Die Oktoberfestbombe

Es lag wohl an diesem bestimmenden Ton, dass ich sofort annahm, der Anrufer
müsse ein Polizist sein. „Wir haben Informationen für Sie, die Sie sicherlich interessieren“,
sagte der Mann und fügte – als er mein Zögern bemerkte – hinzu, dass er meine
Nummer von einem gemeinsamen Bekannten habe. Auch dieser Bekannte war Polizist.
„Können wir Sie treffen?“ „Wann und wo?“, fragte ich. „Wir stehen vor Ihrem
Haus“, sagte der Mann. Die Stimme klang sympathisch, ohne darauf bedacht zu
sein, und das war es wohl, warum ich mich spontan entschied, zu den zwei Männern
ins Auto zu steigen, die ich nicht kannte und die sich mir in dieser Nacht auch
nicht namentlich vorstellten.

Sie gaben mir Akten zu lesen, Ermittlungen der Sonderkommission Theresienwiese,
die nach dem schlimmsten Terrorakt gegründet wurde, den die Bundesrepublik je
erlebt hat: das Attentat auf das Oktoberfest am 26. September 1980, das 13
Menschen tötete und über 200 verletzte oder verstümmelte.

Plötzlich sah ich eine Stichflamme, die 20 Meter hoch war.

Bis zum frühen Morgen las ich in den Akten, die die beiden mir vorlegten.
Sie beantworteten hin und wieder eine Frage, wiesen mich auf Widersprüche in der
Ermittlung hin, ansonsten schwiegen sie. Ich vermutete: dass die beiden pensionierte
Polizisten seien, die in dieser Sonderkommission gearbeitet hatten und dass sie
über die Jahre hinweg wegen dieser Sache das Gewissen geplagt haben muss. Bis
heute weiß ich es nicht genau. So wortkarg die beiden Männer damals auch waren,
so eindeutig war ihr Motiv: Sie wollten mich auf diese Spur setzen, und je mehr
ich in dieser Nacht darüber las, desto sicherer war ich, dass ich hier das
Thema für meinen neuen Roman gefunden hatte.

Seither habe ich mich fast ein Jahr lang mit diesem Attentat beschäftigt.
Je mehr ich darüber las, desto mehr zweifelte ich an der offiziellen Version,
dass ein verwirrter Einzeltäter verantwortlich gewesen sein soll, und es
stellten sich einige dringende Fragen.

Dann erfolgte eine ungeheurer Schlag, der die ganze Festwiese erschüttert.

Sonderkommission und Bundesanwaltschaft waren damals zu dem Schluss
gekommen, das Attentat – bei dem eine Bombe in einem Papierkorb deponiert worden
war, die abends um 22.19 Uhr explodierte – sei allein von dem Donaueschinger
Studenten Gundolf Köhler begangen worden. Man hielt an dieser Theorie fest,
obwohl Zeugen wie Frank Lauterjung angaben, dass Köhler kurz vor der Explosion
erregt mit zwei Männern diskutiert habe. Lauterjung schilderte, wie Köhler mit
einem Koffer in der einen und einer Tüte in der anderen Hand auf den Papierkorb
zugegangen sei, den Koffer abgestellt habe, zu dem Papierkorb getreten sei und
etwas hineingelegt habe. Lauterjung wurde von den Ermittlern zunächst als
glaubwürdig eingestuft, doch dann versuchten sie, ihn zu einer Änderung seiner
Aussage zu bewegen. Er weigerte sich. Dann starb er überraschend einige Wochen
später im Alter von 36 Jahren an Herzversagen. Eine Untersuchung, ob sein Tod
mit dem Attentat in Verbindung stand, verlief ergebnislos. Eine von vielen
Ungereimtheiten in diesem Fall.

Danach war es erst totenstill. Dann Schreie.

Der Münchner Journalist Ulrich Chaussy zitiert in seinem Buch Oktoberfest,
ein Attentat eine weitere Zeugin: „Da waren zwei Männer, ein älterer, circa 35,
und ein jüngerer, der war 25, 26 Jahre, groß, hatte blonde kurze Haare. Der
jüngere hat wild um sich geschlagen und hat immer wieder geschrieen: Ich wollt’s
nicht! Ich kann nichts dafür! Bringt’s mich um! Ich kann nichts dafür! – Ich
wollt’s nicht!“ Eine ähnliche Aussage legten mir die beiden Unbekannten in
jener Nacht auch vor. Man fragt sich, warum nach diesen Männern nie gefahndet
wurde.

Der Mann, der eben noch vor mir stand, lag plötzlich zehn Meter weiter von
mir entfernt. Beide Beine waren abgerissen.

Ebenfalls offen ist, wie der Attentäter an die Bombe gekommen sein soll,
die aus einer mörderischen Ladung von Nägeln, Schrauben, Muttern und kantigen
Metallstücken bestand und 40 Meter weit streute. Beim Bau einer solchen Bombe
müssen unterschiedliche Kenntnisse zusammengeführt werden: über Sprengstoff,
Zünder, Logistik, Finanzierung, Montage, Transport. Allein zur Beschaffung des Sprengstoffs
sind in der Regel viele Personen nötig. Und: Sprengstoff, in diesem Fall TNT,
war und ist nicht billig. Köhler war ein Student, nicht reich. Wie war er an
das Geld gekommen, woher hatte er die Beziehungen? Wer waren seine Lieferanten?
All diese Fragen sind bis heute nicht geklärt.

Vor mir lag ein Kind. Der ganze Körper war zerfetzt, der Bauch offen.

Köhler konnte sie selbst nie beantworten. Er kam bei dem Anschlag ums
Leben. Er hatte Verbindungen zur rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann. Er war
befreundet mit Raymund Hörnle und Sibylle Vorderbrügge, die der rechtsextremen
terroristischen Vereinigung Deutsche Aktionsgruppen nahe standen. Diese hatten
bereits einen Tag nach dem Oktoberfestattentat ausgesagt, dass der
Rechtsextremist Heinz Lembke ihnen Waffen, Sprengstoff und Munition angeboten
und von umfangreichen Waffendepots erzählt habe. Leider ging die
Staatsanwaltschaft diesem Hinweis nicht nach. Erst ein Jahr später entdeckten
Waldarbeiter in der Lüneburger Heide bei Uelzen zufällig Lembkes Waffendepot.
Heinz Lembke wurde verhaftet, als er es aufsuchte. In Untersuchungshaft
offenbarte er die Lage von 33 weiteren illegalen Waffen- und Sprengstoffdepots.
Sie enthielten automatische Waffen, 14 000 Schuss Munition, 50 Panzerfäuste,
156 Kilo Sprengstoff und 258 Handgranaten. Auch erklärte er, dass er bereit
sei, die Wahrheit über den Oktoberfestanschlag auszusagen.

Dazu kam es jedoch nicht, denn einen Tag vor seiner Vernehmung wurde er
erhängt in seiner Gefängniszelle in Stadelheim aufgefunden. Die Ermittlungen wurden
eingestellt. Lembke wurde als Einzelgänger dargestellt, der die Waffenlager aus
Furcht vor einer sowjetischen Invasion angelegt habe.

Einem Verkäufer hatte die Druckwelle eine Handvoll Lose weggefegt. Während
die Menschen schrien und verbluteten, suchte er wie ein Irrer nach seinen
Losen.

Ulrich Chaussy verwies mich auf ein anderes wichtiges Buch. Der Berliner
Journalist Tobias von Heymann hatte die geniale Idee zu recherchieren, was die
Stasi über das Oktoberfestattentat wusste und stieß auf mehr als 12 000 Blatt
Unterlagen. Sein Buch Die Oktoberfestbombe, München 26. September 1980
dokumentiert sie. Beim Lesen des Buches
bekam ich den Eindruck, dass die
Informanten der Stasi mitten in der Münchner Sonderkommission gesessen haben
mussten, in der Bundesanwaltschaft und nicht zuletzt in der Wehrsportgruppe
Hoffmann und im Verfassungsschutz. Aufschlussreich ist die Mitteilung, dass der
Verfassungsschutz zwanzig Stunden vor dem Attentat eine großangelegte Operation
unter dem Codewort „Aktion Wandervogel“ gegen die Wehrsportgruppe Hoffmann
startete.

Man fragt sich, ob dies ein Zufall war oder ob westdeutsche Behörden nicht
zumindest auch gewusst haben müssen, dass ein spezielles Mitglied dieser Gruppe
gerade mit einer verheerenden Bombe auf dem Weg nach München war. Wollten sie
ablenken?

Überall wälzten sich verstümmelte Menschen schreiend in ihrem Blut. Ich
kümmerte mich zu nächst um ein zwölfjähriges Kind. In seinem Bauch steckte ein
fingerdicker Splitter.

Ein Detail allerdings hat mich besonders irritiert: Nach dem Attentat fand
sich an der Stelle des Tatorts auf der Wies’n auch eine Fingerkuppe, die durch
die Explosion abgerissen worden war. Bis heute weiß man nicht, wem sie gehört. So
wurde sie zu den Asservaten genommen. Der Anwalt Werner Dietrich, der im Namen
einiger Opfer für Wiederaufnahme des Verfahrens eintritt, beantragte 2008 die
Feststellung der DNA dieser Fingerkuppe: „Es ist wie eine offene Wunde, wenn
man in dem Bewusstsein lebt, dass die Schuldigen vielleicht noch frei
herumlaufen“, sagte er.

Die Antwort der Bundesanwaltschaft zerstörte jedoch jede Hoffnung auf Aufklärung.
Die Beweismittel gebe es nicht mehr, hieß es. Ende 1997, teilte die Bundesanwaltschaft
mit, seien die Asservate zur Vernichtung freigegeben worden. Dies sei ein ganz
normaler Vorgang in einem abgeschlossenen Fall. In Wahrheit ist es wohl eher
ungewöhnlich, denn es gab in diesem Fall weder einen Freispruch noch eine Verurteilung,
sondern nur einen mutmaßlichen toten Attentäter. Man denke an die Asservate im
Fall des Mordes an Generalstaatsanwalt Buback, die beispielsweise nicht
vernichtet wurden, sondern vor einigen Wochen zur Festnahme von Verena Becker
geführt haben.

Letztlich aber wurde mir beim Aktenstudium klar, dass man einen Schritt weiter
gehen kann und muss. Die eigentümliche Nähe von Rechtsterroristen und
Geheimdiensten zum Attentat, das Nichtbeachten wichtiger Zeugenaussagen, der
plötzliche Tod von Zeugen sowie das Vernichten von Beweismitteln weisen noch in
eine andere Richtung.

Heymann sieht Indizien, dass die Stasi das Attentat nicht als singuläres
Ereignis betrachtet hat, sondern als Glied einer Kette von Anschlägen in
Westeuropa, die von Rechtsextremen begangen, aber von Geheimdiensten geplant
und verschleiert wurden. Entsetzlicher Höhepunkt war das Attentat auf den Hauptbahnhof
in Bologna, bei dem 85 Menschen starben. Zunächst schrieben die Behörden es den
Roten Brigaden zu, dann aber, nach Recherchen mutiger Staatsanwälte, kam
heraus, dass dahinter ein europaweites Nato-Kommando stand, das in Italien unter
dem Namen „Gladio“ (Schwert) bekannt wurde.

Ursprünglich war diese Truppe als Partisanenarmee gedacht gewesen, die
eingreifen sollte, falls die Sowjetunion Westeuropa überrennen würde. Dann aber
ging Gladio dazu über, Terrorakte und politische Morde zu verüben, die dann der
Linken zugeschoben werden sollten. Sie verbündete sich in Europa mit Rechtsextremen
und Neonazis, die die Drecksarbeit übernahmen. Der ehemalige italienische Ministerpräsident
Giulio Andreotti gab die Existenz dieses Bündnisses am 3. August 1990 auf eine
Parlamentsanfrage hin zu und verwies auf ähnliche Operationen dieser Geheimarmee
in anderen europäischen Staaten, so auch in Deutschland. In vielen Staaten gab
es daraufhin Untersuchungsausschüsse, in Deutschland leider nicht. Heinz Lembke
beispielsweise soll Gladio angehört haben. Es ist bis heute nicht bekannt, was
mit deren versteckten, umfangreichen Waffen- und Ausrüstungsarsenalen geschehen
ist.

Es ist nicht nur die Trauer um die vielen Opfer, die diese Nacht mit zwei
Polizisten und ihrem Material in mir hervorrief. Fast 30 Jahre danach geht es
auch um die Frage, warum es bis heute nicht gelingt, eine Partei wie die NPD zu
verbieten – dabei wird vor allem auf die zahlreichen V-Männer verwiesen, die man
schütze müsse. Oder aber es gibt dunkle Stellen in der „gemeinsamen“
Vergangenheit von radikalen Rechten und Geheimdienst, auf die kein Licht fallen
soll. Das Attentat auf das Oktoberfest vor 29 Jahren scheint einer dieser
dunklen Flecken zu sein.

 

Wolfgang Schorlau (58) lebt und arbeitet als Autor politischer
Kriminalromane in Stuttgart. Deren Hauptfigur ist Georg Dengler, ein ehemaliger
BKA-Mann, der sich als Privatermittler selbstständig macht. Im November
erscheint – zum Thema des Beitrags auf dieser Seite – Schorlaus neuer Roman:
„Das München-Komplott“.

Hinweis: Die rot gefärbten Zitate im Beitrag sind Augenzeugenberichte aus Zeitungen von 1980.

magazin, badische zeitung, 26.9.2009

http://www.schorlau.com/BZ-Oktoberfest/index.htmE”>

 

Wolfgang Schorlau: 

Das München Komplott – Denglers fünfter Fall

Georg Dengler denkt, es sei ein alter Fall: Das Bundeskriminalamt bittet
ihn noch einmal die alten Akten über das Attentat auf das Münchner Oktoberfest
von 1980 zu prüfen. Er findet schnell heraus, dass die damaligen Ermittlungen
manipuliert wurden. – und dass die Mächte, die damals an den Fäden zogen, immer
noch lebendig und gefährlich sind.