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Shiraz Maher: “Der 9 11-Effekt“

Wie entscheidend für den islamistischen Terrorismus waren die Anschläge von Al Qaida im September 2001?

Der 11. September hat auf einen Schlag eine Menge Leute radikalisiert. Viele Menschen, die damals die USA als das Böse schlechthin sahen, fanden, Amerika habe nur bekommen, was es verdient. Für sie war es eine Genugtuung zu sehen, dass die USA verwundbar sind. Bei den ausländischen Kämpfern, die dann aus Saudi Arabien, Syrien oder Libyen in den Irakkrieg zogen, war es dasselbe: Diese Leute hegten einen echten Groll auf die Amerikaner und sahen die Möglichkeit, gegen die USA mitten im Nahen Osten zu kämpfen.

Existiert dieser 9/11-Effekt nach wie vor?

Bis zu einem gewissen Grad. Viele dieser extremistischen Bewegungen sind davon überzeugt, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt Gott und die Geschichte auf ihrer Seite stehen. Nach 9/11 war sich Al Qaida dann sicher, dass sie Amerika bald besiegen würde. Als aber klar wurde, dass die USA und ihre Verbündeten auch erfolgreich für ihre Sache kämpfen, war das für einige Al-Qaida-Sympathisanten ein Schock. Die Zahl der Al-Qaida-Sympathisanten jedenfalls ist mit der Zeit zurückgegangen.

Hängst das auch mit den Entwicklungen des arabischen Frühlings zusammen?

Eine Folge davon ist jedenfalls, dass sich der extremistische Islam von den sogenannten nicht-staatlichen Akteuren wegbewegt. Schauen Sie sich die Muslimbrüder in Ägypten an: Sie existieren nicht mehr außerhalb der staatlichen Strukturen, sondern sie gehören zum verfassungsmäßigen Mainstream, einer der ihren ist sogar Präsident. Sie haben sich von illegalen Parias zu integrierten Akteuren entwickelt. Ihre Unterstützer können über ihre Ideen jetzt offen sprechen und möglicherweise in demokratischen Konstellationen einbringen und müssen sich nicht mehr vor dem Staat verstecken.

Großbritannien hat in Europa mit am meisten unter dem islamistischen Terror gelitten. Was können andere Länder aus der britischen Erfahrung lernen?

Dass es hier keine Patentlösungen gibt. Schauen Sie sich die europäischen Staaten mit großer muslimischer Diaspora wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland oder Spanien an. In Großbritannien kommen die Menschen vor allem aus Pakistan, in Frankreich sind es Nordafrikaner, in Deutschland Türken, und diese muslimischen Gruppen sind in sich noch einmal völlig unterschiedlich strukturiert. Das einzige übergreifende Thema ist, wie man diese Menschen am besten integriert und ihnen das Gefühl gibt, zur Gesellschaft dazuzugehören. In der Regel greift jemand nur das an, wozu er sich nicht dazugehörig fühlt.

Es fällt dennoch auf, dass sich meist erst die zweite oder dritte Generation von Migranten radikalisiert.

Die erste Generation kam mit klaren wirtschaftlichen Zielen. Sie wollte im Westen Geld verdienen, um ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen. Ihren Kindern aber, beziehungsweise ihren Enkelkindern, die in Europa geboren wurden, stellen sich ganz andere Fragen: Wer bin ich, passe ich in diese Gesellschaft, gehöre ich in diese Kultur, was für eine Identität soll ich annehmen? Das Scheitern dieser Generationen, solche Fragen miteinander auszusöhnen, begünstigt Radikalisierung zu einem gewissen Grad.

Aber was macht gerade den radikalen Islam so attraktiv?

Wer sich damit auseinandersetzt, wer er ist – Türke, Araber, Brite, Deutscher, merkt vielleicht, dass er mit bestimmten Werten aus der Heimat seiner Eltern übereinstimmt, aber andere Vorstellungen in Großbritannien viel nachvollziehbarer findet. Sich exklusiv zu einer Identität zugehörig zu fühlen, ist so nicht mehr möglich. Und dann kommt der radikale Islam und sagt, du bist einfach ein Muslim, und das war’s. Diese Identität ist nicht an eine Staatsbürgerschaft, einen Ort oder eine Ethnie gebunden, und das hilft.

Linksradikale Ideologien sind auch nicht an Staatsbürgerschaft gebunden.

Der radikale Islam ist heute so etwas wie die Bewegung der Stunde; vielleicht wären einige dieser jungen Leute vor 30 Jahren glühende Kommunisten gewesen. Wer sich mit Fragen von Identität und Zugehörigkeit herumschlägt, stellt sich oft auch gegen das aktuelle politische System. Einen ,ausbeuterischen Kapitalismus’ kritisieren Links- und Rechtsextremisten genauso wie die Islamisten. Sie halten das übergeordnete System für korrupt, und machen seine Dekadenz für alle gesellschaftlichen Probleme verantwortlich. Worin sie sich unterscheiden, sind die Lösungsansätze.

Als Sie Student waren, waren Sie selbst Mitglied der islamistischen Hizb-ut-Tahrir. Warum sind Sie wieder ausgestiegen?

Weil ich nachgedacht habe. Am Anfang habe ich nur die islamische Revolution gesehen, die alle Probleme der Muslime weltweit lösen würde. Aber mit der Zeit habe ich immer mehr darüber reflektiert, wie das eigentlich aussehen soll, und dass so auch Menschen getötet werden. Irgendwann konnte ich nicht mehr anders, als auszusteigen. Ich wurde dann vom Helden zum Feind, und zwar über Nacht. Meine alten Freunde, meine Bekannten – niemand hat mehr ein Wort mit mir geredet. Das war ziemlich schwer auszuhalten. Aber es musste sein.

Shiraz Maher ist Terrorismusforscher

am International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) am Londoner King’s College. Als Student gehörte er ab 2001 für einige Jahre der islamistischen Hizb-ut-Tahrir an. Am ICSR beschäftigt er sich mit Fragen zur Radikalisierung und forscht zur Entwicklung der politischen Ideologie von Al Qaida.

Mit Shiraz Maher sprach Ruth Ciesinger.

Quelle: Tsp 1.7.2012

Frank Jansen: Im heiligen Krieg

Sicherheitsbehörden warnen vor der deutschen Salafistenszene. Neben Druck und Verboten bräuchte es noch mehr Prävention.

Unter der Wut leidet auch die Rechtschreibung. „Demokratie ist Dreck, schmutz, schmutziger als Schweinekott“ erregt sich Mohammed Mahmoud im Internet. „Eure Demokrtie und eurer Grundgesetz sind wallahi (ich schwöre zu Gott, die Redaktion) nicht mal als Klopapier tauglich“. Es geht entsprechend weiter. Der Amir – Anführer – des am 14. Juni verbotenen Salafistenvereins Millatu Ibrahim tobt sich in seinem Blog „Al-Ghorabaa“ (die Fremden) in einer „Stellungnahme über die Razzien in Deutschland“ aus. Die Tirade klingt lächerlich, doch die Sicherheitsbehörden nehmen den Hass ernst. Es sei zu befürchten, dass sich Salafisten für den Schlag rächen wollten, den Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gegen Millatu Ibrahim und zwei weitere Vereine geführt hat, warnen Experten.

Und Mahmoud äußert zumindest indirekt, was kommen könnte.

In den Wutzeilen nennt er die afghanischen Taliban „unsere Brüder“. „Wir werden nicht aufhören, die Mujahidin (Kämpfer) zu lieben und hinter, ja sogar vor ihnen zu stehen“, schreibt der Salafist. Von Anschlägen spricht er nicht, doch wie solche Hetze über das Internet wirken kann, ist spätestens seit dem 2. März 2011 hinreichend bekannt. Damals fuhr der junge, in Frankfurt lebende Kosovare Arid Uka, radikalisiert durch salafistische Online-Propaganda, mit einer Waffe im Rucksack zum Flughafen. Vor dem Eingang zum Terminal zwei schoss Uka auf US-Soldaten, die in einen Bus stiegen. Zwei Amerikaner waren sofort tot, zwei weitere erlitten schwere Verletzungen. Der Dschihad hatte erstmals in der Bundesrepublik Tote gefordert.

Eine solche Tat, sagen Sicherheitsexperten, könne jederzeit wieder passieren. Erst recht in einem so aufgeheizten Klima wie nach dem Verbot von Millatu Ibrahim und angesichts der von Friedrich angeordneten Verfahren gegen die Vereine „Dawa FFM“ und „Die wahre Religion“, die mit Millatu Ibrahim vernetzt sind.

Die vom islamistischen Terror ausgehende Gefahr scheint sich zu verlagern. Neben dem unvermindert bedrohlichen Szenario eines Anschlags von Tätern, die Al Qaida oder eine andere Organisation aus dem Ausland schickt, wächst das Risiko, dass junge, orientierungsuchende Muslime vor ihrem Computer zu Mördern werden. Diesem „selfmade terrorism“ vorzubeugen ist für Polizei und Nachrichtendienste viel schwerer als bei den „konventionellen“ Methoden von Al Qaida und verbündeter Gruppierungen wie der Islamischen Bewegung Usbekistans und der Islamischen Dschihad Union. „Was aus Wasiristan kommt, haben wir weitgehend im Blick“, sagt ein Sicherheitsexperte, „was in deutschen Wohnungen passiert, weit weniger“. Zudem nehme angesichts der permanenten US-Drohnenangriffe in der deutschen Szene die Neigung ab, nach Wasiristan zu reisen.

Es ist schon schwierig, die Größe des Spektrums der Salafisten in der Bundesrepublik zu erfassen. Die Behörden nennen Zahlen von 3000 bis 5000 Personen. Nicht alle seien militant, heißt es. Wie viele als gewaltorientiert gelten müssen, ist aber ebenfalls offen. Sicherheitsexperten sprechen von mehreren Hundert, die Zahl könne aber angesichts der Fanatisierung eines Teils der salafistischen Milieus auch höher sein – und in Zeiten wie diesen rasch steigen.

Der Überblick fällt schwer, denn die Milieus der Salafisten sind nur lose strukturiert. Vereinigungen wie Millatu Ibrahim sind Netzwerke, die auf eine Homepage fokussiert sind. Viele Nutzer solcher Websites treten nie auf der Straße in Erscheinung und sind auch keine regelmäßigen Besucher einer einschlägig bekannten und deshalb vom Verfassungsschutz beobachteten Moschee.

So ist es beispielsweise kaum möglich herauszufinden, wie viele Anhänger eine ganz spezielle Führungsfigur von Millatu Ibrahim hat: der aus Berlin stammende Denis Cuspert. Einst bekannt geworden als Rapper Deso Dogg, ist Cuspert heute einer der populärsten und den Terror verherrlichenden Einpeitscher der Salafisten. Bei seinen „Islamseminaren“ und Liederabenden mit Kampfliedern, den „Dschihad-Nasheeds“, ist die Zahl der Besucher noch übersichtlich – aber wie viele junge Muslime hat Cuspert, der sich heute Abu Talha al-Almani nennt, über das Internet erreicht? Und so aufgehetzt, dass sie im Heiligen Krieg sterben wollen, ob nun in Pakistan oder Afghanistan oder Somalia oder gleich in Deutschland?

Diese Propaganda ist offenbar kaum zu stoppen. Cusperts Hasspredigten und Hetzlieder bleiben trotz des Verbots von Millatu Ibrahim bei Youtube eingestellt. Obwohl die Sicherheitsbehörden mehr als 100 Provider schriftlich gebeten haben, Millatu Ibrahim aus dem Netz zu entfernen. Nun ist die Website des Vereins weg, doch Videos von Millatu-Ibrahim.com mit Auftritten Cusperts sind mühelos aufzurufen.

Könnten Staat und Zivilgesellschaft der Gefahr dennoch mehr entgegensetzen als bisher? Vermutlich nur, wenn neben der Repression auch die Prävention gestärkt wird. Ein Ansatz wäre der Ausbau von Angeboten zum Ausstieg aus der Szene. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) betreibt seit zwei Jahren ein Aussteigerprogramm namens Hatif. Das arabische Wort für Telefon dient als Abkürzung für das Leitmotiv „Heraus aus Terrorismus und Islamistischem Fanatismus“. Gleichzeitig ist „Hatif“ ein Hinweis auf die Hotline des BfV, über die aussteigewillige Islamisten, aber auch ihre Angehörigen und Freunde, mit Experten in Kontakt treten können, auch auf Türkisch und Arabisch. Die Resonanz ist verhalten. Mit dem Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten hat das BfV erheblich mehr Erfolg. Seit 2001 haben mehr als 1100 Neonazis und andere Rechte den Kontakt zur Behörde gesucht. Dass diese Zahl in vergleichbarer Zeit bei Islamisten erreicht werden könnte, ist unwahrscheinlich. Der Verfassungsschutz stößt in der Szene auf eine Härte, die es auch schwer macht, V-Leute zu rekrutieren.

Für viele Islamisten wäre ein Ausstieg oder Spitzelei für den Staat ein Verrat an Allah, an Gott. Das ist eine mentale Hürde, die deutlich höher ist als die der Neonazis. Die Rechtsextremen fühlen sich einer betont irdischen Ideologie verpflichtet, das senkt die Schwelle zur Annahme staatlicher Gelder oder von Hilfe beim Ausstieg.

Mehr als eine Behörde könnten zivilgesellschaftliche Initiativen bei der Deradikalisierung von Islamisten erreichen, glaubt Claudia Dantschke. Die Berliner Islamismus-Expertin leitet die Beratungsstelle „Hayat“, die parallel zu „Exit Deutschland“, dem bekannten Programm für aussteigewillige Neonazis, beim Zentrum Demokratische Kultur angesiedelt ist. Hayat, Leben, hilft muslimischen wie nicht muslimischen Eltern
, deren Kinder in islamistische Milieus abdriften. „Die Angehörigen leiden wahnsinnig, ihr ganzes Leben wird infrage gestellt“, sagt Dantschke. Sie versucht, Eltern zu „stabilisieren“, damit diese die Radikalisierung des Sohnes oder der Tochter bremsen können. Bevor es zu spät ist und ein Jugendlicher dem Terror verfällt. Das kann ein langes, zähes Ringen sein. Und der Erfolg ist nie gewiss.

Dantschke schildert typische Fälle. Ein Schüler fühlte sich an einem Gymnasium überfordert und isoliert. Salafistische Jugendliche präsentierten ihm eine schlichte Lösung: „Was du auf dem Gymnasium lernst, ist sowieso falsch, komm’ zu uns. “ Der Junge driftete ab, die Eltern waren entsetzt. Dantschke empfahl einen Ortswechsel, aber das gelang der Familie nicht. Der Sohn boykottierte jeden Versuch, einen Ausbildungsplatz zu finden. Inzwischen ist er ohne Job und vollends gefangen in der Salafistengruppe. Dennoch gibt Dantschke den Fall nicht verloren und stärkt die Eltern in ihrem Bemühen, ihren Jungen nicht aufzugeben.

In einem anderen Fall weigerte sich ein von Salafisten gelockter Sohn schon bald, einer Frau die Hand zu geben. Das Familienleben wurde zum Dauerkonflikt. Dantschke riet den Eltern zu Deeskalation, aber auch Hartnäckigkeit. „Man muss nicht jede Geste des Sohnes zum Konflikt machen“, sagt sie, „wichtig ist vielmehr, zuzuhören, Interesse zu zeigen und zu signalisieren: Wir halten am familiären Band fest, allerdings auch an unserer Meinung zum Extremismus“. Es hat geholfen. Der Jugendliche ist zwar weiter ultrafromm, aber er landete nicht in einem Terrorcamp.

Bei der Beratung kooperiert Dantschke mit Muslimen, die als religiöse Autoritäten gelten. Sie habe sich ein Netzwerk aufgebaut, „denn ohne die Einbindung von Muslimen kann die Zivilgesellschaft nichts erreichen“. Und sie fordert, dass Initiativen, die sich mit Rechtsextremismus auseinandersetzen, den Radius auf den Salafismus ausweiten. Als Beispiel nennt Dantschke Solingen, wo im Mai Salafisten randalierten, als die islamfeindliche Partei Pro NRW provozierte – und wo 1993 bei einem rassistischen Brandanschlag fünf Türkinnen starben. Die gesellschaftlichen Bündnisse, die sich 1993 gebildet haben, seien jetzt auch sensibilisiert für das Thema Salafismus. Und wie in Solingen sollten generell Moscheegemeinden „auf Augenhöhe eingebunden werden“, sagt Dantschke. Das sei für die Zivilgesellschaft leichter als für den Staat. Denn muslimische Verbände hätten in der Kommunikation mit Behörden oft den Eindruck, sie würden „in eine Rechtfertigungshaltung gedrängt“. Da verwundere kaum, dass der Staat mit seinen – wenigen – Ansätzen zur Deradikalisierung kaum Erfolg habe.

Andere Länder seien da viel weiter, sagt Dantschke. Dabei sei es dringend notwendig, dem militanten Islamismus präventiv zu begegnen. Nach dem Verbot von Millatu Ibrahim stilisiere sich die Szene der gewaltorientierten Salafisten zu Märtyrern. Trotzdem verteidigt sie die Maßnahme des Innenministers, denn ein Verbot „zwingt Extremisten erst mal, sich zu reorganisieren“. Zudem hätten die Krawalle vom Mai in Solingen und Bonn heftige Debatten in der salafistischen Szene ausgelöst, es gebe auch starke Kritik an der Hardcore-Fraktion. Doch Dantschke weiß auch, „die Anhänger von Millatu Ibrahim denken jetzt, sie haben nichts mehr zu verlieren“. Zumal der Terrorist Yassin Chouka, der aus Bonn stammt, im Mai vom pakistanischen Wasiristan aus zu Attentaten aufgerufen hat. Auf die Frage nach einer Gefahrenprognose sagt Dantschke lakonisch, „Deutschland ist jetzt Dschihad-Gebiet“.

Quelle Tgsp 1.7.2012

Arno Widmann: Ohne Islam keine europäische Moderne

Der Fundamentalismus, der nichts will als sich selbst, bringt, während er den anderen den Garaus macht, sich selbst um. Im Morgenland, im Abendland. Überall auf der Welt.

Al Biruni beim Kaiserschnitt. So viel zum islamischen Bilderverbot! Aus einer Handschrift des 14. Jahrhunderts in der Universitäts Bibiothek im schottischen Edinburgh.
Al Biruni beim Kaiserschnitt. So viel zum islamischen Bilderverbot! Aus einer Handschrift des 14. Jahrhunderts in der Universitäts Bibiothek im schottischen Edinburgh.

Welches Europa meint man, wenn man sagt, der Islam gehöre nicht zu ihm? Es ist ein um ganze Abschnitte seiner Geschichte und seiner Geografie beraubtes Europa. Ein Europa, das siebenhundert Jahre ohne große Teile der iberischen Halbinsel auskommen muss, ein Europa, das kurz hinter Wien endet, ein Europa ohne Griechenland, ein Europa, dem große Teile Italiens fehlen.

Wer aber glaubt, es wäre mit der Besetzung der Territorien getan, der täuscht sich. Auch die Köpfe wurden ergriffen. Man kann das jetzt in zwei gerade auf deutsch erschienenen Büchern nachlesen. Der 1962 in Bagdad geborene Jim Al-Khalili entstammt einer alten Gelehrtenfamilie. Er ist Professor für theoretische Atomphysik an der Universität von Surrey. Sein Buch “Im Haus der Weisheit” trägt den Untertitel “Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur”. Der 1926 in Brooklyn geborene John Freely unterrichtete an der Bogazici-Universität in Istanbul Physik und Wissenschaftsgeschichte.

Gleich zu Beginn seines Buches “Platon in Bagdad” skizziert er den Weg, den er auf den folgenden 380 Seiten gehen wird: “Die Geschichte beginnt in Kleinasien, an der ägäischen Küste bei Milet, wo unter dem Einfluss der mesopotamischen Überlieferung in der Astronomie und Mathematik die ersten griechischen Naturphilosophen, die ‘Physiker’ auf den Plan traten. Von dort führt der Weg in das klassische Athen, das hellenistische Alexandria, das kaiserliche Rom, das byzantinische Konstantinopel und das nestorianische Gondischapur. Weiter geht es in das abbasidische Bagdad, das fatimidische Kairo und Damaskus, das muslimische Córdoba, das Toledo der Reconquista, das normannische Palermo und schließlich in die lateinischsprachige Welt des 13. Jahrhunderts in Oxford und Paris, wo der Boden bereitet wurde für die wissenschaftliche Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts.”

Konstruktion von Automaten

In der Aufzählung fehlt noch ein Ort, den wir seit Jahrzehnten nur noch als Kurdenhochburg in Erinnerung haben. Von dem sicher auch wenige seiner Bewohner wissen, wie wichtig er einmal war: Diyarbakir. Hier schrieb um 1200 al-Dschazari das Standardwerk der Mechanik der arabischen Welt: “Buch des Wissens über geniale geometrische Geräte” heißt es. Er beschreibt hier die Konstruktion von Automaten – praktischer Wasserfördergeräte, aber auch solcher, die ausschließlich der Erzeugung spektakulärer Schaueffekte dienten.

Aufstieg und Niedergang der islamischen Welt ließe sich womöglich an der Geschichte der Stadt Diyarbakir und des Verhältnisses der Türken zu Kurden und Zaza beschreiben. Je mehr Freiheit diese hatten, desto besser ging es den Türken, desto mehr Freiheit hatten auch sie.

Jim Al-Khalili und John Freely haben beide gut geschriebene, lesenswerte Bücher produziert. Beide machen einem breiten Publikum klar, dass der naturwissenschaftliche Aufschwung der europäischen Neuzeit ohne die Vermittlung der arabischen Gelehrten des Mittelalters undenkbar ist. Das ist nicht neu. Aber es war in dieser kompakten Übersichtlichkeit bisher nicht nachzulesen. Keine leichte Lektüre. Jedenfalls nicht für Menschen, die schon bei der Berechnung von Kegelschnitten die Waffen strecken.

Al-Khalili geht mehr in die Einzelheiten als John Freely. Bei ihm kann man sich zum Beispiel auf ein paar Seiten genau darüber informieren, wie al-Biruni (973–1048) den Erdumfang berechnete. Natürlich kommen in beiden Büchern die gleichen Namen, die gleichen Orte vor.

Sie erzählen über weite Strecken die gleiche Geschichte. Es ist die Geschichte, wie Mathematik, Wissenschaft, Technik, Astrologie und Magie – man muss begreifen, wie eng das alles zusammenhing – in antiken Texten beschrieben und betrieben wurden, wie diese von nestorianischen Christen ins Syrische und später ins Arabische übersetzt, wie die muslimischen Gelehrten sie begierig aufgriffen, sie systematisierten, und wie sie von dort wieder zurückkamen ins christliche Abendland. John Freely erwähnt Thabit ibn Qurra (836-901), der in Bagdad als Übersetzer griechischer Texte lebte.

Er schrieb auch eigene Bücher. Darunter “Das Wesen und der Einfluss der Sterne”, das Grundbuch der islamischen Astrologie. Ibn Qurra war aber wohl Sabier, also Anhänger einer antiken Astralreligion, die Sonne, Mond und Planeten als Gottheiten verehrte. Die Geschichte ist also noch deutlich bunter, als wir annahmen.

Arabische Wissenschaft – nicht islamische

Darum spricht Jim Al-Khalili von arabischer Wissenschaft. Also nicht von muslimischer oder islamischer. Er tut das, weil viele der wichtigen Gelehrten der von ihm erzählten Geschichte keine Muslime waren: “Hunayn ibn Ishaq, der größte aller Übersetzer in Bagdad, war Nestorianer und konvertierte nie zum Islam.” Es gab jüdische Philosophen und Ärzte im Nahen Osten und in Andalusien. Sie alle aber veröffentlichten ihre Werke auf Arabisch.

Es war gerade diese Offenheit, die den Aufschwung der islamischen Welt förderte. Es war diese weltumtriebige Neugierde, die den islamischen Armeen die Gelehrten folgen ließ. Einige gingen ihnen gar voran. Es gehört zu den Schwächen beider Arbeiten, dass Indien nur am Rande eine Rolle spielt. Dabei gehört es zu den großartigen Leistungen der islamischen oder arabischen Wissenschaft, die antike Überlieferung mit den Errungenschaften der indischen Mathematik und Philosophie verbunden zu haben.

Europa übernahm ja nicht einfach die aus dem Griechischen ins Arabische übersetzten Texte. Es war fasziniert von einer Weltsicht, von Weltsichten, die sich herausgebildet hatten in der Auseinandersetzung mit einer Fülle Europa unbekannter Kulturen. Die aus Indien importierte Null zum Beispiel veränderte die gesamte Mathematik.

Freely und Al-Khalili erzählen die Geschichte der arabischen Überlieferung der Naturwissenschaften als Vorgeschichte der wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit. Sie lassen Theologie und politische Theorie weg. Dabei muss man doch davon ausgehen, dass für die christlichen Denker nach 1000 vielleicht doch nicht vor allem die einzelnen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ihrer arabischen Konkurrenten interessant waren, sondern vielmehr deren beherzter Zugriff aufs Ganze.

Gottesbegriff in wissenschaftlichem Weltverständnis

Dass Gott Gegenstand philosophischer Erörterungen sein konnte, dass es so etwas wie einen Gottesbegriff gab, dass der eingebettet war in ein wissenschaftliches Weltverständnis, in dem Experiment, Berechnung und Logik zentrale Rollen spielten, das war das Neue, das Revolutionäre. Die Debatten um das Verhältnis von Wissenschaft und Glaube waren ja nichts spezifisch Christliches, wie der Papst es uns in seiner berühmt-berüchtigten diffamatorischen Regensburger Rede weismachen wollte. Sie wurden in der islamischen Welt ebenso und lange auf einem deutlich höheren Niveau als im christlichen Abendland geführt.

Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass, was man heute als Theologie versteht, ohne das islamische Vorbild nicht zustande gekommen wäre. Es steckt deutlich mehr Islam in Europa als wir anzunehmen bereit sind.

Für den aus Zentralasien stammenden al-Biruni zum Beispiel, den Mathematiker und Mediziner, den Forschungsreisenden und Philosophen, stand der Koran nicht im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erforschung der Welt. Al-Birunis Gott war ein Förderer der Neugierde, einer, der sich daran erfreute, wenn fromme Gelehrte sich Gerätschaften bastelten, mit deren Hilfe, sie die Höhe seiner Berge berechnen konnten.

Ganz anders sah das der christliche Kirchenvater Tertullian (150–220): “Für uns ist Wissbegierde keine Notwendigkeit seit Jesus Christus, Forschung kein Bedürfnis seit dem Evangelium. Indem wir glauben, verlangen wir, nichts darüber hinaus zu glauben. Dies nämlich glauben wir zunächst: dass es nichts gibt, was wir darüber hinaus glauben müssen.”

Das Abendland hat sich die letzten Jahrhunderte glücklicherweise nicht an Tertullian gehalten, so oft auch religiöse oder andere Fundamentalisten das Beharren auf der eigenen Dummheit predigten. Das arme Morgenland aber hat sich immer wieder von eigenen Tertullians ins Bockshorn jagen lassen. Das liegt in niemandes Natur. Es liegt an den Umständen. Wie auch die Vernichtungszüge, mit denen Russland und Deutschland – jedes auf seine Weise – das zwanzigste europäische Jahrhundert verheerten, nicht in deren Natur liegen. Auch die europäische Geschichte ist kein weiterempfehlenswertes Modell. So herrlich weit wir es dann nach dem Zweiten Weltkrieg doch noch gebracht haben.

John Freely: Platon in Bagdad – Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam, Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 388 Seiten, Karten und Zeichnungen, 24,95 Euro.

Jim Al-Khalili: Im Haus der Weisheit – Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur, S. Fischer, Frankfurt am Main 2012, 443 Seiten, schwarz-weiße und farbige Abbildungen, 22,95 Euro.

Quelle: Berliner Zeitung, 30.6.2012/1.7.2012

„Eure Vorhaut sollt ihr beschneiden“



Etwa jeder dritte Mann ist nach einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation beschnitten. Die Mehrzahl von ihnen, 70 Prozent, sind Muslime, ein knappes Prozent Juden. Die Beschneidung erfolgt bei Männern in der Regel durch Zirkumzision, also das Wegschneiden der Vorhaut. Die Beschneidung ist eine sehr alte Praxis: In Nordwestdeutschland wurde in einem Moor der Leichnam eines beschnittenen Mannes aus der Bronzezeit gefunden. Herodot berichtet über die Praxis der Beschneidung unter anderem bei den Ägyptern.


Den Juden ist die Beschneidung in der Tora geboten. In Genesis 17 spricht Gott zu Abraham: „Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; eure Vorhaut sollt ihr beschneiden.“ Die Beschneidung ist im Judentum auch Voraussetzung für die Teilnahme am Pessach-Ritus (Exodus 12). Ohne sie verfügt man nicht über Kultreinheit. Im Exil und in der Zerstreuung wurde die Beschneidung neben Speisegeboten und Schabbat zentrales Identitätsmerkmal des Judentums. Ihre Bedeutsamkeit lässt sich etwa an der rabbinischen Regel ablesen, dass auch am Schabbat geborene Kinder „am achten Tag“, also an einem Schabbat zu beschneiden sind – für die akribische Einhaltung des Beschneidungsgebotes werden so Verstöße gegen Gebote der Tora an anderer Stelle in Kauf genommen. In seinem Tractatus theologico-politicus schreibt Spinoza, er halte die Beschneidung „für so bedeutungsvoll, dass ich überzeugt bin, dies allein werde das Volk für immer erhalten“.


Den Briefen des Apostels Paulus ist zu entnehmen, dass der Streit über die Beschneidung zudem von erheblicher Bedeutung für die Loslösung des Christentums vom Judentum war. Die Auseinandersetzung über die Frage, ob Christus-gläubige Heiden sich beschneiden lassen sollen, brachte Paulus zur Formulierung seiner Rechtfertigungslehre, nach der nicht Werke des Gesetzes, sondern allein der Glaube gerecht mache. In einigen orthodoxen Kirchen und manchen afrikanischen Kirchen wird die Beschneidung allerdings bis heute praktiziert.


Im Islam ist die Beschneidung zwar nicht durch den Koran vorgeschrieben, sie wurde allerdings unter Rückgriff auf vorislamische Gebräuche ein fester Bestandteil der Ritualkultur. Zeitpunkt und Begründungen dafür variieren jedoch erheblich. In den Vereinigten Staaten sind es hingegen vor allem die hygienischen und medizinischen Motive, die dazu führen, dass dort etwa 75 Prozent der Männer beschnitten sind. (bin.)

Quelle FAZ 27.6.2012

Beschneidung – Eine dauerhafte und irreparable Veränderung



Von Reiner Burger, Köln


Es war der Wunsch der Eltern, dass ihr vier Jahre alter Sohn nach islamischem Brauch beschnitten werden sollte. Am 4. November 2010 nahm Dr. K., Kölner Arzt und selbst Muslim, die Beschneidung vor. Eine medizinische Indikation für den Eingriff gab es nicht. Dr. K. vernähte die Wunden des örtlich betäubten Kindes mit vier Stichen und versorgte den Jungen bei einem Hausbesuch am Abend desselben Tages weiter. Als es zwei Tage später (wie häufig nach Beschneidungen) zu Nachblutungen kam, brachten die Eltern ihr Kind in die Kindernotaufnahme der Universitätsklinik Köln. Die Blutungen konnte dort schnell gestillt werden. Aus medizinischer Sicht war der Fall erledigt. Doch nach einem Hinweis an die Staatsanwaltschaft wurde die Angelegenheit zur Strafsache, die nun mit einem aufsehenerregenden Urteil des Landgerichts Köln zu Ende gegangen ist.


Zwar sprach das Gericht Dr. K. frei, doch zugleich kam das Landgericht zu dem Schluss, dass die Beschneidung Minderjähriger aus religiösen Gründen verboten ist. Weder die elterliche Einwilligung noch die Religionsfreiheit rechtfertigen den Eingriff. Ärzte, die Beschneidungen vornehmen, machen sich nach dem Urteil des Kölner Landgerichts strafbar.


Wie stark die Frage der Beschneidung Minderjähriger rechtlich bisher umstritten war, macht der Fall Dr. K. auch deutlich. Nachdem die Staatsanwaltschaft Köln gegen Dr. K. wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen Anklage erhoben hatte, befasste sich zunächst das Amtsgericht Köln mit dem Fall. Die Kammer folgte im vergangenen September in ihrem Urteil der Einschätzung eines Sachverständigen, dass die Beschneidung des kleinen Jungen in medizinisch nicht zu beanstandender Weise ausgeführt worden sei. Auch war die Beschneidung nach Auffassung des Amtsgerichts wegen der „wirksamen Einwilligung der Eltern des Kindes als Personensorgeberechtigen gerechtfertigt“. Die Einwilligung habe sich zutreffen am „Wohl ihres Kindes“ ausgerichtet.


Nach Abwägung zwischen dem Recht der Eltern aus Artikel 6 sowie deren Recht auf die Freiheit der Religionsausübung gemäß Artikel 4 des Grundgesetzes auf der einen Seite und dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Grundgesetz) auf der anderen Seite sei festzustellen, dass die Beschneidung als traditionell-rituelle Handlungsweise der Dokumentation der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit zur muslimischen Lebensgemeinschaft diene. „Damit wird zugleich einer drohenden Stigmatisierung des Kindes entgegengewirkt“, heißt es im erstinstanzlichen Urteil.


Zudem weist die Strafkammer des Amtsgerichts darauf hin, dass die Beschneidung aus medizinischer Sicht als „präventive Vorsorge“-Maßnahme einen wichtigen Stellenwert“ einnehme, indem sie zur hygienischen Verbesserung sowie der Vorbeugung von Krebserkrankungen und anderen Erkrankungen führe. Diesem Aspekt werde „insbesondere im amerikanischen und angelsächsischem Lebensraum Rechnung getragen“.



„Beschneidungen zur Gesundheitsvorsorge nicht notwendig“



Das Kölner Landgericht hat auch diese Begründung nun in seinem Berufungsurteil verworfen. Ein vom Gericht bestellter medizinischer Gutachter kam zu dem Schluss, es gebe „jedenfalls in Mitteleuropa keine Notwendigkeit, Beschneidungen vorbeugend zur Gesundheitsvorsorge vorzunehmen“. Entscheidend aber ist, dass das Landgericht eine Beschneidung, die ein Arzt nach Einwilligung der Eltern ordnungsgemäß an einem „nicht einwilligungsfähigen Knaben“ vornimmt, als Körperverletzung wertet. Anders als das Amtsgericht kommt das Landgericht zu dem Ergebnis, dass das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit die Grundrechte der Eltern überwiege.


Die Beschneidung sei insbesondere nicht durch die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt, weil sie „weder unter dem Blickwinkel der Vermeidung einer Ausgrenzung innerhalb des jeweiligen religiös gesellschaftlichen Umfelds noch unter dem des elterlichen Erziehungsrechts“ dem Wohl des Kindes entspreche. Der Körper des Kindes werde durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. „Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider. Umgekehrt wird das Erziehungsrecht der Eltern nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten sind abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig ist, selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam entscheidet.“


Dass das Landgericht den erstinstanzlichen Freispruch von Dr. K. bestätigt hat, begründete es damit, dass sich der Angeklagte in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden habe. K. habe „subjektiv guten Gewissens“ gehandelt. „Er ging fest davon aus, als frommem Muslim und fachkundigem Arzt sei ihm die Beschneidung des Knaben auf Wunsch der Eltern aus religiösen Gründen gestattet. Er nahm auch sicher an, sein Handeln sei rechtmäßig.“ Der Irrtum sei unvermeidbar gewesen, da die mit dem Thema Beschneidung verbundenen Fragen in Rechtssprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet würden.

Quelle FAZ 27.6.2012

Hans-Helmut Kotz: „Es drohen japanische Verhältnisse“

Ein Wanderer zwischen beiden Welten: Der Harvard-Ökonom Hans-Helmut Kotz über die Wirtschaftspolitik der USA und die Irrtümer des europäischen Sparwillens.

Die Wirtschaftspolitik der USA und Eurolands könnte unterschiedlicher nicht sein. Während die Wirtschaftsmacht Nummer eins auf die Stabilisierung der Nachfrage und somit auf Wachstum setzt und dafür hohe Schulden in Kauf nimmt, stehen diesseits des Atlantiks die Verringerung des Staatsdefizits sowie die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit an erster Stelle. Dafür nimmt die Wirtschaftsmacht Nummer zwei steigende Arbeitslosigkeit und eine Rezession in Kauf. Welcher Weg der erfolgversprechendere ist und was die Erkenntnisse des Jahres 2012 waren, darüber sprachen wir mit Hans-Helmut Kotz. Er ist ein Wanderer zwischen beiden Welten. Professor Kotz unterrichtet seit drei Jahren jeweils im Wintersemester Ökonomie an der weltberühmten Harvard University und arbeitet in den Sommersemestern am Center for Financial Studies an der Universität Frankfurt.

Professor Kotz, Sie müssen helfen. Als europäischer Volkswirt hat man es schwer, die Wirtschaftspolitik in den USA überhaupt noch nachzuvollziehen. Das fängt bei dem neuen Ziel der US-Notenbank Fed an, die Arbeitslosenrate auf 6,5 Prozent drücken zu wollen. Die Arbeitslosenrate! In Europa hat die Notenbank vor allem einen Auftrag: Die Inflation zu bekämpfen.

So revolutionär wie Sie es verstehen, ist dies nicht. Die Fed hat seit jeher zwei Aufgaben: Die Inflation im Zaum zu halten und für ausreichende Beschäftigung zu sorgen. Die Neujustierung soll Klarheit über den künftigen geldpolitischen Kurs schaffen. Erst bei einer Arbeitslosenrate von 6,5 Prozent wird die US-Notenbank die Zügel straffen.

Spielen Sie das doch nicht so herunter. Gibt es irgendwo in der kapitalistischen Welt eine Notenbank, die ein explizites Arbeitslosenziel nennt?

Stimmt, das ist neu, aber dennoch nur evolutionär. Die 6,5 Prozent sind allerdings kein Ziel. Die Fed macht jedoch deutlich, dass die Verringerung der Arbeitslosigkeit für sie auf absehbare Zeit eine größere Bedeutung hat. Dazu passt auch ihre Klarstellung, dass sie vorübergehend eine Inflationsrate von bis zu 2,5 Prozent toleriert.

Zur Person

Hans-Helmut Kotz (55) unterrichtet Volkswirtschaftslehre in Harvard und in Freiburg, wo er 2010 den Universitätslehrpreis gewonnen hat. Zudem arbeitet er am Center for Financial Studies der Goethe Universität in Frankfurt am Main.

Im Vorstand der Deutschen Bundesbank war er von 2002 bis 2010, zuletzt mit Zuständigkeiten für internationale Themen. Zwischen 1999 und 2002 war er Präsident der Landeszentralbanken Bremen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Seine Sporen verdiente er sich in seinen 15 Jahren als Chefvolkswirt der DGZ-Bank. Studiert hat Kotz Volkswirtschaftslehre in Mainz und Köln.

Die Fed ist nur transparenter geworden?

Ja, sie hat zudem die Gewichte der beiden Ziele verändert. Arbeitslosigkeit soll sich nicht strukturell verhärten. Die Fed will das ihre dazu beitragen, dass die USA in keine japanische Situation gerät.

Was ist eine japanische Situation?

Japan ist Anfang der 90er-Jahre, nachdem die dortige Vermögenspreisblase, die vor allem eine Immobilienpreisblase war, geplatzt war, in eine Rezession hineingefallen. Dieser wurde seitens der Politik nicht energisch genug entgegengetreten. Es entstand ein lähmendes Zusammenspiel aus finanzieller Verletzlichkeit, wirtschaftlicher Unsicherheit und Stagnation. Seit knapp zwei Jahrzehnten sinkt nunmehr das Preisniveau, wenn auch stets nur leicht. Die realen Zinsen, also nach Abzug der Inflation beziehungsweise im Falle Japans unter Hinzurechnung der Deflation, blieben damit so hoch, dass Investitionen unattraktiv und Abwarten attraktiv wurde. Mit unsicheren Absatzaussichten wachsen die Risiken und damit die Rentabilitätsanforderungen – und deshalb die Neigung zum weiteren Warten. Deshalb dümpelt die japanische Wirtschaft seit fast einem Vierteljahrhundert vor sich hin. Diesen Teufelskreis will die Wirtschaftspolitik in den USA erst gar nicht entstehen lassen.

Aber ist die Geldpolitik in den USA nicht schon längst wirkungslos? Die Zinsen liegen bei null, die Notenbank kauft inzwischen Monat für Monat 85 Milliarden Dollar an Staatstiteln und Hypothekenpapieren auf, um die Wirtschaft zu fluten.

Die Fed glaubt, dass die US-Wirtschaft unter ihren Möglichkeiten bleibt. Es gibt ein Auslastungsproblem. Zu dessen Bewältigung kann sie beitragen. Da eine weitere Verringerung der Notenbankzinsen nicht mehr möglich ist, kauft die Fed Wertpapiere. Dadurch sinkt das Zinsniveau insgesamt und die Finanzierungsbedingungen von Firmen und Privathaushalten verbessern sich.

Das hört sich für Europäer höchst sonderbar an, denn auch das US-Staatsdefizit liegt derzeit mit rund neun Prozent fast dreimal so hoch wie in Euroland! Und die Arbeitslosigkeit ist in den USA dennoch kaum gesunken.

Doch, sie ist gesunken! Von in der Spitze zehn Prozent im Oktober 2009 auf gegenwärtig knapp über 7,5 Prozent. In Euroland hat sie sich dagegen von ebenfalls zehn Prozent im Jahr 2010 auf gegenwärtig 11,5 Prozent erhöht. Tendenz: weiter steigend. Dabei verdeckt dieser
Mittelwert die katastrophale Lage in Südeuropa, wo die Arbeitslosigkeit deutlich höher ist, vor allem unter Jugendlichen. Die USA verfolgen eine Vorwärtsstrategie. Man will möglichst zügig zurück zum Potenzial der Volkswirtschaft. Der Fokus liegt auf Wachstum, weil nur so eine Konsolidierung – also eine tragfähige Schuldenposition – erreichbar ist.

Der Preis ist ein Schuldenstand der USA, der die 100-Prozent-Marke knackt, ab der es brenzlig wird.

Hier gibt es keinerlei Einschätzungsunterschiede zwischen europäischen und US-Volkswirten. Diese Situation ist korrekturbedürftig. Die zentrale Frage lautet jedoch: In welchem Zeithorizont soll die Konsolidierung erfolgen? In Europa, vor allem in den Krisenländern, ist man sehr ehrgeizig, die Steuern werden stark erhöht und die Ausgaben kräftig gekürzt. Am Ende zählt aber nicht, wie ambitioniert man ist, sondern ob das angestrebte Ziel – tragfähige Schulden – erreicht wird. Nicht die Instrumente, sondern das Ergebnis zählen.

Wenn das in den USA so gesehen wird, wieso fürchtet sich dann die ganze Welt vor dem „Fiscal Cliff“, einer Situation, bei der automatisch die Steuern kräftig erhöht und die Aufgaben heftig gekappt werden?

Die USA fallen in den fiskalischen Abgrund, wenn sich Demokraten und Republikaner nicht auf ein Konsolidierungsprogramm einigen. Der von der Politik installierte Automatismus soll die Einigung erzwingen. Fast alle US-Ökonomen, von den Konservativen bis hin zu den Progressiven, sind sich einig: Der Versuch eines rabiaten Defizitabbaus würde der Volkswirtschaft schaden. Er würde am Ende zu einem Anstieg der Verschuldung führen.

Dann müssten die US-Ökonomen den europäischen Weg als dumm bezeichnen?

Die meisten US-Ökonomen, die sich seit langem für Europa interessieren, schlagen tatsächlich eine andere Balance vor. Das tut im Übrigen ja auch der IWF. Die Rezession in Euroland hatten viele europäische Ökonomen vor einem Jahr so gut wie nicht in den Karten, weil sie die Bremswirkungen der verfolgten Politik unterschätzt hatten.

Im Interview mit dieser Zeitung waren Sie sich indes sicher, dass Euroland genau dort landen wird, wo es heute herumkrebst. Was droht Euroland nun nächstes Jahr?

Ich fürchte, dass Europa noch tiefer in eine kritische Situation hineingerät, insbesondere die Problemländer.

Also drohen Europa japanische Verhältnisse?

Ja, das sind mittelfristig leider wahrscheinliche Aussichten: eine stagnierende, schwächelnde Wirtschaft, auch in Deutschland. Das erschwert natürlich die Schuldenlast. Die Erfahrung lehrt uns: Wenn eine Sache ins Rutschen kommt, rutscht sie in aller Regel eine unangenehme Weile weiter. In Euroland liegen die Risiken leider auf der Abwärtsseite.

Könnte man das US-Konzept auf Europa übertragen?

Darf ich mit einer Frage antworten? Uns sollte interessieren, bewirkt die verabreichte Medizin in Europa das, was sie soll: tragfähige Schulden?

Und wie lautet Ihre Antwort?

Eher nicht. Denn es kommt auf die Wirkung an, den die Haushaltspolitik in einer Umgebung sehr niedriger Zinsen hat. Damit ist der sogenannte Multiplikator gemeint, übrigens seit Jahren eines der aktivsten Forschungsfelder hier in den USA.

Den Multiplikator?

Dieser misst, wie sich die Kürzung der Staatsausgaben um ein Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, auf dieses selbst auswirkt.

Geht es etwas konkreter?

Ja. Wenn der Staat seine Ausgaben um ein Prozent kürzt, beziffert der Multiplikator, um wie viel Prozent das Einkommen, das Bruttoinlandsprodukt in der Folge sinkt. Die Konsequenzen für das BIP sind zentral. Denn am Ende interessiert das Verhältnis von Schulden zu Einkommen, aus denen diese bedient werden. Wenn die verabreichte Medizin das Einkommen schneller schrumpfen lässt als die Schulden, dann gerät eine Wirtschaft in eine immer weniger haltbare Lage. Je geringer man nun den Effekt ansetzt, desto höhere Dosen von Sparsamkeit sind möglich.

Und was sagen die Studien?

Sie zeigen, dass es eine Schwelle gibt, bei deren Überschreiten das Gegenteil dessen rauskommt, was erreicht werden sollte: Die Schuldenquoten steigen. Zu ungeduldige Sparpolitik beschädigt das Bruttoinlandsprodukt, vergrößert den Abstand zum Potenzial – und vergrößert das Schuldenproblem.

Sprich: Wenn der Multiplikator größer eins ist, sollte man weniger ehrgeizig sparen?

So ist es. Man erhöht jedenfalls nicht die Enthaltsamkeits-Dosis, wartet vielmehr die Wirkungen ab. Vor allem überlegt man sich, wie eine Wachstumsperspektive aussehen könnte.

Die Europäer unter Führung der Deutschen hatten in Südeuropa mit einem Multiplikator von nur 0,5 gerechnet, nicht wahr?

Ja und damit waren sie sehr optimistisch. In vielen sorgfältigen Arbeiten mit sogenannten quasi-natürlichen Experimenten kommen Werte deutlich über eins heraus.

Was also tun?

Eine vorsichtigere Politik würde die Medizin ab jetzt anders dosieren, würde – wie in den USA – das Wachstum nicht außer Acht lassen. Das wäre auch im ureigenen Interesse Deutschlands. Denn die Rückwirkungen des ambitiösen Konsolidierens auf die deutsche Wirtschaft sind offenkundig. Immerhin gehen gut 40 Prozent unserer Ausfuhr nach Euroland.

Sprich, Euroland braucht einfach mehr Geduld beim Schuldenabbau?

Auf jeden Fall. Der Ehrgeiz sollte sich darauf richten, produktiver zu werden und eine Außenhandelsposition anzustreben, die nachhaltig ist. Das ist möglich. Dafür müssen die Gläubigerländer im Norden auf die Binnennachfrage setzen.

Das Gespräch führte Robert von Heusinger.

Quelle: FR 28.12.2012

Marilyn Monroe – eine Kommunistin?

FBI-Akte
“Marilyn Monroe” wirft neue Fragen auf

Länger als 50 Jahre hielt das FBI die Akte der
Schauspielerin Marilyn Monroe geheim. Jetzt hat die Behörde eines der Dokumente
freigegeben. Auf 31 Seiten kommen erstaunliche Details ans Licht.
 Von Hannes Stein (Welt, 31.12.2012)

 

 

Marilyn Monroe war kein dummes Blondchen. Sie las gern und
viel – in ihrer Privatbibliothek fanden sich Bände von Camus, James Joyce,
Thurber, Walt Whitman und Thomas Mann. Marilyn Monroe schrieb Gedichte.

Sie war ein zutiefst sensibler und verletzlicher Mensch. War sie
auch eine Kommunistin? Jedenfalls behauptete dies ein anonymer Anrufer, der
sich am 3. Juli 1956 bei den “New York Daily News” meldete.

Der Dramatiker Arthur Miller, den Marilyn Monroe gerade eben
geheiratet hatte, sei Mitglied der Kommunistischen Partei Amerikas und ihr
“Strohmann für Kulturelles”. Die religiöse Hochzeitszeremonie mit
Miller – Marilyn Monroe war seinetwegen zum Judentum übergetreten – sei nichts
als “Schwindel”.

Marilyn Monroe, sagte der Anrufer, sei “immer mehr in den
kommunistischen Orbit abgedriftet”, und Geld aus ihrer Firma, Marilyn
Monroe Productions, sei auf den Konten der Kommunistischen Partei Amerikas
aufgetaucht.

Beobachtung
durch das FBI begann 1955

 

 

Woher wissen wir von jenem anonymen Anruf? Weil er am 11.
Juli 1956 dem FBI gemeldet wurde und das FBI einen Aktenvermerk darüber
anlegte. Man kann ihn auf der Website des FBI unter vault.fbi.gov einsehen. Der
anonyme Anruf ist Teil eines Dokuments, das 31 Seiten umfasst.

Die
Beobachtung durch das FBI begann demnach im August 1955, als Monroe bei der
sowjetischen Botschaft einen Antrag für ein Visum stellte.

Später
wird eine Reise dokumentiert: “Diese Quelle teilte mit, dass MARILYN
MONROE, die Schauspielerin, kürzlich in Mexiko auf Urlaub war und in Mexiko
enge Beziehungen mit Mitgliedern der Amerikanischen Kommunistischen Gruppe in
Mexiko pflegte. Die Quelle charakterisierte die Amerikanische Kommunistische
Gruppe in Mexiko als lockeren Zusammenschluss geselliger Natur von
gegenwärtigen und/oder vergangenen Mitgliedern der Kommunistischen Partei der
USA und ihren Freunden und Bekannten, die dem Kommunismus und der Sowjetunion
mit Sympathie gegenüberstehen. Sie teilten mit, im Laufe dieses Besuches sei
eine wechselseitige Verliebtheit zwischen dem Subjekt und (Stelle geschwärzt)
entstanden. Diese Situation verursachte erhebliche Bestürztheit bei Frau
Monroes Begleitung und auch bei der Amerikanischen Kommunistischen Gruppe in
Mexiko.”

Nach 50 Jahren Aufklärung verlangt

Die Akte des FBI
dokumentiert die Zeit bis kurz vor dem Tod der Schauspielerin; sie enthält
nicht nur eigene Berichte und Einschätzungen, auch Ausschnitte aus Magazinen
und Fotografien wurden ihr beigefügt.

Diese Akte ist nichts
Neues, aber sie ist unvollständig. Das FBI behauptet, der Rest sei bei einem
Transport verloren gegangen.

Pünktlich zum 50.
Todestag der Schauspielerin – Monroe wurde am 5. August 1962 tot aufgefunden –
hat die Nachrichtenagentur AP nun eine Kampagne gestartet, um das FBI zu
zwingen, mit mehr Informationen über sie herauszurücken.

Vor allem geht es
darum zu erfahren, unter welchen Umständen der Rest ihrer Akte, wie das FBI
behauptet, abhanden kam; und es geht um die zensierten Stellen. 50 Jahre
danach, so AP, könne niemand mehr behaupten, dass die Schwärzungen notwendig
seien.

Monroes Tod bleibt weiter ein Rätsel

Im Hintergrund all
dessen steht die Frage nach Marilyn Monroes Tod, um den sich viele
Verschwörungstheorien ranken. Bevor sie starb, hatte Marilyn Monroe eine Affäre
mit John F. Kennedy, dem Präsidenten, und vielleicht auch mit seinem Bruder
Robert Kennedy. Der letzte Mensch, den sie vor ihrem Tod anrief, war der
Präsident.

Es gibt also Leute,
die mutmaßen, sie sei einem Komplott zum Opfer gefallen; die CIA oder die Mafia
habe Marilyn Monroe umgebracht. Oder eben das FBI.

Thomas Noguchi, der
Arzt, der nach ihrem Tod die Autopsie durchführte, schrieb allerdings, er halte
für “sehr wahrscheinlich”, dass sie sich umgebracht habe. Er meinte
aber auch: “Solange die kompletten Berichte des FBI nicht öffentlich
gemacht wurden und die Notizen und Interviews der
Selbstmorduntersuchungskommission nicht zugänglich sind, werden sich weiterhin
Kontroversen um ihren Tod drehen.”

War Arthur Miller ein “kultureller
Strohmann”?

Unterdessen bleibt
eine andere Frage weiter offen: Hatte jener anonyme Anrufer bei den “New
York Daily News” recht? War Arthur Miller wirklich ein “kultureller
Strohmann” der Kommunistischen Partei?

Er selbst behauptete
in seiner Anhörung vor dem House Un-American Activities Committee, er habe in
den Dreißigerjahren nur an einem marxistischen Studienkreis teilgenommen. Das
sei es schon gewesen.

Es muss aber
auffallen, dass Miller in seinen späteren öffentlichen Äußerungen immer
hundertprozentig auf Parteilinie war – zumindest bis in die späten
Fünfzigerjahre hinein.

Eine schöne Ironie der Geschichte

Also: Antifaschist
nach 1936, kein kritisches Wort über die Moskauer Schauprozesse von 1937, von
1939 bis 1941 Isolationist (als die Sowjetunion mit Hitlerdeutschland verbündet
war), am Tag des nazideutschen Angriffs auf die Sowjetunion sofort wieder
Antifaschist, hinterher gegen den Koreakrieg und so weiter.

Ist es also vielleicht
ganz einfach wahr, dass er Marilyn Monroe politisch auf seine Seite gezogen
hat? Dann wäre das erotische Symbol der freien Welt eben Kommunistin gewesen.
Im Rückblick erscheint diese Möglichkeit wie eine schöne Ironie der Geschichte.

 Quelle: Welt 31.12.2012

Ulli Kulke: Alle fünf Minuten wird ein Christ getötet

Millionen von Muslimen werden derzeit angestachelt zu tödlichen Hasstiraden auf alles Westliche. Von der Verfolgung von 100 Millionen Christen in vielen islamischen Staaten spricht kein Mensch. 

In Amerika hat jemand einen Film ins Internet gestellt, der Mohammed, den Propheten Allahs, beleidigt, unter anderem als Kinderschänder. Gut findet ihn kaum jemand, auch wenn die Filmemacher den Anspruch erheben, ihre Ideen aus dem Koran geschöpft zu haben, wo schließlich zu lesen sei, dass der Prophet Mohammed die Ehe mit einer Neunjährigen vollzogen habe. So oder so: Die muslimische Welt fühlt sich getroffen.

Reaktionen blind vor Wut

Die Folge sind Mord und Totschlag. Rund um den Globus marschiert in islamischen Ländern der Mob auf, um gegen westliche – nicht nur amerikanische – Einrichtungen und gegen Menschen aus dem Westen Gewalt anzuwenden, oftmals unbehelligt von den staatlichen Stellen vor Ort, bisweilen mit deren stiller Duldung und Sympathie.

Viele Tote sind inzwischen zu beklagen, Hunderte Verletzte. Ein Teil unserer Medien sucht zumindest die Mitschuld im Westen selbst, der Moderator des ZDF-Magazins, Claus Kleber, gehört dazu, auch die “Süddeutsche Zeitung” und einige andere.

Die Beleidigung ihrer Religion, auch wenn sie von einem zunächst Unbekannten ausging, scheint für viele Muslims das schlimmste Verbrechen zu sein, ein todeswürdiges Verbrechen. Dafür dürfen nun ganze Gesellschaften, Staaten, ja eine komplette Hemisphäre in Haftung genommen werden.

So wird der Islam vom Opfer zum Täter

Zur Erinnerung: Die wütenden Attacken gegen den Westen nach der Veröffentlichung von “Mohammed-Karikaturen” in Dänemark vor sieben Jahren forderten etwa 100 Todesopfer. Satirische Beleidigung einer anderen Religion ist also ein todeswürdiges Verbrechen. Weitaus ehrenwerter scheint es da offenbar für die Wächter des muslimischen Glaubens zu sein, Angehörige einer anderen Religion nicht zu beleidigen, sondern gleich totzuschlagen, zu verfolgen, zu vertreiben, einfach so. Schließlich kennt man den passenden Begriff des Ehrenmords. Ehrenbeleidigung ist unbekannt.

Das christliche Hilfswerk Open Doors gibt an, das weltweit 100 Millionen Christen wegen ihres Glaubens von Verfolgung, Misshandlung oder Tod bedroht sind. Es gibt noch höhere und es gibt auch niedrigere Schätzungen. Unumstritten ist, dass Christen heute die am meisten verfolgte Glaubensgemeinschaft sind.

Laut dem Theologen Thomas Schirrmacher, Geschäftsführer des Arbeitskreises für Religionsfreiheit der Deutsch-Österreichischen Evangelischen Allianz, bekennen sich neun von zehn wegen ihres Glaubens verfolgte zum Christentum. In ganz überwiegendem Maße sind d
avon Christen in muslimischen Ländern betroffen (auch wenn Nordkorea hierbei an der Spitze stehen soll und auch aus China Vorfälle gemeldet werden).

Der Beauftragte für Religionsfreiheit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Massimo Introvigne, geht sogar davon aus, dass weltweit alle fünf Minuten ein Christ wegen seines Glaubens stirbt.

Eine Vielzahl gefährlicher Länder

In vielen muslimischen Ländern hoffen Christen vergeblich auf den Schutz durch staatliche Stellen. In Nigeria, Somalia, auch im Iran gilt es nicht einmal als Kavaliersdelikt, einen Christen zu erschießen, zu erdolchen oder zu erschlagen. Handelt es sich um einen konvertierten Muslim, gilt es oft geradezu als Pflicht. Abfall vom Glauben an Allah ist vielerorts ein Kapitalverbrechen.

Tatsächliche Hinrichtungen von Konvertiten werden selten gemeldet. Viele aber saßen und sitzen nach ihren Urteilen monatelang in Todeszellen, bis sie begnadigt werden zu Haftstrafen mit regelmäßigen Auspeitschungen. Amnesty International schildert Fälle, bei denen in Saudi-Arabien allein der Besitz einer Bibel in der Hand der zahlreichen Gastarbeiter etwa aus den katholischen Philippinen zu jahrelangen Haftstrafen und vielen Dutzend Peitschenhieben führt.

Selbst in dem oberflächlich unkomplizierten und in seiner muslimischen Religion so liberalen Indonesien werden Gemeinden mancherorts aufgefordert, ihre Kirchen wieder einzureißen. Auf den Molukken im Osten des Archipels waren Christen erst vor einer Dekade jahrelangen Pogromen mit Tausenden von Toten ausgesetzt, denen die muslimische Zentralregierung nichts entgegensetzen wollte.

Diskriminierung bis vor die Türen Europas

Auch in der Türkei ist es nach aller Erfahrung offenbar nicht schwer, nach Morden an Christen einfach unbehelligt abzutauchen, selbst dort werden Christengemeinden nicht als Körperschaften anerkannt, selbst dort dürfen sie keine Priester ausbilden. Wer einmal auch nur mit dem Gedanken gespielt hat, in Saudi-Arabien oder im Norden Nigerias eine christliche Kirche zu errichten, wird manchen Streit hierzulande um die Höhe von Minaretten und andere Details beim Bau von Moscheen mit ganz eigenen Augen sehen.

Inzwischen weiß man, dass jener beanstandete Film wohl von Kopten gedreht wurde. Dabei handelt es sich um eine christliche Glaubensgemeinschaft in Ägypten, die dort für viele Muslims als Freiwild gilt. Erst Anfang vergangenen Jahres kamen bei einem Anschlag auf eine koptische Kirche in Alexandria 21 Gläubige ums Leben.

Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan, überall dort, wo man jetzt wegen des Tatbestandes der Beleidigung mit Mordaufrufen massenhaft durch die Straßen zieht, sind sich ansässige Christen seit vielen Jahren ihres Lebens nicht mehr sicher.

Erschreckende Gleichgültigkeit in deutschen Medien

Man könnte in den Medien hierzulande natürlich auch all diese Angelegenheit einmal näher beleuchten. Allerdings, das wäre absehbar, fänden sich auch da genügend Gründe bei willigen Medien, die Schuld auch dafür bei den Christen zu suchen.

Die Umtriebe der christlichen Missionare im 19. Jahrhundert böten ein weites Feld von Argumenten für einen Claus Kleber. Er kann sich dann ja noch mal mit dem iranischen Präsidenten darüber beraten. Den kennt er schon von seinem großartigen Interview im Frühjahr, in dem Ahmadinedschad endlich einmal seine Meinung zur Weltlage im ZDF unter die Leute bringen konnte, unbehelligt von bohrenden Nachfragen des Interviewers Kleber.

Dann können sie auch darüber sprechen, ob der Iran das Mindestalter für Mädchen bei der Hochzeit wirklich, wie man hört, herabsetzen will auf neun Jahre. So wie bei Mohammed.

Festzuhalten bleibt: Beleidigung ist ein anderes Kaliber von Verbrechen als Mord. Alles eben eine Frage der Ehre.

Quelle:  Welt 19.9.2012

Jürgen Kaube: Beschneidung

Jürgen Kaube: Beschneidung (FAS, 1.7.2012)

 Jahrgang 1962, stellvertretender Leiter des Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

 Wenn die Identitäten der einen die Risiken der anderen sind, wird Kultur zur Rechtsfrage.

Auf die
Frage, weshalb man
etwas tue, lautet eine
beliebte Antwort: ,,Weil wir das immer so getan haben.”
Die Muslime bedienen sich jetzt in der Frage der Beschneidung kleiner Jungen dieser Begründung. Die Antwort, Allah verlange
es,
steht ihnen nicht zur
Verfügung,
es gibt keine Hinweise darauf. ,,Es gehört einfach dazu” oder ,,Es ist ein Kulturgut” sind die folgerichtigen Formulierungen von
Vertretern der türkischen Gemeinde in Deutschland,
um dieses Ritual zu rechtfertigen.

Das Judentum hingegen kann ein Gebot in seinem heiligen Text vorweisen und sogar eine Zeitangabe, wann die
Beschneidung zu erfolgen
habe.
Auch hier erschöpfen sich die Gründe aber nicht im Gehorsam gegenüber einer
göttlichen Weisung. Zu Recht weisen israelische Gegner des Rituals
– rund zwei Prozent der
jüdischen
Familien in Israel verzichten darauf auf die Merkwürdigkeit hin, dass andere Gebote, etwa gegen
Schweinefleisch und gegen die Schabbatunruhe,
durchaus umgangen werden, ohne dass eine ,,jüdische Identität” aberkannt oder
in Gefahr gesehen würde.

Alle Weltreligionen durchlaufen seit
Jahrhunderten Anpassungsprozesse, was ihre Sündenbegriffe, ihre Strafprakti
ken, ihre Rituale und die Identitätszeichen ihrer ,,Kultur” angeht. Polygamie,
Tieropfer, die Klassifikation von
Nichtmitgliedern als Feinden – die Liste
dessen, worüber sich
ebenfalls Sätze wie ,,haben wir schon immer so gemacht” und ,,gehört zum Kernbestand der
Identität” bilden ließen,
ist
lang. Nicht immer nahmen dabei Glaubensgemeinschaften freiwillig
oder durch allmähliche Gewöhnung Abstand von ihren Praktiken.

Was den Fall
der Beschneidung aus religiösen Motiven angeht, der durch ein jetzt
veröffentlichtes Urteil des Kölner Landgerichts vom 7. Mai 2012 prominent
wurde, so liegt es auf der Hand, dass Tradition nur ein
religionssoziologisches, aber kein rechtliches Argument ist. Denn wenn die
Identitäten der einen die Risiken der anderen sind, wird Kultur zur
Rechtsfrage. Um wie viel mehr, wenn es sich am die Risiken von Bürgern handelt,
die noch nicht für sich selbst entscheiden können, den analogen Fall
,,intersexueller” Kinder oder Behinderter, bei denen jeweils genitale
Eingriffe vorgenommen werden, eingeschlossen. Auf den Verdacht der
Körperverletzung zu prüfen ist hier keine juristische Spitzfindigkeit, sondern
sollte vielmehr normal in einem Rechtsstaat sein, der vor allem die zu schützen
hat, die es nicht selbst können.

Aber bei vielen,
die sich als ethische Experten zu Wort melden, konkur
riert das Mitempfinden mit Kulturen
stark mit dem für Säuglinge und Kleinkinder, von denen bekannt sein dürfte,
dass
sie schmerzempfindlich und schutzlos sind. ,,Es muss die Gesundheit
des Kindes gegen das Recht, zu entscheiden, was man für ein gutes und richtiges
Leben hält, abgewogen
werden”,
meint beispielsweise der
Berliner Ethikprofessor und Theologe Michael Bongardt, wobei
er mit ,,man”
die Eltern meint. Richter
sollen also Konzepte von gutem Leben
gegen die
Unversehrtheit der Kinder abwägen?
Professor welcher
Ethik
ist man, wenn man das Abwägungsergebnis für
offen hält? Wäre für den Theologen auch die Tätowierung von Ein
jährigen ein solcher Abwägungsfall? Müssen
wir auf eine Retrokultur warten, die das
Abbinden von Mädchenfüßen verlangt – in China einst auch eine lange
Tradition und ganz eng
mit der chinesischen Identität verbunden -, um die Rohheit dieses Geredes vom guten Leben zu begreifen, dessen Risiken
Wehrlose tragen sollen?

Besonders
feinsinnig sind Argumente wie das, Erziehung
bedeute eben
irreversible Festlegung. Oder
der
Appell an Toleranz: als
wäre sie in
Frage gestellt, wo nicht verlangt wird, von
religiösen Eigentümlichkeiten abzusehen, sondern nur, sie nicht an Kindern zu
exekutieren. Der Heidelber
ger
Ethiker
Wolfgang Eckart wiederum vergleicht die Beschneidung mit dem Piercing
oder der modischen
Entfernung
von
Scham- und Achselbehaarung unter dem Gesichtspunkt
von ,,Praktiken, die lange
vor
(und jenseits) der individuellen Entscheidungsfähigkeit für kulturelle
Identitäten stehen” und
als
solche ,,sensiblen
Respekt” verdienten. Worin immer der
sensible Respekt für ein rasiertes Ge-schlechtsteil bestehen könnte – der
Professor führte das in der .,Süddeutschen Zeitung” nicht aus -, die
Sprachwahl selbst verdient Aufmerksamkeit. Zivile Indifferenz genügt offenbar
nicht mehr. Anerkennung wird verlangt. Was Mode genannt und als solche
selbstverständlich hingenommen werden könnte, will „Teil der kulturellen Identität”
heißen.

Doch Piercing
könnte noch so identitätsstiftend sein: Das Durchlöchern der Zunge eines
Zweijährigen oder Säuglings wäre doch eine Körperverletzung. Säuglinge haben
auch keine kulturelle Identität, sie sind mit der Entwicklung einer
persönlichen und physischen voll beschäftigt. So viel Säkularität muss ihnen
zugestanden werden. Und so viel Abwarten den Religionsgemeinschaften und Eltern
abverlangt. Wie gering müsste auch das Zutrauen in eine Kultur und eine
Glaubenskraft sein, wenn ihre Zeichen unbedingt an Unmündigen angebracht werden
müssten?

Quelle: Mesop.de

Dr. Rita Breuer: Christenverfolgung im Islam

Frau Breuer; haben Sie sich mit Ihrem
Buch Ärger eingehandelt?

Nein.

Auch nicht von muslimischen Organisationen? Sie
gehen mit dem Islam schließlich hart ins Gericht, geißeln seine Intoleranz
gegenüber Andersgläubigen und sagen selbst, wie schnell man islamfeind
lich
genannt werde.

Ich kann auch nicht ausschließen, dass man mich irgendwann der
Islamfeindlichkeit bezichtigt. Das geschieht immer dann, wenn man sich mit den
Thesen des Gegenübers nicht auseinandersetzen kann, aber versucht, diese ins
Unrecht zu setzen. Ich kritisiere auch
nicht den Islam an sich, sondern eine
sehr dominante Ausprägung dieser Religion, die zu Lasten der Christen geht. Das
hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch entwickelt.

Für Sie liegt der Zusammenhang zwischen dem Islam und
der Unterdrückung der Christen so offen vor Augen, dass es verantwortungslos
wäre, ihn zu übersehen.

Absolut. Alle mehrheitlich muslimischen Länder sind unter den Top
Fifty der Staaten, die Christen verfolgen. Je intensiver die religiöse
Ausprägung. eines islamischen Staatswesens ist, desto schlechter ist die Lage
der Christen. Und um das zu rechtfertigen, bezieht man sich auf die Quellen des
Islams.

Bit uns ist der Aufschrei nur laut, wenn es viele
Tote gibt wie in Alexandria.

Vor einigen Jahren war es noch sehr schwierig, die
Öffentlichkeit überhaupt für dieses Thema zu interessieren. Das liegt auch
daran, dass man die Verfolgung, Desavouierung und Benachteiligung von Christen
beschönigt und darüber hinwegschaut. Das kann man alles tun, solange es „nur”
um Vertreibung, die Diskriminierung am Arbeitsplatz, die rechtliche
Benachteiligung geht. Aber wenn es Tote gibt, schreckt der ein oder andere auf
und sagt: Das kann man nicht mehr leugnen. Zumal, wenn die Täter ihre Tat mit
der Religionszugehörigkeit der Opfer begründen.

Dass der permanente Aufschrei ausbleibt – liegt das
auch an der Angst, mit Kritik noch mehr Ge
walt anzustacheln?

Das ist gut möglich. Die Vertreter der christlichen Minderheiten
in der muslimischen Welt scheuen sich jedenfalls teilweise, die Dinge offen
beim Namen zu nennen, weil sie eben noch stärkere Repressionen befürchten. Sie
haben Angst, weil sie von der Mehrheit abhängig sind. Und weil sie wissen, dass
sie sich auf die Internatio­nale Solidarität, sei es von Christen oder den
westlichen Staaten, kaum verlassen können. Jedenfalls bis in die jüngste
Vergangenheit, Ich habe eine gewisse Hoffnung, dass sich das allmählich ändert.

Man -will es sich eben nicht mit den Muslimen
verscherzen?
Natürlich. Es ist auch nicht so, dass jeder Muslim Christen
diskriminiert. Oder jeder Christ in der muslimischen Welt diskriminiert wäre.
Das ist ja nicht der Fall. Ich habe auch nichts gegen den Islam an sich und
schon gar nichts gegen die Muslime. Aber es geht darum, es nicht langer zu
leugnen, dass Christen in der muslimischen Welt zunehmend Opfer von
Diskriminierungen werden, von Beleidigungen, Benachteiligungen, Verfolgung bis
hin zur Tötung.

Stichwort Solidarität; Sie werfen den Kirchen in
Deutschland vor, einem idealisierten Islambild hinterherzulaufen. Einem Islam
der Toleranz, der Friedfertigkeit.

Es mischen sich allmählich auch ein paar kritische Zwischentöne
darunter, aber die Grundtendenz bei den beiden großen Kirchen ist, nach wie vor
zu unterstellen, der Is­lam  habe  dieselben Werte  und Grundideen wie das Christentum, Das ist gut gemeint, aber
nimmt den Islam nicht ernst.

Sind die Kirchen also blauäugig?

Ja, das ist eine Form von Blauäugigkeit, aber auch von
Selbstverliebtheit – zu glauben, dass jeder Mensch die Werte teilt, auf denen
das Christentum fußt. Und nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass andere
eigenständige Religionsgemeinschaften manches anders sehen als wir.

Wie helfen die Kirchen den bedrängten Christen?

Christliche Hilfsangebote – Gesundheitsdienste, Schulen,
Hilfe für Bedürftige – richten sich immer an die ganze Bevölkerung und nicht
explizit an Christen. Das ist umgekehrt nicht der Fall. Unter Muslimen ist
klar, dass man zuerst mit den eigenen Glaubensbrüdern und -schwestern
solidarisch ist.

Christen leiden also unter einer mangelnden Christenliebe“?
Absolut. Mich haben schon vor zwanzig Jahren Christen in der
muslimischen Welt fassungslos gefragt, wie es denn sein könne, dass die Kirchen
sich sehr für die Rechte von Muslimen in Deutschland einsetzen, was ja auch
nicht falsch ist, aber gleichzeitig keinen Sinn dafür haben, was mit den
Christen in muslimischen Ländern geschieht. Viele, von einfachen Menschen bis
zu hohen kirchlichen Würdenträgern, haben resigniert gesagt, die Hoffnung auf
Unterstützung hätten sie sich abgewöhnt. Vielleicht auch, weil in Europa
Religion nicht mehr in dem Maße Teil der Identität ist wie anderswo.

Weil bei uns das Christentum auf dem Ruckzug ist,
sind uns die Christen dort gleichgültig?

So wird es
zumindest wahrgenommen. Dass man sich hierzulande lieber mit der Frage
beschäftigt, ob das Kopftuchverbot für Lehrerinnen islamfeindlich ist, als sich
zu überlegen, wie man den bedrängten Christen in der muslimischen Welt zu Hilfe
eilen kann. Es gibt natürlich Organisationen, die das tun. Es gibt auch eine
langsam größer werdende Aufmerksamkeit, aber noch immer keine flächendeckende
Auseinandersetzung mit dem Thema.

Was wünschen Sie sich also von den Kirchen?

Ein ganz klares
und selbstbewusstes Bekenntnis zur eigenen Religion und Wertigkeit. Das gehört
auch, dass man die Probleme, die sich im Dialog mit den Muslimen ergeben, nicht
verniedlicht. Dass man sich für Glaubensbrüder und -schwestern, ob gebürtige
Christen oder Konvertiten, einsetzt und gegebenenfalls zum Gespräch mit
konversionswilligen Muslimen bereit ist.

Und was von der Politik?

Dass sie keine Gelegenheit auslässt, bei internationalen Kontakten
dieses Thema immer und immer wieder anzusprechen, auf Zusagen zu bestehen und
darauf, dass
sie eingehalten werden. Das reicht von der Freiheit des
Kirchenbaus bis zur Religionsausübung der christlichen Gastarbeiter in
Saudi-Arabien. Dass sie die muslimischen Verbände bei uns auf die Unteilbarkeit
des Rechts auf Religionsfreiheit verpflichtet.

Müssen die Christen nicht einfach auch nur für den
verruchten Westen herhalten?

Hier klagen Muslime ja auch, für all das haftbar gemacht
zu werden, was im Namen des Islams geschieht. Umgekehrt gilt das für die
Christen in der islamischen Welt Sie werden für alles belangt, was der Westen
macht. Im Irak, in Afghanistan oder sei es für Amerikas israelfreundliche
Politik. Da wird dann polemisiert, es gebe eine Weltverschwörung der Feinde des
Islams. Dazu zahlen der Westen, der Staat Israel und die Christen.

Verschwörungstheorien brauchen Einflüsterer.

Die sind ganz offensichtlich vorhanden. Denn dieses Denken greift
ja immer weiter um sich. Auch in den Moscheen wird oft in diese Richtung
gepredigt. Es wird antiwestliche Stimmung gemacht und manchmal direkt die
Verbindung zu den Christen in dem Land als möglichen Agenten des Westens
hergestellt.

Wo leiden die Christen besonders?

Besonders schlimm ist es auf der Arabischen Halbinsel, in
Saudi-Arabien, aber auch in Pakistan, Afghanistan, Nigeria, in Sudan und im
vermeintlichen Urlaubsparadies Malediven. Auch in Ägypten gibt es immer mehr
Fälle von massiven Übergriffen gegen die Christen.

Sind die Repressionen perfider geworden?

Ja, aber gleichzeitig auch offener und brutaler. Perfider
und geradezu absurd, indem man beispielsweise schon das Tragen von christlichen
Symbolen zum Anlass nimmt, jemanden zu schikanieren und zu verhaften. In
Saudi-Arabien ist es beispielsweise verboten, ein kleines Kreuz um den Hals zu
tragen, ein Gebetbuch bei sich zu haben. Die Angst vor christlicher Symbolik
reicht dort bis zum roten Kreuz auf dem Erste-Hilfe-Koffer. In allen
nahöstlichen Ländern werden Christen allein wegen ihres Namens benachteiligt,
bei der Wohnungssuche, bei Universitätsprüfungen, am Arbeitsplatz. Das ist
deswegen perfide, weil nicht nachweisbar ist, dass George bessere Karten gehabt
hätte, hieße er Mohammed. Viele Christen konvertieren deswegen zum Islam, nicht
aus religiöser Überzeugung, sondern well sie diese tagtägliche Diskriminierung
satt haben.

In Saudi-Arabien ist es auch verboten, eine
Bibel einzuführen. In Deutschland können Salafisten Koran-Exemplare
verteilen. Was geht Ihnen da durch den Kopf?

Wut. Muslime haben hier das ungeteilte Recht auf freie
Religionsausübung. Dafür werde ich mich immer einsetzen. Dass die Salafisten
dieses Recht für sich in Anspruch nehmen, solange es ihnen nützt, aber es nicht
vertreten – darauf kann man auch nicht häufig genug hinweisen. Hier können
Salafisten den Koran verteilen, in Iran ist allein der Besitz einer
persisch-sprachigen Bibel verboten, werden immer wieder Bibeln zu Hunderten
vernichtet. Das ist eine unerträgliche Schieflage.

Im Namen Allahs? Hinter dem Titel steht ein Fragezeichen.
Die Verfolgung geschieht oft im Nahmen Allahs, aber ist sie in seinem Sinne?

Das kann ich nicht beantworten, aber das hoffe ich nicht.
Schließlich gibt es auch viele moderne Muslime, die ein gleichberechtigtes und
solidarisches Miteinander suchen. Und das auch aus dem Islam heraus begründen.

Das Gespräch mit Rita Breuer führte Cornelia van
Wrangel.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1.7.2012