Die moralische Kraft der Bilder in Vietnam und in der Ukraine
Warum ist die Reaktion zum US-Krieg gegen Vietnam in den Sechzigern anders als die Reaktion in den Zwanzigern bezüglich des Krieges in der Ukraine?
Es sind die Bilder. Journalisten waren in Vietnam, anders als später im Irak oder in Afghanistan, noch nicht „embedded“, also noch nicht unter direkter Kontrolle der Militärs. Sie konnten sich noch relativ frei bewegen und relativ frei ihre Berichte und Fotos machen. Insbesondere die Bilder der Folgen der US-Bombenangriffe und anderer Kriegsverbrechen, wie die in My Lai, erzeugten moralische Abscheu. Antiimperialisten gelang es diese moralische Abscheu, die sich in den Universitäten und in der Bevölkerung verbreiteten, in Antikriegsaktivitäten zu lenken. Das bedeutete aber nicht, dass die Mehrheit der Antikriegsgegner die Natur des Imperialismus theoretisch durchdrungen hatte. Nachdem der Krieg beendet war, der moralische Protest damit obsolet war, wurde die US-Außenpolitik geostrategisch so weitergemacht, als ob es den Vietnamkrieg gar nicht erst gegeben hätte. Kriege in Jugoslawien, Irak, Afghanistan, und Regimechangeoperationen in Syrien und Libyen folgten ohne große Proteste.
Auch im Ukrainekrieg sind es die Bilder. Jeden Tag wird von den Folgen des Krieges berichtet und es bildet sich, wie im Falle Vietnams, moralische Abscheu, diesmal nicht gegen die USA, sondern gegen Russland, obwohl die USA sozusagen mitschießen, da sie eindeutig Partei im Konflikt sind. Nicht umsonst wird vom Proxy War, also vom Stellvertreterkrieg gesprochen. Anders als im Irakkrieg sind die Medien in der Ukraine nicht „embedded“, es sind ja keine Gis involviert, sie sind aber auch nicht frei wie im Vietnamkrieg, sondern sie beschränken sich in ihrer Berichterstattung auf eine Seite, sie haben von vornherein Partei ergriffen. Deutlich wurde das bereits mit der Darstellung der Maidan-Ereignisse und des illegalen Regimechange in Kiew 2014. Von der Rebellion der von der neuen Regierung diskriminierten russischsprachigen Bevölkerung im Donbas und der Krim wurde kaum oder sehr einseitig berichtet. Insbesondere wurden keine Opferbilder oder Berichte produziert, die durch den militärischen Kampf gegen die Rebellen entstanden sind. Westliche Medien ignorierten die Leiden der Rebellenrepubliken, die sich auf ca. 14000 Tote aufsummierten. Kriegerische Auseinandersetzungen begannen also bereits 2014, für die Konsumenten der westlichen Medienberichterstattung aber erst mit der russischen Invasion 2022. Der moralische Protest richtete sich quasi automatisch, bzw. von interessierter Seite gelenkt, gegen den angeblich „unprovozierten Aggressor“. Eine Analyse der geostrategischen Interessen der am Krieg direkt und indirekt Beteiligten wird nur in bislang einflusslosen Zirkeln geleistet.
In beiden Fällen, in Vietnam und in der Ukraine, spielt also die Moral eine äußerst wichtige Rolle. Der Protest blieb aber in beiden Fällen in der Moral stecken. Die den Kriegen zugrundeliegenden geostrategischen und Profitinteressen blieben bzw. bleiben außen vor. Diese Interessen müssen analysiert werden. Nur dann können Wege gefunden werden, an wen welche Forderungen gestellt werden müssen.
Günter Langer, 28.5.2023