister Ariel Sharon alle 10.000 israelischen Zivilisten aus dem Gazastreifen und vier Siedlungen in der nördlichen Westbank evakuieren, weil er hoffte, so einen Reibungspunkt zwischen Israelis und Palästinensern zu beseitigen und einen Friedensimpuls zu geben. Israel zog zudem sein Militär aus dem Gazastreifen ab. Doch statt ihre neue Autonomie zu nutzen – die erste Gelegenheit dieser Art, die Lage der Palästinenser in Gaza zu verbessern –, verlor die PA ihre Kontrolle über die Macht. Die Gewalt eskalierte, weil Anhänger rivalisierender Fraktionen sich regelmäßig gegenseitig umbringen. Armut und Arbeitslosigkeit sind rasant gestiegen. Terrorgruppen feuern Kassam-Raketen von Gaza aus auf Zivilisten im Süden Israels und schmuggeln hoch entwickelte Waffen aus Ägypten ein, darunter waffentauglichen Sprengstoff, Boden-Luft-Raketen und Panzerfäuste.

Der Abzug aus dem Gazastreifen veranschaulicht die Risiken für Israel, wenn es sich aus einem Gebiet zurückzieht, ohne feste Sicherheitsgarantien zu bekommen. Heute mag sich die israelische Besetzung der Westbank für die palästinensischen Zivilisten schwierig gestalten, aber ohne einen glaubwürdigen Friedenspartner auf palästinensischer Seite hat Israel keine andere Wahl, als darauf zu warten.

Vielen Israelis wäre ein Ende der israelischen Besetzung der Westbank lieber, aber Sicherheitsmaßnahmen wie Checkpoints sind weiterhin notwendig – wegen des Terrors, der von palästinensischen Gebieten ausgeht, die häufig an israelische Dörfer und Städte grenzen. Doch ganz abgesehen davon verbesserte sich das Leben durchschnittlicher Palästinenser zwischen 1967 und 1994 sogar, als Israel offiziell den Gazastreifen und die Westbank verwaltete: Universitäten wurden eröffnet, landwirtschaftliche Neuerungen Israels wurden mit den Palästinensern geteilt, moderner Komfort hielt Einzug, und das Gesundheitssystem wurde erheblich verbessert.

Die Realität der Besatzung

Heute können etwa 92 Prozent der Palästinenser in der Westbank lesen und schreiben, und die Lebenserwartung beträgt durchschnittlich 73 Jahre. Beides spiegelt einen großen Entwicklungssprung seit den 1960er Jahren und der jordanischen Herrschaft wider. Auch wenn das Leben für Palästinenser nicht einfach ist, so entspricht die Realität nicht annähernd dem Vorwurf der „Apartheid“, der verbreitet wird, um die Situation verzerrt darzustellen.

Fazit

Die meisten Israelis haben sich, wie ihre Wahl der letzten drei Premierminister zeigte, deutlich für eine Zweistaatenlösung ausgesprochen: Palästina und Israel. Doch kann Israel nur dabei behilflich sein, diese Wirklichkeit herbeizuführen, wenn es glaubwürdige Partner hat, die diesen Weitblick teilen. Die Hamas jedoch, der gegenwärtig dominierende Partner in der palästinensischen Einheitsregierung, trachtet nach einem einzigen ungeteilten islamischen Staat, der auf den Regeln der Sharia, auf dem islamischen Gesetz also, basiert. Wenn sich vertrauenswürdige Partner finden, die in guter Absicht über eine Zweistaatenlösung verhandeln wollen, wird der Frieden unweigerlich kommen.