Die islamische Welt im Kampf mit sich selbst


Die Sorge war groß gewesen. Nun ging es ja nicht mehr nur um einen beleidigenden Billigfilm über den Propheten Mohammed. Das französische Satiremagazin “Charlie Hebdo” hatte zu allem Überfluss Karikaturen des Propheten veröffentlicht und die deutschen Kollegen von der “Titanic” hatten ebenfalls einen Mohammed-Titel angekündigt.


Musste man also nach den muslimischen Freitagsgebeten nicht mit dem Schlimmsten rechnen? Als Vorsichtsmaßnahme wurden Botschaften geräumt, und die französischen Schulen in zahlreichen Ländern blieben geschlossen.


Doch der vorhergesagte muslimische Wutausbruch blieb in den meisten Ländern aus: 200 Menschen demonstrierten in Marokko, einige Hundert waren es im Jemen, in Beirut kamen weniger als 1000 Teilnehmer. In Kairo folgten dem Ruf der fundamentalistischen Salafisten gerade einmal 50 Demonstranten, die gegen die in Frankreich veröffentlichten Karikaturen ein paar Schritte in Richtung der gut gesicherten US-Botschaft machten.



Doppelspiel in Pakistan und Ägypten


Nur in Pakistan ging es nicht so glimpflich ab: 19 Menschen wurden bei Unruhen in zahlreichen Städten getötet. Die Regierung hatte den Freitag zu einem arbeitsfreien “Tag der Liebe zum Propheten” erklärt. Letztlich folgt Pakistan dem mittlerweile nur allzu bekannten Muster: Eine schwache Regierung will und kann dem Druck der erstarkenden radikalen Islamisten nicht standhalten und stellt sich deshalb selbst an die Spitze der Proteste.


Ein Doppelspiel, an dem Ägyptens Präsident Mohammed Mursi sich ebenfalls versucht hatte und das er, nach einem unangenehmen Telefongespräch mit US-Präsident Barack Obama, schnell aufgeben musste.


So gingen am Freitag in Pakistan amerikanische Fast-Food-Restaurants ebenso in Flammen auf wie Banken, Kinos und eine christliche Kirche. Aus Protest gegen die Beleidigung ihrer Religion steckten pakistanische Muslime das Gotteshaus einer anderen Religion in Brand. Es lässt sich kaum deutlicher demonstrieren, dass es mit der Äquidistanz in diesem Konflikt nicht weit her ist.



Christen fliehen in Scharen



In vielen arabischen Ländern mangelt es an grundlegendem Respekt vor anderen Glaubensrichtungen, Christen fliehen in Scharen aus der arabischen Welt. Ein Übertritt zum Christentum wird in fast allen arabischen Ländern mit dem Tod bestraft. In Saudi-Arabien ist der Bau von Kirchen ebenso verboten wie die Versammlung zum Gebet in Privaträumen, der Besitz einer Bibel kann die Aufmerksamkeit der Religionspolizei erregen. Selbst in der vergleichsweise liberalen Türkei können christliche Gemeinden keine Bankkonten eröffnen oder Immobilien besitzen, weil ihnen der rechtliche Status verwehrt wird.


Im Westen nimmt es kaum jemand mehr wahr, wenn Kämpfer der Freien Syrischen Armee sich mit einem Priestergewand aus einer geplünderten Kirche ablichten lassen, ein gestohlenes Kreuz in der Rechten. Es ist auch keine Nachricht wert, wenn tunesische Salafisten das Kreuz der Kirche von Tunis mit Müllsäcken einpacken und den Gemeindemitgliedern deutlich machen, sie wollten das Symbol des Kreuzes im “islamischen Staat Tunesien” nirgends mehr sehen. Auch nicht, dass kurz darauf die Wandgemälde der zur Kirche gehörenden Schule mit Fäkalien beschmiert und die Kreuze auf dem christlichen Friedhof beschädigt werden.


Die tägliche antisemitische Hetze in arabischen Medien wird oft als irgendwie unvermeidliche Folge des Nahostkonflikts abgetan, vollkommen bizarr wird es für uns, wenn in Pakistan muslimisch-sunnitische Extremisten einige muslimische Schiiten aus einem Bus beordern und kaltblütig erschießen.


Dabei wäre das Eingeständnis des Offensichtlichen dringend notwendig: Die meisten islamischen Gesellschaften heute haben ein Toleranzproblem. Nichts liegt ferner von der Wahrheit als die in diesen Tagen von aufgebrachten Muslimen immer wieder verbreitete Behauptung, islamische Gläubige würden niemals die Heiligtümer anderer Religionen verspotten oder angreifen.



In Deutschland bleiben Demonstrationen friedlich



Dass es auch anders geht, dass man natürlich auch als Muslim problemlos rechtsstaatliche Prinzipien achten kann, haben beispielsweise die amerikanischen Muslime bewiesen, die vollkommen selbstverständlich den Film und die Gewaltausbrüche ihrer Glaubensbrüder verurteilten, weil sie verstehen, dass der erste Verfassungszusatz in Fragen der Meinungsfreiheit wenige Verhandlungsspielraum lässt.


Auch die deutschen Muslime ärgern sich über den Film, die Demonstrationen in mehreren deutschen Städten blieben am Freitag aber vorbildlich im Rahmen dessen, was jedem Bürger in einer Demokratie gestattet sein muss.


Unübersehbar wurde in den vergangenen zwei Wochen jedoch, dass diese Debatte besonders in Deutschland gern in Extremen geführt wird. In der deutlichen Mehrheit sind die Apologeten, in der arabischen Welt ebenso wie im Westen: Der Film wird da zum Auslöser einer mit der Unvermeidbarkeit einer Naturkatastrophe eintreffenden Welle der Gewalt, hetzende Islamkritiker werden kurzerhand mit mordenden Terrorbanden gleichgestellt, und ganz nebenbei wird so den Muslimen die Fähigkeit zur kritischen Reflexion abgesprochen.



An allem soll der Westen schuld sein



Die Tatsache, dass in vielen noch ungefestigten Ländern des Arabischen Frühlings Oppositionsparteien und Extremisten ihre Chance wittern, mit Randale außerhalb der Parlamente Druck auf die Regierung auszuüben, wird zur Rechtfertigung. Dabei ist es doch so: Gäbe es jene tief sitzenden antiwestlichen Gefühle nicht, könnten die Salafisten sie auch nicht zu instrumentalisieren versuchen.


Die islamische Welt fühlt sich entmündigt und erniedrigt: Das arabische Unglück, die arabische Frustration und die allgemeine Hoffnungslosigkeit – an allem soll Amerika, an allem soll der Westen schuld sein.


Dass es den Extremisten dieses Mal mit nur mäßigem Erfolg gelang, diese Wut in eine Massenbewegung zu kanalisieren, beweist noch nicht, dass Freiheit und Toleranz sich auf dem Vormarsch befinden. Es ist einfach zu früh für eine endgültige Diagnose: Niemand kann beispielsweise vorhersehen, was die ägyptischen Muslimbrüder wollen, zu wie viel Pragmatismus die Regierungsverantwortung sie zwingen wird und wie die noch extremistischeren Fraktionen darauf reagieren werden.



Weitverbreitete Ängste vor dem Islam werden bedient



Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums hingegen muss es mindestens ein weiterer Versuch der Islamisten sein, die Weltherrschaft an sich zu reißen, die deutliche Distanzierung der US-Regierung von dem Film wird schon als Einknicken vor den islamistischen Forderungen interpretiert.


Tatsächlich ist das amerikanische Verhalten nur konsequent: Man muss das Video ja nicht gleich verbieten, aber wenn die Filmemacher sich mit ihrem Machwerk auf die Meinungsfreiheit berufen können, muss die US-Regierung denselben Rahmen doch nutzen dürfen, um den Film als “widerlich und verwerflich” zu bezeichnen und so möglicherweise weitere Opfer zu verhindern.


Ist die Meinungsfreiheit wirklich so akut gefährdet, dass der Westen zu ihrer Verteidigung nun das letzte Aufgebot zum Martyrium bereitstellen muss?


Man fragt sich, was es soll, wenn Begriffe wie Schmähfilm oder Hassvideo demonstrativ in Anführungszeichen gesetzt werden, als habe der Film irgendeine aufklärerische Funktion erfüllen sollen oder wollen.


In Blogs und Internetforen werden wieder einmal allerlei scheinbar inkriminierende Koranzitate hervorgekramt, um zu beweisen, dass der Islam letztlich eine menschenverachtende Religion sei. Schüren die Apologeten ungerechtfertigte Hoffnungen und teilen sogar extremistische Salafistengruppen in gemäßigte und etwas weniger gemäßigte ein, werden hier weitverbreitete Ängste vor dem Islam bedient – nicht immer besonders fundiert.



Historisch ist der Koran ein fortschrittliches Buch



Das Problem des Islams ist die Rezeption. Im historischen Kontext ist der Koran ein durchaus fortschrittliches Buch: Es ist kein Wunder, dass Mohammed besonders unter den Frauen viele Anhängerinnen gewonnen haben soll, die in ihm zu Recht einen Verfechter ihrer Rechte sahen. Erstmals bekamen Frauen einen Pflichtanteil des Erbes.


Dass Männer doppelt so viel erbten, macht im historischen Kontext durchaus Sinn: Der Mann musste eine Mitgift bezahlen und schließlich seine Familie versorgen. Selbst im Vergleich mit den alttestamentarischen Gesetzen macht der Islam in vielen Bereichen einen deutlichen Schritt Richtung Moderne.


Auch die Feldzüge Mohammeds nehmen sich im Vergleich zu den Eroberungskriegen des Alten Testaments geradezu bescheiden aus, das Hauptaugenmerk liegt oft unübersehbar auf der Notwendigkeit, eine in ihrer Existenz bedrohte religiöse Splittergruppe zu schützen. So muss man jenen berühmten Vers aus der zweiten Sure keineswegs als muslimischen Aufruf zum Mord an Andersgläubigen interpretieren: “Und tötet sie, wo immer ihr auf sie trefft, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben, denn Verfolgung ist schlimmer als Töten!… Solcher ist der Lohn der Ungläubigen”, steht dort.


Doch der Vers 191 mit dem scheinbaren Mordbefehl wird von zwei einschränkenden Versen umfasst: “Und kämpft auf Allahs Weg gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht! Allah liebt nicht die Übertreter”, heißt es in Vers 190 und Vers 192 erinnert nochmals: “Wenn sie jedoch aufhören, so ist Allah allvergebend und barmherzig.”



Koran entzieht sich für viele einer kritischen Betrachtung



Problematisch ist, dass nicht nur die sogenannten Islamkritiker solche Verse falsch verstehen und aus ihrem historischen Kontext reißen, sondern islamistische Terroristen damit ihre Mordzüge rechtfertigen.


Die jüdische Orthodoxie hat es geschafft, das jüdische Gesetz, die Halacha, in einer Jahrhunderte dauernden Entwicklung so zu interpretieren, dass sie – zumindest zumeist – nicht mit modernen rechtsstaatlichen Prinzipien kollidiert. Auch ultraorthodoxe Juden steinigen heute niemanden mehr, obwohl diese Strafe in ihren heiligen Schriften für eine größere Zahl Verbrechen vorgesehen war als im Islam.


Sicher, auch die Scharia hat sich gewandelt, doch mit einer historisch-kritischen Koranexegese tut sich der Islam noch immer schwer.


Als das direkt und durch den Erzengel Gabriel unmittelbar an den Propheten geoffenbarte Wort Gottes entzieht sich ihr heiliges Buch für viele Muslime einer kritischen Betrachtung.


Dabei hatte man schon im Mittelalter festgestellt, dass es im Koran und in der Überlieferung Widersprüche gibt, die nicht immer in Einklang zu bringen waren. Einige der Verse mussten nach einem logischen System, das sowohl den Offenbarungsanlass als auch die Chronologie der Suren berücksichtigt, abrogiert, also annulliert, werden. Ganz ohne historische Forschung ging es eben schon damals nicht.


Der Koran selbst schien das Vorgehen zu rechtfertigen: “Was wir an Versen aufheben oder in Vergessenheit geraten lassen – wir bringen bessere oder gleichwertige dafür. Weißt du denn nicht, dass Allah zu allem die Macht hat?” steht in der zweiten Sure.


Auch im Islam gab es Versuche, die religiösen Dogmen in Einklang mit der Vernunft oder dem philosophischen Denken der Spätantike zu bringen. Heute betreiben beispielsweise die Theologen der Ankaraner Schule eine Exegese nach der historisch-kritischen Methode.



Für viele ist das Weltbild der Islamisten verlockend



Gleichzeitig wird die islamische Welt aber seit Jahren von einer konservativen Erweckungsbewegung erfasst. Dadurch verengt sich der Spielraum für liberale Interpretation des Islam zunehmend.


Es hat auch sehr pragmatische Gründe, dass vielerorts die Oberhoheit in Religionsfragen bei den Fundamentalisten liegt: Wer ihnen widerspricht, muss nicht selten um sein Leben fürchten.


Ein erschreckend niedriges Bildungsniveau in vielen Ländern trägt zudem dazu bei, dass besonders junge, frustrierte Araber empfänglich sind für das verlockend eindeutige Weltbild der Islamisten.



Traditionen kollidieren mit Werten der Moderne



Vielleicht ist es also gar nicht zuallererst eine Auseinandersetzung zwischen dem aufgeklärten Westen und der arabischen Welt, die wir heute miterleben.


“Die Salafisten wollten alle anderen ausschließen”, sagte Abdelfattah Mouru, ein Führer der tunesischen Islamistenpartei Ennahda auf einer interreligiösen Konferenz in der Türkei jüngst: “Es geht nicht um Muslime und Christen. Es geht um jene, die die Menschlichkeit respektieren und solche, die das nicht tun.”


So kämpft die islamische Welt vor allem mit sich selbst: Traditionen und kulturelle Normen kollidieren mit den Realitäten und Werten der Moderne.


Da hilft es wenig, im Westen entweder heile Welt zu spielen oder die Apokalypse an die Wand malen. Die Entwicklung in jenen Ländern wird sich weder steuern noch beschleunigen lassen, ihr Ausgang ist ungewiss.


Bis dahin heißt es, die Extremisten und Terroristen zu bekämpfen, die neuen islamistischen Regierungen zur Mäßigung zu mahnen, in gewisser Weise sie mit Pluralismus und Demokratie zu verführen und die liberalen, weltoffenen Kräfte zu stärken.



“Wir haben genug von den Extremisten”



Dass längst nicht alles verloren ist, konnte man gerade in der ostlibyschen Stadt Bengasi erleben. Hier, wo am 11. September bei einem geplanten islamistischen Terroranschlag der US-Botschafter und drei weitere diplomatische Mitarbeiter getötet wurden, gab es am Freitag zwei konkurrierende Kundgebungen: 3000 Islamisten gingen auf die Straße, um gegen die Beleidigung ihres Propheten zu demonstrieren. Gleichzeitig zogen 30.000 Libyer durch die Straßen und forderten die Auflösung der bewaffneten Milizen. “Wo ist die Armee, wo ist die Polizei?” stand auf Bannern und “Nein zu Milizen!”


Bisher schien die schwache Zentralregierung den bewaffneten Gruppen wenig entgegensetzen zu können. In der Nacht zum Samstag hatte das Volk genug und stürmte mehrere Lager der Islamistengruppe Ansar al-Scharia, die an dem Anschlag auf das US-Konsulat beteiligt gewesen sein soll. Bei dem Versuch, ein weiteres Lager zu stürmen, eröffneten die Islamisten das Feuer. Es soll drei Tote gegeben haben.


“Nach dem, was im amerikanischen Konsulat geschehen ist, haben wir genug von den Extremisten”, wurde ein Demonstrant von dem panarabischen Fernsehsender al-Dschasira zitiert.


Gewiss ist dieser Fall von chaotischer Selbstjustiz im Wüstenreich kein Anlass, die arabische Demokratiebewegung für gerettet zu erklären. Aber immerhin ein guter Grund, nicht alle Hoffnung fahren zu lassen.

Quelle: Welt, 22.9.2012