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Linker Terror und Antisemitismus. Doch wo sind die Brandstifter geblieben?

 21.02.2013 ·  Heute erscheint Wolfgang Kraushaars Buch über den deutschen und palästinensischen Terror. Viel ist zu lernen aus diesem wichtigen Werk. Von LORENZ JÄGER

Als ich im Frühsommer 1969 Saskia in Berlin besuchte, gingen wir abends in die Diskothek „Unergründliches Obdach für Reisende“ am Fasanenplatz. Dort – viel mehr als Matratzen und eine Tanzfläche gab es nicht – traf sich die überschaubar kleine linksradikale Welt; es war der bevorzugte Ort für jene, die sich „Haschrebellen“ nannten oder „Schwarze Ratten“ oder „Blues“ und ein halbes Jahr später „Tupamaros Westberlin“. Man spielte das Lied „In A Gadda Da Vida“ von Iron Butterfly, Stroboskope mit Lichtblitzen erzeugten einen Rausch auch ohne die Droge, deren Schwaden sich durch den Raum verbreiteten. Mit den „Reisenden“ waren ja, für die Eingeweihten lesbar, Leute auf einem Trip gemeint.

Irgendwann zog es uns wieder in die milde Nacht. Vor dem Lokal sah ich Dieter Kunzelmann, den mein Bruder schon ein paar Jahre zuvor in München besucht hatte; dieser habe seinen Adepten vom Bett aus lange Vorträge gehalten, erzählte er mir. Und Georg von Rauch war auch da.

Georg von Rauch war einer der prägenden Köpfe der „Tupamaros Westberlin“
Georg von Rauch

Ein Polizeiwagen näherte sich sehr langsam der Diskothek. Und nun gerieten Kunzelmann und Rauch in eine Art Kriegstanz, der Erstere eher wie ein Rumpelstilzchen, Rauch aber sportlich, graziös; fast wie ein Baseballspieler, nur viel schneller, warf er Steine auf das Polizeiauto, Kunzelmann auch, beide kicherten und lachten. Ich kann nicht sagen, dass ich die Aktion „abgelehnt“ hätte; nur wusste ich in diesem Augenblick, dass es sich um Menschen handelte, bei denen die Funktion des Realitätsprinzips ausgefallen war. Der Polizeiwagen entfernte sich so langsam, wie er gekommen war, bald hatten jedoch die „Wannen“, gesicherte und größere Mannschaftswagen der Polizei, das kleine Viertel dichtgemacht. Saskia und ich kamen aber ohne Probleme durch die Kontrollen.

Ausweitung der Terrorzone

Wenn ich in Wolfgang Kraushaars Buch die Planungsnotizen Georg von Rauchs lese, die er in der Haft zur Sprengung der Olympischen Spiele abgefasst hatte, finde ich diese Szene potenziert wieder. „Bei der Fahnenhissung fallen die ersten Schüsse. Wenn die Polizei schießt, schießen wir zurück. Wir haben alle Waffen… Nach dem Sturm auf das Olympiadorf herrscht Chaos in der Stadt. Überall werden neue Kommunen gebildet.“

Kraushaars Buch „Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel? München 1970: über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus“, aus dem wir bereits einen Auszug abgedruckt haben, handelt von der Zusammenarbeit deutscher und palästinensischer Terrorgruppen. Hier liefen zwei Bewegungen aufeinander zu, und ihre Wege mussten sich kreuzen. Die PLO, zunächst als Instrument ägyptischer Außenpolitik gegründet, suchte nach der Niederlage der arabischen Staaten im Sechs-Tage-Krieg von 1967 nach neuen Wegen. Der Partisanenkrieg schloss den Terrorismus ein und vor allem die Ausweitung seiner Zone nach Europa. Anfang 1969 hatte Arafat von der al Fatah die Führung der PLO übernommen.

Die Anschlagsserie von 1970

Gleichzeitig aber war bei jenen deutschen Gruppierungen, die aus der Konkursmasse der Außerparlamentarischen Opposition einen „bewaffneten Kampf“ in den „Metropolen“ organisieren wollten, der lateinamerikanische Weg à la Che Guevara keine Option mehr, an die man hätte andocken können. Auch der Vietnam-Krieg, der für die Mobilisierung ursprünglich so entscheidend gewesen war, bot keine operativen Anknüpfungsmöglichkeiten; die vietnamesischen Kommunisten verfolgten keine Strategie der Internationalisierung des Terrors. Blieben die Palästinenser. Zu ihnen machten sich Kunzelmann, Georg von Rauch und einige andere im Spätsommer 1969 auf, absolvierten eine militärische Grundausbildung und trafen mit Arafat und dessen Unterführer zusammen.

Den Kern des Buches bildet eine dramatisch auf wenige Tage konzentrierte Anschlagsserie im Februar 1970. Am 10.Februar scheitert die Entführung einer El-Al-Maschine auf dem Flughafen München-Riem. Am 13.Februar kommt es zu einem Brandanschlag auf das Israelitische Gemeindezentrum in der Münchner Reichenbachstraße, bei dem sieben ältere Menschen sterben; einige unter ihnen hatten den Holocaust überlebt. Ein Flugzeug, in dem eine Bombe plaziert worden ist, muss in Frankfurt notlanden. Am 21.Februar stürzt eine Maschine der Swissair auf dem Flug nach Israel bei Würenlingen ab; auch dort war eine Bombe, die durch einen Höhenmesser gezündet wurde, die Ursache. Aber das sind nur die wichtigsten der terroristischen Anschläge in München, es gab viel mehr, allerdings in kleinerem Format.

Löscharbeiten am Israelitischen Gemeindezentrum in München, 13. Februar 1970. Unter den Opfern waren auch Überlebende des Holocaust.
Löscharbeiten am Israelitischen Gemeindezentrum in München, 13. Februar 1970. Unter den Opfern waren auch Überlebende des Holocaust.

Episches Gesamtbild eines Krieges

Kraushaars Ausgangsfrage lautet: Ist das, was zeitlich so nahe ist, auch in der Sache verbunden, in den Akteuren, möglicherweise gar durch Absprachen? Jedenfalls in den Zielen liegt die Verbindung auf der Hand. Es ging um israelische oder, in der Münchner Reichenbachstraße, um jüdische Einrichtungen. Und die personelle Verflechtung macht Kraushaar mit ein paar Linien klar. Kunzelmanns Freundin Ina Siepmann war in Jordanien bei der al Fatah geblieben. Seine andere Freundin, Inge Presser, arbeitete im Frankfurter Büro der „
Generalunion palästinensischer Studenten“, das von Abdallah Frangi geleitet und mehr oder weniger von der Fatah kontrolliert wurde. Kunzelmanns Freund und Genosse aus der „Kommune I“, Fritz Teufel, war der Kopf der „Tupamaros München“. Zudem gab es dort noch die „Aktion Südfront“, mit den „Tupamaros“ nicht identisch, aber von ihr auch nicht trennscharf abzugrenzen. Auch hier hatte ein Freund von Kunzelmann aus der Zeit der „Subversiven Aktion“ das Sagen, Alois Aschenbrenner.

Was den furchtbaren Brand in der Reichenbachstraße angeht, so kann Kraushaar auf einen vorangegangenen Anschlag in der Nacht vom 8. auf den 9.November – ausgerechnet! – verweisen, der in Berlin auf das Jüdische Gemeindehaus verübt worden war, wobei die Bombe allerdings nicht zündete. Nach Angaben des Täters, Albert Fichter, der sich vor einigen Jahren offenbarte, hatte Kunzelmann ihm den Auftrag gegeben.

Man übertreibt nicht, wenn man Kraushaars Buch epische Qualitäten zuspricht. Nicht im Sinne des Fabulierens, sondern in dem eines Gesamtbildes. Der Gegenstand des Epos ist von jeher der Krieg. Das Panorama, das hier entrollt wird, ist umfassend, auch wenn nicht alle Einzelheiten neu sind. Noch nie wurden die Akteure und die Opfer dieser terroristischen Episode so klar in den Blick genommen, noch nie wurden die Vor- und die Nachgeschichte der Anschläge – zu der vor allem das Olympia-Attentat der palästinensischen Unterorganisation „Schwarzer September“ gehört – so umfassend analysiert.

Ein rätselhafter Brief aus Amman

Wenn es ein Krieg war, dann gilt es, sich einen Begriff von ihm zu bilden. Er war, das ist Kraushaars impliziter Schluss, Teil des Kalten Krieges. Dass Wadi Haddad, der Kontaktmann der RAF auf palästinensischer Seite, 1970 unter dem Decknamen „Nationalist“für den sowjetischen Geheimdienst KGB angeworben worden war, ist hier nur ein Glied der Beweiskette. Der damalige KGB-Chef Juri Andropow hielt in einem Bericht an den Parteichef Breschnew fest: „Die Natur unserer Beziehungen zu W. Haddad versetzt uns in die Lage, die externen Operationen der PFLP bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren, in einer für die Sowjetunion günstigen Weise Einfluss zu nehmen und…aktive Maßnahmen zur Unterstützung unserer Interessen ausführen zu lassen.“ Also war der Kalte Krieg auch heiß. Was in Europa passierte, war Teil einer sowjetischen Strategie zur Destabilisierung der westlichen, amerikanisch dominierten Welt. Man darf sich die Verschwörung nur nicht zu sehr nach dem Muster der Verschwörungstheorien vorstellen. Wie überhaupt Führung ja niemals heißt, jeden einzelnen operativen Schritt anzuordnen.

Fritz Teufel (links) führte 1970 die „Tupamaros München“. Neben ihm Dieter Kunzelmann von den „Tupamaros Westberlin“
Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann

Zurück zu Kraushaars Buch. So ungemein fruchtbar seine Fragestellung ist – manchmal überzieht er die Beweiskraft seiner Quellen. Ende Dezember 1969 schrieb Ina Siepmann aus Amman an Kunzelmann: „Mein Gott wird das seltsam sein, wenn ich Euch plötzlich wiedersehe! Wenn Karl August kommt, freue ich mich ja sehr. Doch wo sind die Brandst. geblieben? Und warum steht in Deinem Brief nichts von N. aus Frankfurt?“ Kraushaar liest „Brandst.“ als mahnende Frage, wo die Brandstiftungen geblieben seien. Es ist aber – der sehr persönliche Kontext der Passage könnte es nahelegen – auch eine andere Lesart denkbar, dann wären die „Brandstifter“ (der Frankfurter Kaufhäuser) Andreas Baader und Gudrun Ensslin gemeint, die im November 1969 erst in Paris, dann in Italien abgetaucht waren.

Woher kam der Antisemitismus?

Und dass Dieter Kunzelmann den Palästinensern überhaupt erst den Gedanken eines Überfalls auf die Olympischen Spiele eingeflüstert haben könnte, wie Kraushaar es nahelegen will, überzeugt am Ende wenig. Jedenfalls dürften die PLO, al Fatah, die PFLP und wie ihre Ableger noch hießen, auf das Motiv der linksalternativen deutschen Olympia-Kritik – Ablehnung des „Leistungsdrucks“ – nur mit einem Lächeln reagiert haben. Sie waren ja regelrechte Großunternehmer des Terrors mit Flugzeugentführungen und -sprengungen, während die „Tupamaros“ über – allerdings besonders heimtückische – Brandanschläge kaum hinauskamen.

Für die Anschläge auf das Berliner Jüdische Gemeindehaus und auf das Münchner Israelitische Gemeindezentrum gibt es kein anderes Wort als Antisemitismus. Aber Kraushaars Versuch, Dieter Kunzelmann eine schon immer dagewesene antisemitische Grundhaltung nachzuweisen, führt nicht sehr weit, die Zeugen dafür sind dünn gesät. Es sind dies vor allem der eigentliche Täter des Berliner Anschlags und sein Bruder Tilman Fichter, die eigene Absichten damit verfolgt haben mögen. Wie wäre die „Kommune I“ ohne die Theorien des jüdischen Psychoanalytikers Wilhelm Reich zur sexuellen Befreiung auch nur denkbar gewesen? Was Kunzelmann sonst im Kopf hatte, war ein ins Rustikale übersetzter Herbert Marcuse. Man möchte eher von einem kumulativen Antisemitismus, einer kumulativen Niedertracht sprechen, die sich aus der Nähe zu den Palästinensern ergaben. Wenn man es denn mit den Palästinensern halten wollte, musste man darauf kommen, dass für die primitive terroristische Technik, über die man verfügte, nur jüdische Einrichtungen als Ziele zur Verfügung standen. Und die Falle, in die man sich aus freien Stücken begeben hatte, schloss sich mörderisch.

Die Unverantwortlichkeit des Täters und die Folgen

Wir haben uns daran gewöhnt, die Kontexte von mörderischer Gewalt in militaristischen oder faschistischen Einstellungen zu sehen oder auch in stalinistischen, jedenfalls traditionell totalitären oder autoritären. Hier aber sieht man, wie Untaten auch aus dem libertären, libertinistischen Hedonismus des Berliner „Blues“ hervorgehen konnten. Eine gute anthropologische Lehre.

Im bis heute ungeklärten Fall Reichenbachstraße deutet Kraushaar ziemlich klar auf einen Verdächtigen, einen damals achtzehnjährigen Lehrling. Er stand der „Aktion Südfront“ nahe. Das erinnert an Gavrilo Princip, den Schützen von Sarajevo, der 1914 noch nicht volljährig war. Ein furchtbarer Abgrund zwischen der Unverantwortlichkeit des (möglichen) Täters und den Folgen seiner Tat tut sich auf. Fritz Teufel ist tot. Noch leben aber Menschen, die womöglich Auskunft über den verheerenden Brand geben könnten. Der damalige Lehrling ebenso wie die Südfrontler Alois Aschenbrenner und Ulrich Enzensberger, der jüngere Bruder des Dichters. Ulrich Enzensberger publizierte 1998 ein bemerkenswertes und bewegendes Buch. Es heißt „Das Brennglas“ und erzählt die Lebensgeschichte von Otto Rosenberg, einem Berliner Sinto, der Auschwitz überlebt hatte, in dessen eigenen Worten. Ulrich Enzensberger, so viel ist klar,hat ein Gewissen. Wenn er etwas zu sagen hat, sollte er es jetzt tun.

Wolfang Kraushaar: „’Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?’“ München 1970: Über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 880 S., geb., 34,95 €.

Quelle: Faz. 21.2.2013

Willi Winkler und der Mann der Tat

Von Thierry Chervel, 02.12.2009

E;
mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>Dass es linken Antisemitismus gibt, hat sich inzwischen sogar bis in
die Linke herumgesprochen. Und doch ist es bis heute bestürzend, wie
asymmetrisch die Wahrnehmung der Öffentlichkeit ist. Gerät eine Institution wie
die Kirche in Verdacht, dann ist das Rauschen in den Blättern groß: Aber so
empörendBenedikts XVI. Abwiegeln
ist – wen repräsentieren schon die Piusbrüder? Weit weniger Interesse erregte
fast gleichzeitig der postkoloniale Stand-up-Comedian Dieudonné, der vor einem
johlenden Massenpublikum den Holocaustleurgner Robert Faurissonmit einem
selbstgeschaffenen Pres für political incorrectness auszeichnete.

E;
mso-fareast-languageE;mso-bidi-language:AR-SA”>

Kommt der Pesthauch
aus der eigenen Ecke, hat es damit immer eine Bewandtnis. Dann muss man
erklären, verstehen und es auch mal ganz anders sehen. So heute auch Willi
Winkler in der 
SZ in einerBesprechung von Aribert Reimanns Biografie des Kommunarden: Dieter Kunzelmann war Antisemit, Winkler
will es ja gar nicht leugnen. Aber Kunzelmann war eben auch hochsympathischer
“Großkasperl”, der die Verhältnisse im Sinne Winklers zum Tanzen
brachte und den man sich von Aufklärern wie 
Wolfgang Kraushaar,Gerd Koenen oder Götz Aly nicht
kaputtmachen lassen will. So ein Mann der Tat lässt einen Mann des Wortes wie
Winkler stets schon knieweich werden. Der “letzte deutsche Bohemien”
sei Kunzelmann gewesen, schwärmt Winkler. Als wäre das ein Ehrentitel. Die
Boheme ist genau jenes Terrain vague, in dem die rechten und linken
Totalitarismen ihre ungeschiedenen Ursprünge haben. Hitler war auch ein Bohemien.
 

“Es gehört mittlerweise zum guten Ton, den
großen Zampano schlechtzureden”, klagt Winkler. Kraushaars Kunzelmann-Buch
ist – neben Gerd Koenens Buch 
“Vesper, Ensslin, Baader” und Götz Alys“Unser Kampf” – so epochal, weil es verdrängte Kontinuität unter den
Brüchen offenlegt. “Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus” schildert,
wie Kunzelmann mit seinen “Tupamaros” den “
Judenknax” (so
Kunzelmann) der 68er heilen wollte. Kein Buch zeigt besser, dass eine bestimmte
Fraktion der 68er – eine radikale, aber wie Winklers Beispiel bis heute zeigt,
eine einflussreiche – keineswegs über die Taten der Eltern aufklären wollte,
sondern dass ihre Pathologie eine der Wiederholung war: Sie wollten die Geschichte der
Eltern nachspielen, nur andersrum, mit sich selbst in der Rolle der Opfer und
Resistants – und den Amerikanern und Juden in der Rolle der Nazis.

Hinter den Rechtfertigungen eigener Morde und
Mordgelüste steckte ein banaler Reflex unverarbeiteter Vergangenheit, eine
unschöne Aneignung des Opferstatus, eine zweite
Entsorgung
 der eigentlichen Opfer. Diese
Mentalität kristallisierte sich in der Tat, die bis zu Kraushaars Buch so gut
wie total verdrängt war, der 
Bombe im jüdischen Gemeindehaus. Sie sollte am 9. November 1969 hochgehen,
während des Gedenkens an die “Reichskristallnacht”, wo sich ein
schütteres Häufchen Überlebender mit ein paar offiziellen Abgesandten des
Staates und der Kirchen versammelte. Gelegt hatte sie Albert Fichter, offenbar
auf Weisung Dieter Kunzelmanns, der bis heute leugnet.

“Dass Kunzelmanns Untat antisemitisch
war”, will Winkler wie gesagt gar nicht bestreiten. Es ist ihm nur nicht
so wichtig. Winkler scheint in der Tat einen fehlgeleiteten Akt mit an sich
richtiger Intention zu sehen. Er ordnet sie in eine Tradition des Surrealismus und Situationismus ein,
deren Legitimität für ihn bis heute nicht in Zweifel steht: “1969 mag es
für (Kunzelmann) der ultimative surrealistische Akt gewesen sein, die Berliner
Gedenkfeier in ihrem selbstzufriedenen Philosemitismus zu erschüttern. So
grauenhaft und wenig verzeihlich das ist, so wenig sollte einem die
Zerstörungslust fremd sein, die der Avantgarde seit je zugehört. Die Avantgarde
war nie nett zu ihrem Publikum.” Diese Sätze müsste man genauer
auseinandernehmen: Sind die im Gemeindehaus versammelten Juden das
“Publikum” einer Avantgarde, die nun mal nicht nett zu ihm ist?
Sollten sie das Attentat im Namen der Kunstfreiheit über sich ergehen lassen?
Kann man vom “selbstzufriedenen Philosemitismus” eines schütteren
Häufchens Holocaustüberlebender sprechen?

Die Bombe ging nur wegen eines kleinen Konstruktionsfehlers nicht
hoch. Sie war so explosiv, dass es unter den 250 Anwesenden zahlreiche Tote
gegeben hätte. Dass der Berliner Verfassungschutz bei der Übergabe der Bombe an
Fichter eine Rolle spielte, macht diesen verdrängten deutschen Moment nur noch
grässlicher. An Kunzelmanns spontanem, tief gefühltem Antisemitismus ändert es
nichts.

Winkler versucht dennoch eine Ehrenrettung der
abscheulichen Figur – zu konstitutiv scheint sie für seinen eigenen
ideologischen Komfort. Die Empörung über Kraushaars nüchterne Rekonstruktion
der Fakten klingt in seinem Artikel noch nach: “Wolfgang Kraushaar ist es
mit seinem Buch ‘Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus’ gelungen, Kunzelmann als
bete noire, als den allerschlimmsten Finger, zu denunzieren, der die bis dahin
so ehrbare Linke zum Antisemitismus der Elterngeneration zurückgeführt haben
soll.”

Winklers Artikel repräsentiert eine Tendenz in der
kulturellen, intellektuellen und auch politischen Linken in Deutschland – eine
Tendenz zur Leugnung der Geschichte. Zurecht erinnert Winkler daran, dass die
Berliner Alternative Liste Kunzelmann ohne den geringsten
Skrupel in den achtziger Jahren zum Abgeordneten im Westberliner Parlament
machte. Man sah darin eine weitere lustige Provokation des Establishments. In
der Hausbesetzerszene und der 
taz gab es
seinerzeit ganze Fraktionen von Verehrern, die stets an seinen Lippen hingen,
wenn er Anekdoten aus der Politclownzeit der Kommune 1 zum besten gab.

Der Muff der tausend Jahre qualmt auch aus
Haschichtüten.

Thierry
Chervel

twitter.com/chervel

Quelle: Perlentaucher, 2.12.2009

RAF – Bomben aus der Spaßgerilja

RAFBomben aus der Spaßgerilja

 ·  Vom Happening zum Terror – die RAF hat eine Vorgeschichte. Ihre Protagonisten stammten zum Teil aus der Künstlerszene. Die Idee, Gewalt anzuwenden, schwang jedoch von Anfang an mit. Parallelen zu den russischen Anarchisten, die jetzt so viel von sich reden machen.

Linker Antisemitismus und vergeudete Zeit – München 1970

München 1970“ im ErstenLinker Antisemitismus und vergeudete Zeit

 ·  „München 1970“: In einer hochbrisanten Dokumentation rückt Georg M. Hafner zwei Münchner Attentate ins Zentrum der Aufmerksamkeit – und wirft neue Fragen über den Anschlag auf die Olympischen Spiele von 1972 auf.

Kraushaar: Tupamaros und Olympia

Vorgeschichte des Münchner AttentatsAuf der Olympiade passiert was

 ·  Eine Anschlagserie erschütterte im Februar 1970 Deutschland. Im Verlauf weniger Tage kam es zu einem Entführungsversuch einer israelischen Maschine auf dem Flughafen München-Riem, zu einem Brandanschlag auf das Gebäude der Israelischen Kultusgemeinde in München und zu Attentaten der „Tupamaros München“, einer von Fritz Teufel angeführten linksradikalen Gruppe. Vor allem aber wurden Bomben in zwei Flugzeugen plaziert, von denen eines abstürzte. Gehört dies alles zur Vorgeschichte des Olympia-Attentats der palästinensischen Gruppe „Schwarzer September“?

Der Engel des Warschauer Ghettos – Irena Sendler gestorben

Die polnische Widerstandskämpferin Irena Sendler schmuggelte 2500 Kinder aus dem Warschauer Ghetto. Die Gestapo fasste sie 1943 und folterte sie grausam. Der Exekution konnte sie gerade noch entkommen – jetzt ist die “Gerechte unter den Völkern” 98-jährig in Warschau gestorben. Von Hans Michael Kloth

Sendler als Krankenschwester
Sendler als Krankenschwester: Irena Sendler 1943 in Warschau, wo sie während des Ghetto-Aufstands als Krankenschwester in einem Krankenhaus des polnischen Widerstands arbeitete. Dank ihres Berufes konnte Sendler das Ghetto betreten und dort im Rahmen der “Zegota”, der Untergrundorganisation verfolgten Juden helfen. Zusammen mit zehn anderen Frauen hatte Sendler insgesamt 2500 Kinder vor dem Holocaust gerettet.

Sie wurde gern mit Oskar Schindler verglichen, dem deutschen Unternehmer, der im Zweiten Weltkrieg Tausende von Juden auf seine berühmte Liste kriegswichtiger Arbeitskräfte setzte und sie so rettete. Tatsächlich führte auch Irena Sendler eine Liste, die Überleben bedeutete. Auf ihr standen 2500 Namen von jüdischen Kindern, die die Sozialarbeiterin und polnische Untergrundkämpferin 1942/43 aus dem Warschauer Ghetto schmuggelte, mit unverfänglichen Papieren versah und so vor dem sicheren Tod bewahrte. 

Die 1910 als Tochter eines früh verstorbenen Arztes in Warschau geborene Widerstandskämpferin erlebte gleich nach der Besetzung Polens und der Einrichtung des Warschauer Ghettos 1940 die Schrecken des Nazi-Terrors. Als Krankenschwester ließ sie sich für die Bekämpfung anstreckender Krankheiten im völlig überfüllten Ghetto einteilen und schmuggelte Medikamente und Nahrungsmittel hinein, mit Dienstausweisen für ihre Sanitätskolonne ermöglichte sie Juden, zu entkommen. 

Als die Deportationen in die Vernichtungslager begannen, entschloss sich Irena Sendler, wenigstens die Kinder der Todgeweihten zu retten. Für die Untergrundorganisation “Rat für die Unterstützung der Juden” (Zegota) organisierte sie einen großangelegten Kinderschmuggel – unter Mänteln, in Säcken oder Holzkisten wurden Kinder auf abenteuerlichen Wegen durch Keller und Abwasserkanäle aus dem Ghetto geschleust, nicht selten mit Schlafmitteln betäubt. 

Mit falschen Papieren ausgestattet, wurden die Kleinen anschließend in die Obhut von polnischen Familien gegeben, oft auch in Klöstern oder Waisenhäusern versteckt. 

Im Oktober 1943 flog Irena Sendler auf und wurde von den Deutschen verhaftet. Auf Hilfe für Juden stand die Todesstrafe. Die 33-Jährige wurde von Gestapo-Leuten bestialisch gefoltert, doch sie gestand nichts, nannte keine Namen. Nach drei Monaten in den Folterkellern der SS zum Tode verurteilt, gelang ihr in letzter Sekunde die Flucht. Ermöglicht wurde sie durch einen SS-Mann, den die Zegota bestochen hatte. Sofort nahm Irena Sendler ihre Arbeit wieder auf. 

Die Liste mit den Namen “ihrer” Kinder hatte Sendler in einer Flasche unter einem Baum vergraben. Auf dem Dokument waren Geburtsname und Alias jedes ihrer Schützlinge notiert – erst dadurch wurde es nach Kriegsende möglich, den geretteten Ghetto-Kindern ihre wirkliche Identität wiederzugeben. Ohne Sendlers Liste wären sie vielleicht gerettet worden, viele aber hätten wohl nie etwas von ihrer jüdischen Geburt erfahren. 

Israel machte die Polin 1965 zur einer der “Gerechten unter den Völkern”. Aber in ihrer Heimat blieben ihre Taten lange unerwähnt, denn auch mit den kommunistischen Herren Polens konnte sich Irena Sendler nicht anfreunden. Erst als über 90-Jährige wurde sie auch in Polen und Deutschland geehrt. Noch im vergangenen Jahr wurde sie für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Sie selbst blieb bescheiden. “Heute bin ich mir wohl bewußt, daß ich nicht alles getan habe, was mir möglich war”, sagte sie einmal. “Ich hätte noch mehr retten können. Ich habe Gewissensbisse und werde sie bis zum Ende meiner Tage haben.” 

Am Sonntag ist Irena Sendler im Alter von 98 Jahren gestorben. 

Irena Sendler
Irena Sendler: Die polnische Widertstandskämpferion, die 2500 Kinder aus dem Waschauer Getto rettete, i
st am 11. Mai 2008 98-jährig in Warschau gestorben.

Quelle: einestages, spiegel 12.5.2008



Sie riskierte ihr Leben, um Tausende Juden vor den Nazis zu retten: Irena Sendler schaffte 2500 Jungen und Mädchen aus dem Warschauer Ghetto und verhalf ihnen zu einem neuen Leben in Freiheit. Erst jetzt wurde die 97-jährige Polin geehrt.


Eine Heldin will sie nicht sein. Der Begriff irritiere sie, sagt Irena Sendler. “Das Gegenteil ist wahr. Mein Gewissen schmerzt mich noch immer, dass ich nicht mehr tun konnte”, schreibt sie auf der Homepage der Gruppe “Kinder des Holocaust”. Aber viele von denen, die sich in der polnischen Vereinigung engagieren, haben Irena Sendler ihr Leben zu verdanken. 

Der 97-Jährigen müsste eigentlich ein ebenso exponierter Platz in der Geschichte zukommen wie dem Unternehmer Oskar Schindler, der 1300 Juden unter dem Vorwand, er benötige sie für kriegswichtige Produktionen, das Leben rettete. Schindler wurde durch Steven Spielbergs Verfilmung ein Denkmal gesetzt, sein Name wurde weltberühmt. Irena Sendler rettete rund 2500 Kindern aus dem Warschauer Ghetto das Leben – ihr Name ist fast gänzlich unbekannt. 
Doch jetzt wurde die Katholikin vom Parlament in Warschau zur nationalen Heldin ernannt. Sie sei ein Symbol für alle Polen, die während der Besatzung durch die Nazis ihr eigenes Leben riskiert hätten, um das vieler Juden zu retten, sagte Präsident Lech Kaczynski. “Sie verdient großen Respekt von der gesamten Nation.” 

Die Hölle des Warschauer Ghettos 

Als der Krieg 1939 ausbrach, war Sendler 29 Jahre alt. Sie arbeitete als Krankenschwester beim Warschauer Sozialamt und versorgte Arme und Notleidende. Nach der Einnahme Warschaus entzogen die Nazis den jüdischen Bürgern jegliche Sozialleistungen. Gemeinsam mit Kolleginnen, denen sie vertraute, fälschte Sendler Namenslisten, so dass die Juden weiterhin unterstützt werden konnten. 

Als die Nazis im November 1940 das Warschauer Ghetto errichteten, verschlechterte sich die Möglichkeit zu helfen für Sendler und ihre Mitarbeiter. Binnen weniger Monate waren rund 400.000 Menschen innerhalb der 18 Kilometer langen und drei Meter hohen Mauer des Ghettos eingepfercht worden – die Bedingungen, unter denen sie lebten, unvorstellbar. Im Schnitt mussten sich rund sieben Menschen ein Zimmer teilen, Hungersnöte und Seuchen breiteten sich aus, es fehlte an allem. Es sei die “Hölle” gewesen, erinnert sich Sendler in ihren Aufzeichnungen. 

Sie und ihre Kolleginnen besorgten sich Passierscheine und versorgten als Sanitäterinnen Tag für Tag die Menschen hinter den Mauern. Als 1942 die Deportationen der Juden aus dem Ghetto begannen, beschloss Sendler, die Kinder aus dem Ghetto zu retten. Sie sollten nach dem Krieg Keimzelle eines neuen jüdischen Lebens werden, sicherstellen, dass es den Nazis nicht gelang, alles Jüdische zu vernichten. Der Leiter der Zegota, einer Organisation, die polnische und jüdische Gruppierungen im Untergrund ins Leben gerufen hatten, bot Sendler die Zusammenarbeit an. Die 32-Jährige leitete fortan das Kinderreferat der Organisation. 

“Es gab keine Garantien” 

Sie und ihre Helferinnen gingen von Familie zu Familie und boten an, die Kinder in Sicherheit zu bringen. “Wir sagten, dass wir die Möglichkeit haben, Kinder zu retten und über die Mauern zu schmuggeln” notirte Sendler. “Aber auf die Frage, welche Garantien wir geben, konnten wir nur antworten, dass es keine Garantien gibt.” 

Fürchterliche Szenen hätten sich daraufhin abgespielt: In einigen Fällen hätte der Vater
zugestimmt, aber die Mutter und Großmutter hätten sich weinend an das Kind geklammert und geschrien. Manchmal, erinnert sich Sendler, sei sie dann am nächsten Tag noch einmal zu den Familien gegangen. Nicht selten waren die Gebäude dann leer, die Familie von der Gestapo deportiert. 

Insgesamt wurden rund 2500 Kinder aus dem Ghetto gerettet: Teils wurden sie unter der Liege eines Krankenwagens versteckt, teils durch das Gerichtsgebäude am Rande des Ghettos – mit einem Eingang auf der Ghettoseite und einem auf “arischem” Boden – geschleust. Auch die Kanalisation und Kellergewölbe dienten dazu, sie in Sicherheit zu bringen. Einige wurden mit Schlafmitteln betäubt und dann in Säcken, Koffern oder Werkzeugtaschen aus dem Ghetto getragen. Wurden die Helfer überprüft, so gaben sie an, die Kleinen seien krank – oder gar tot. 

“Wie viele Mütter kann man denn haben?” 

Als Krankenschwester, die vor allem für die Bekämpfung ansteckender Krankheiten zuständig war, wurde Sendler von den Wachleuten nicht genau kontrolliert: Die Nazis hatten große Angst, dass sich Seuchen im Ghetto ausbreiten könnten. 

Zuerst habe man die Kinder in sichere “Nothilfeeinheiten” gebracht, schreibt die studierte Literaturwissenschaftlerin auf der Homepage. Dort habe man versucht, in kürzester Zeit den Kindern so gut wie möglich polnische Bräuche und zum Teil auch die polnische Sprache beizubringen, damit sie bei Kontrollen “nicht von polnischen Kindern zu unterscheiden waren”. 

Dank ihrer guten Kontakte besorgte Sendler den Kindern eine neue Identität und ein neues Zuhause in polnischen Familien, Klöstern und Waisenhäusern. Die Unterbringung außerhalb des Ghettos gestaltete sich allerdings fast noch schwieriger als die Befreiung selbst. Aus Gründen der Sicherheit mussten die Kinder von einem Unterschlupf zum nächsten gebracht werden. “Sagen Sie, wie viele Mütter kann man denn haben?”, habe sie einmal ein kleiner Junge weinend gefragt. “Das ist jetzt nämlich schon meine dritte.” 

Die Listen waren in Sicherheit, Sendler selbst war es nicht 

Die Namen der Kinder, die sie aus dem Ghetto brachte, schrieb Irena Sendler verschlüsselt auf Zigarettenpapier. Die Listen versteckte sie in Flaschen, die sie in einem Garten vergrub. Die Kleinen sollten nicht für immer bei den neuen Familien oder in den Heimen bleiben, sondern bei Kriegsende zu ihren Eltern zurückkehren. 1945 waren die meisten Erwachsenen aber tot – vergast im Konzentrationslager Treblinka. 

Am 20. Oktober 1943 klopfte es an Sendlers Wohnungstür. “Vor der Tür standen elf Soldaten. In zwei Stunden rissen sie beinahe das Haus ab, suchten unter dem Fußboden und in Kopfkissen.” Doch die Suche nach den Namenslisten blieb erfolglos. Sie waren in Sicherheit. Sendler selbst war es nicht. Sie wurde auf der Wache von SS-Männern verhört, gefoltert, kam ins Gefängnis. Man brach ihr Beine und Füße, die Folgen der Misshandlungen spürt sie noch heute, 63 Jahre später. Doch Sendler schwieg eisern – im Gegensatz zu denen, die sie zuvor denunziert hatten. 

Sie wurde zum Tod verurteilt. Kurz vor ihrer geplanten Erschießung gelang es der Zegota, einen SS-Mann zu bestechen. Der schlug Sendler auf der Fahrt zu ihrer Hinrichtung bewusstlos und ließ sie am Wegesrand liegen. Am nächsten Tag konnte sie auf den Schildern der Nazis in Warschau von ihrer eigenen Hinrichtung lesen. Sie änderte ihre Identität, ließ ihr altes Leben und ihre im Sterben liegende Mutter zurück. Sogar bei deren Beerdigung suchten die Gestapo-Leute nach der Tochter – vergeblich. Sendler arbeitete im Untergrund weiter für die Zegota. 

Rund 50 Jahre geriet Sendler in Vergessenheit 

Über Jahrzehnte geriet das Engagement der “Judenhelferin”, wie Sendler im Sozialismus abschätzend bezeichnet wurde, in Vergessenheit. “Auf der Liste der Helden war einfach kein Platz für eine engagierte Frau, die zwar der Linken entstammte, doch von der ideologischen Utopie des Kommunismus weit entfernt war”, schreibt der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Michal Glowinski, der als Kind von Sendler gerettet worden ist, in einem Buch über die Polin. 

Für ihren Mut geehrt wurde die Katholikin erst sehr viel später: 1965 wurde sie von der Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel “Gerechte unter den Völkern” ausgezeichnet. Vor vier Jahren erhielt sie die höchste Auszeichnung Polens: Den Weißen Adler für Tapferkeit und großen Mut. In diesem Jahr soll Sendler eine der 181 Nominierten für den Friedensnobelpreis sein. In Polen hatte das Jüdisch-Polnische Forum 25.000 Unterschriften für ihre Nominierung gesammelt. 

Irena Sendler lebt heute in einem bescheidenen Zimmer in einem katholischen Pflegeheim in Warschau – als Heldin, die keine sein will. 

Erschienen auf SPIEGEL ONLINE am 18.03.2007


Quelle


Umstrittener Judenretter: Bertold Storfer

Wohltäter oder Kollaborateur? Im Auftrag der Nazis brachte der österreichische Jude Berthold Storfer Flüchtlinge nach Palästina und bewahrte nach eigenen Angaben mehr als 9000 Menschen vor dem Tod. Eine Biografie zeichnet nun das Bild eines umstrittenen Helden – der schließlich selbst in Auschwitz starb. Von Katja Iken

Aufenthalt in Karlsbad
Verkannt? Berthold Storfer 1937 im tschechoslowakischen Kurort Karlsbad. 1880 in Czernowitz (Bukowina) als Spross einer jüdischen Familie geboren, konvertierte Storfer in der Zwischenkriegszeit kurzfristig zum Protestantismus, beschrieb sich später jedoch wieder als “mosaisch”. Vor dem “Anschluss” Österreichs besaß Storfer eine erfolgreiche Privatbank – die 1938 liquidiert wurde. 

Durch seinen direkten und indirekten Einsatz konnten insgesamt 9096 jüdische Flüchtlinge das Deutsche Reich in Richtung Palästina verlassen. Der polnische Jude und Historiker Arno Lustiger bezeichnete Storfer als “Helden”, dessen tausendfache Rettungstaten bis heute totgeschwiegen würden – und spricht sich dafür aus, ihn als Gerechten in Jad Vaschem zu ehren.

Der jovial-unbekümmerte Ton, den Adolf Eichmann dem Todgeweihten gegenüber anschlug, war an Zynismus kaum zu überbieten: “Ja, mein lieber guter Storfer, was haben wir denn da für ein Pech gehabt?”, rief der Holocaust-Organisator dem verzweifelten KZ-Häftling zu, als er ihn im Herbst 1944 in Auschwitz besuchte. Ganz so, als habe sich dieser den kleinen Zeh angeknackst. “Schauen Sie, ich kann Ihnen wirklich gar nicht helfen, denn auf Befehl des Reichsführers kann keiner Sie herausnehmen”, so Eichmann weiter. 

Sechs Wochen später war Berthold Storfer tot. Ermordet von den Schergen jener NS-Elite, der er jahrelang treu zu Diensten gewesen war. Denn seit 1939 hatte der Jude Storfer im Auftrag Eichmanns den Transport jüdischer Flüchtlinge nach Palästina organisiert. Hatte mit Reedern verhandelt, Schiffe bestellt, Matrosen angeheuert – und so nach Eigenaussagen exakt 9096 Menschen vor dem Tod bewahrt. 

War Storfer nun ein skrupelloser Kollaborateur der Nationalsozialisten, ein eiskalter Geschäftsmann und Verräter, wie ihn manche zionistischen Aktivisten brandmarkten? Oder ein Wohltäter, der nur notgedrungen gemeinsame Sache mit den Nazis machte, um so möglichst vielen Juden die Deportation und Ermordung zu ersparen? 

Die österreichische Historikerin Gabriele Anderl hat nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Entstanden ist dabei die allererste Biografie über Berthold Storfer, der, so Anderl, fast achtmal so viele Juden rettete, wie es der weltberühmte Oskar Schindler vermochte – und dennoch nahezu unbekannt ist. 

Auf Knien die Straßen schrubben 

Bis zum Einmarsch der Deutschen in der Alpenrepublik führte Storfer ein weitgehend ungestörtes Leben. 1880 als Spross einer jüdischen Familie in der Bukowina geboren, betrieb der im Ersten Weltkrieg mehrfach dekorierte Kommerzialrat in Wien eine gut laufende Bankgesellschaft, die an der Börse notiert war und zu Hochzeiten 85 Mitarbeiter beschäftigte. 

Mit dem “Anschluss” Österreichs im März 1938 begann auch dort die systematische Entrechtung und Terrorisierung der Juden. Viele von ihnen wurden gezwungen, kniend die Straßen Wiens zu säubern. Storfers Bank wurde liquidiert, das Gebäude am Schottenring, in dem das Geldinstitu
t seinen Sitz hatte, von bewaffneten NS-Männern gestürmt und geplündert. Anstatt selbst ebenfalls zu flüchten, diente sich Bertold Storfer den Nationalsozialisten genau in jenem Moment an, in dem es für ihn als Juden in Österreich gefährlich wurde. 

Panikartig begannen die Juden, Österreich zu verlassen, im französischen Evian-les-Bains beraumte US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Juli 1938 eine internationale Flüchtlingskonferenz an. Dritter Mann der jüdischen Delegation, die aus Wien nach Evian reiste, war Berthold Storfer. Schon einen Monat nach dem “Anschluss” hatte er sich darum bemüht, eine Hilfsorganisation zur Förderung der jüdischen Emigration zu gründen. 


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Nun, nach seiner Rückkehr aus Evian, machte Storfer sich dafür stark, eine zentrale Behörde für die Flüchtlinge nach Palästina zu etablieren. Mit Erfolg: Anfang 1939 betraute Eichmann ihn mit der Leitung eines “Ausschusses für jüdische Überseetransporte” in Wien. Ein Jahr später übertrug ihm der SS-Obersturmbannführer gar die Leitung der Transporte auch aus dem sogenannten Altreich und dem Protektorat: Berthold Storfer war zu einer zentralen Figur für die Auswanderung der Juden aus dem gesamten Deutschen Reich geworden. 

Eine heikle Aufgabe, war diese forcierte “Auswanderung” doch in Wahrheit eine Vertreibung mit vorangehendem Raub: Wer Deutschland verließ, durfte nur zehn Mark mitnehmen, den Rest des Vermögens behielt der NS-Staat ein und finanzierte damit seine wahnwitzige Aufrüstung. 

Storfer war gezwungen, eng mit den Nationalsozialisten zu kooperieren, bisweilen kam er ihnen gefährlich weit entgegen. So etwa im Oktober 1939 bei den ersten Deportationen von Wien nach Nisko am San in Südostpolen – dem, so Historikerin Anderl, “wohl irritierendsten Kapitel” von Storfers Aktivitäten. Storfer, der im sogenannten Generalgouvernement gemeinsam mit anderen jüdischen Funktionären eine Selbstverwaltung aufbauen sollte, bot der SS aus eigener Initiative Hilfe beim Aufbau einer Art jüdischen “Reservats” an. 

Seine heikle Mittlerrolle zwischen NS-Bürokratie und jüdischen Emigranten machte ihn zur Hassfigur zionistischer Aktivisten, die ebenfalls jüdische Flüchtlingstransporte organisierten. Sie beschimpften Storfer als “Kollaborateur”, der “im Bunde mit dem Teufel” sei und sich nur persönlich bereichern wolle: ein Vorwurf, der laut den Recherchen von Gabriele Anderl aber jeglicher Grundlage entbehrt. 

“Über die Donau oder in die Donau” 

Angefeindet von vielen Seiten, massiv unter Druck gesetzt von Eichmann, der den Juden drohte: “Entweder ihr verschwindet über die Donau oder in der Donau!”, organisierte Storfer ab 1939 den bis dato größten illegalen Schiffstransport jüdischer Flüchtlinge nach Palästina. “Illegal” deshalb, weil Großbritannien, seit 1922 Mandatsmacht in Palästina, in seinem berüchtigten Weißbuch just 1939 die Einwanderung von Juden ins Gelobte Land drastisch einschränkte und kaum noch Flüchtlinge aufnahm. 

Da es offiziell verboten war, Juden nach Palästina zu bringen, war Storfer der Willkür unseriöser Geschäftspartner ausgeliefert, die bislang nicht Menschen, sondern vornehmlich Alkohol oder Waffen geschmuggelt hatten. Kaum einer hielt Wort, die völlig überteuerten Dampfer, die jene Mittelsmänner Storfer zur Verfügung stellten, waren meist altersschwach oder gar schrottreif. 

Nach monatelangem Warten traten am 3. und 4. September 1940 von Wien und Bratislawa aus insgesamt über 3500 jüdische Flüchtlinge, darunter Hunderte freigelassene Häftlinge aus Dachau und Buchenwald, die riskante Reise an. Die Bedingungen auf den überfüllten Schiffen waren erbärmlich: Auf der “Pazifik” gab es kaum Trinkwasser und viel zu wenige Schlafplätze, an Bord der “Atlantik” brach eine Typhusepidemie aus, 15 Menschen starben. Nach insgesamt sechs Wochen Fahrt kamen die Schiffe schließlich in der Hafenstadt Haifa an. 

Kaltblütig abserviert 

Als Storfer Anfang 1941 den NS-Behörden seine Bilanz vorlegte, verwies er stolz auf 9096 Flüchtlinge, die durch seine Vermittlung das Land verlassen konnten. Doch am 23. Oktober 1941 war es damit vorbei: Heinrich Himmler verfügte an jenem Tag, dass die jüdische Emigration sofort zu stoppen sei. Statt die Juden aus dem Land zu jagen, schwenkten die Nationalsozialisten auf die Strategie der Vernichtung um. 

Spätestens mit der Auflösung der Wiener “Zentralstelle für jüdische Auswanderung” im Frühjahr 1943 hatte Storfer, der Judenretter und NS-Mitarbeiter, seine Aufgabe erfüllt und wurde nicht mehr gebraucht. Kaltblütig ließen die Nationalsozialisten ihn fallen. Als Storfer im Sommer 1943 erfuhr, dass er ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert werden sollte, reagierte er mit Panik. 

In einem drei Seiten langen Brief an Adolf Eichmann versuchte Storfer, den Holocaust-Organisator von seiner Unabkömmlichkeit zu überzeugen. Er hob dringende Geschäfte hervor, die noch zu Ende gebracht werden müssten. Und stellte sogar in Aussicht, Gelder, die im Zusammenhang mit der jüdischen Auswanderung geflossen waren, in die Kassen der SS umzuleiten. 

Telegramm aus Auschwitz 

Doch der SS-Obersturmbannführer unterließ es, seine schützende Hand über Storfer zu halten. Am 2. September 1943 tauchte Storfer in Wien unter, er versteckte sich am Stadtrand im Häuschen seiner Freundin, der nichtjüdischen Ärztin Katharina Müller. Fünf Tage später wurde er festgenommen – Ende November landete Storfer in Auschwitz. 

Noch immer hielt Storfer es nicht für möglich, dass man ihn so gnadenlos abservieren würde. Er beauftragte den Lager-Kommandanten Rudolf Höß, Eichmann ein Telegramm zu schicken und ihn nach Auschwitz zu bitten. Eichmann reiste tatsächlich zum Vernichtungslager, wie aus den 1961 in Israel aufgezeichneten Vernehmungsprotokollen hervorgeht. 

Der Holocaust-Organisator, in dessen Augen Storfer “ein ehrenwerter Mann, aber ein Pechvogel” war, erwähnte das Treffen mit seinem einstigen Mitarbeiter ausführlich – wohl mit dem Ziel, sich zu entlasten und als generösen Menschenfreund darzustellen. 

“Große innere Freude” 

Ja, der Bitte Storfers sei er gern nachgekommen, schließlich sei dieser “immer ordentlich gewesen” und man habe all die Jahre am gleichen “Strang gezogen”. Storfer habe ihm sein Leid geklagt und ihn gebeten, von der Zwangsarbeit verschont zu werden. 

Daraufhin habe Eichmann Storfer versprochen, dass er nicht mehr arbeiten müsse, sondern einzig mit dem Besen die Kieswege vor der KZ-Kommandantur in Ordnung halten solle. “Da war er sehr erfreut, und wir gaben uns die Hand, und dann hat er den Besen bekommen und hat sich auf die Bank gesetzt, das war für mich eine große innere Freude gewesen”, berichtete Eichmann dem Polizeihauptmann Avner Less, der ihn verhörte. 

Wenige Wochen nach dieser, von Eichmann als “normales, menschliches Treffen” gepriesenen Begegnung wurde Storfer in Auschwitz ermordet. Offenbar hat man ihn nicht vergast, sondern erschossen. 

Zum Weiterlesen: 

 

Gabriele Anderl: “9096 Leben – Der unbekannte Judenretter Berthold Storfer”. Rotbuch Verlag, 2012, 304 Seiten. 

Quelle: Katja Iken, einestages, Spiegel 25.5.2012

Judenretter Rezsö Kasztner – Der Mann, der mit dem Teufel paktierte

Er log, bluffte und besaß eine ungeheure Chuzpe – Rezsö Kasztnerkaufte der Gestapo 1600 ungarische Juden ab und bewahrte sie vor der Gaskammer. Später wurde er in Israel verurteilt und von einem Fanatiker erschossen. Auf einestages verteidigt der Holocaust-Überlebende Ladislaus Löb seinen Retter.

Zwischen Held und Verräter
Zwischen Held und Verräter: Rezsö Kasztner, 1906 wie Ladislaus Löb in Klausenburg geboren, war studierter Jurist und überzeugter Zionist. Als faktischer Leiter des jüdischen Rettungskomitees Wa’adah verhandelte er in Budapest mit der Gestapo über die Freilassung ungarischer Juden im Tausch gegen Gold und Devisen.

Am 25. April 1944 unterbreitete Holocaust-Organisator Adolf Eichmann dem in Budapest ansässigen jüdischen Rettungskomitee Wa’adah einen makaberen Deal: Die Gestapo versprach, eine Million Juden freizulassen, forderte dafür aber von den ungarischen Juden 10.000 Lastwagen, 200 Tonnen Kaffee, zwei Million Kisten Seife und anderes kriegswichtiges Material. Das Rettungskomitee sollte die von den Nazis zum Einsatz an der Ostfront vorgesehenen Lastwagen von den westlichen Alliierten beschaffen. Hintergrund waren Bestrebungen des SS-Chefs Heinrich Himmler, hinter dem Rücken Adolf Hitlers einen Separatfrieden mit den westlichen Alliierten zu erreichen. Die Vereinbarung kam nie zustande. Dafür kaufte Rezsö Kasztner, faktischer Wa’adah-Leiter, in monatelangen Verhandlungen mit der Gestapo 1670 ungarische Juden frei: Am 6. Dezember 1944 erreichte sein “Palästina-Transport” die neutrale Schweiz. 

Nach dem Krieg sagte Kasztner zugunsten hochrangiger Nationalsozialisten aus. Er wanderte nach Israel aus und arbeitete für die sozialdemokratische Mapai-Partei. 1954 bezichtigte ihn Malchiel Grünwald, ein verbitterter rechtsextremer Einzelgänger, der Kollaboration mit den Nazis. Kasztner strengte einen Verleumdungsprozess an – wurde aber selbst schuldig gesprochen. Er habe, so der Richterspruch, “dem Teufel seine Seele verkauft”. Am 3. März 1957 wurde Kasztner von einem jüdischen Fanatiker erschossen. 

In seinem jetzt erschienenen Buch versucht Ladislaus Löb, 77, der den “Palästina-Transport” selbst miterlebte, seinen Retter Kasztner zu rehabilitieren. Miteinestages sprach Löb, der nach dem Krieg in England als Professor für deutsche Sprache und Literatur arbeitete, über seine Erinnerungen und Recherchen. 

einestages: Ohne Rezsö Kasztner hätten Sie Ihren zwölften Geburtstag wohl nie erlebt. Kann ein Geretteter ein ausgewogenes Sachbuch über seinen Retter schreiben? 

Löb: Ich glaube nicht, dass es nur Subjektivität gibt. Bis zu einem gewissen Grad kann auch der persönlich Betroffene objektiv sein. Ich habe rund vier Jahre lang in Archiven recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen. Trotzdem bin ich natürlich nicht unvoreingenommen. 

einestages: Als jüdisches Kind wuchsen Sie während des Krieges in einem Klima der Angst auf. Wie erlebten Sie den Antisemitismus in Ungarn? 

Löb: Als kleiner Junge versuchte ich einmal, die Fransen der ungarischen Flagge zu erhaschen, die vor unserem Haus gehisst war. Daraufhin wurde mein Vater verurteilt – weil sein Sohn die ungarische Nation beleidigt habe. Ein anderes Mal stand er vor Gericht, weil meine an Tuberkulose erkrankte Mutter mit ihrem Husten angeblich das ungarische Volk vergiften wollte. Das war jedoch nichts gegen das, was nach der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht am 19. März 1944 passierte … 

einestages: … woraufhin binnen kürzest
er Zeit 437.000 ungarische Juden in den Tod geschickt wurden. Wie kam Kasztner auf die tollkühne Idee, mit der Gestapo um Menschenleben zu feilschen? 

Löb: Das jüdische Rettungskomitee Wa’adah erhielt einen Bericht aus der Slowakei, dass die Deutschen angeblich bestechlich seien. Daher trat man unmittelbar nach deren Einmarsch an Adolf Eichmann heran, um Geschäfte zu machen. 

einestages: Wieso verhandelten die Deutschen überhaupt mit den ungarischen Juden, in ihren Augen doch Untermenschen? 

Löb: So seltsam es klingen mag: Die Nazis glaubten ihrer eigenen Propaganda von der Allmacht des sogenannten Weltjudentums. Indem sich Kasztner als Stellvertreter jener angeblichen Weltmacht ausgab, flößte er den Deutschen gehörigen Respekt ein. 

einestages: Wie kam es zu dem Deal, der 1670 Juden das Leben rettete? 

Löb: Kasztner spielte auf Zeit: Wenn die Nazis unsere Gruppe gehen lassen würde, machte er Eichmann weis, würden die Alliierten dem Lastwagen-Deal zustimmen. 

einestages: Die Alliierten dachten jedoch gar nicht daran. Warum nicht? 

Löb: Es kam für die Alliierten nicht in Frage, dem Feind kriegswichtiges Material zu liefern, zudem sperrten sich die Russen gegen diesen Plan. Und: Was macht man mit einer Million Juden? Keiner der Alliierten hätte sie gewollt. 

einestages: Pro freigelassenem Juden bot Kasztner Eichmann hundert Dollar, am Ende bestimmte Himmler ein Lösegeld von tausend Dollar pro Kopf. Woher bekam Kasztner so viel Geld? 

Löb: Rund 150 Leute aus Kasztners “Palästina-Transport” waren extrem reich, sie zahlten für uns alle. 

einestages: Wie schafften Sie es, in den Kreis der Auserwählten aufgenommen zu werden? 

Löb: Dass ich Teil der Gruppe wurde, ist purer Zufall, gepaart mit viel Glück. Um dem Ghetto unserer Heimatstadt Klausenburg in Siebenbürgen (heute Cluj-Napoca – Anm. d. Red.) zu entrinnen, bestach mein Vater einen Polizisten und floh mit mir nach Budapest. Dort erfuhr er von Kasztners Vorhaben. Als sich herausstellte, dass einer der Leiter des Transports sein entfernter Cousin war, redete mein Vater so lange auf den Mann ein, bis dieser uns beide ins Kasztner-Lager aufnahm. Wir tauschten unsere prekäre Freiheit gegen die sichere Gefangenschaft in den Händen der Nazis ein – ein enormes Wagnis. 

einestages: Der Zug in die vermeintliche Freiheit führte Sie von Budapest aus aber nicht sofort nach Palästina, sondern zunächst ins Konzentrationslager Bergen-Belsen, fünf Monate lang waren sie dort als Eichmanns Geisel interniert. Was war das Schlimmste am Lager? 

Löb: Am schrecklichsten war die Ungewissheit. Wir hatten keine Ahnung, was mit uns geschehen würde. Das war weit schlimmer als Läuse und Flöhe, modrige dreistöckige Betten und der Hunger, sogar noch schlimmer als die berüchtigten allmorgendlichen Zählappelle. Mit jedem Tag sank die Hoffnung. Als der erste aus unserer Gruppe starb, waren wir noch geschockt, später wurden wir immer gleichgültiger. 

einestages: In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie sich Kasztner während Ihrer Zeit im Lager vorstellten: Als eine Art Moses, der sein Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft führt. Eichmann charakterisierte seinen Verhandlungspartner hingegen als eiskalten Fanatiker, der einen perfekten Gestapo-Offizier abgegeben hätte. War Kasztner ein Held oder ein Verräter? 

Löb: Der Mann war extrem ehrgeizig, konnte hervorragend lügen und bluffen und besaß eine wahnsinnige Chuzpe. Sein Neffe hat ihn später mal gefragt, ob er wirklich ein Held sei. Da antwortete Kasztner: “Jemand musste etwas tun, um Menschen zu retten. Niemand tat etwas. Da war ich halt der, der es gemacht hat. Ich war ein Held umständehalber.” Das trifft es im Kern – bei aller Arroganz, Selbstherrlichkeit und Verschlagenheit, die Kasztner an den Tag legte. 

einestages: Was gab Kasztner die Kraft, mit dem Teufel zu paktieren? 

Löb: Kasztner hatte den Mut der Verzweiflung. Zudem kann ich mir gut vorstellen, dass ihm das alles manchmal sogar Spaß gemacht hat. Er konnte dem Reiz nicht widerstehen, mit den Nazis auf Augenhöhe zu verhandeln und für einen großen Mann gehalten zu werden. Außerdem wollte er als Nationalheld in Israel empfangen werden. 

einestages: Kasztner feilschte mit den Nazis nicht nur um Menschenleben, er genoss auch Privilegien, beispielsweise durfte er den Dienstwagen des SS-Standartenführers Kurt Becher benutzen. Wo verläuft in Ihren Augen die Grenze zwischen Kompromiss und Kollaboration? 

Löb: Von einem moralischen Standpunkt aus betrachtet darf man sich natürlich nicht mit Bestien einlassen. Doch wenn es um Menschenleben geht, muss man eben Kompromisse eingehen. 

einestages: Kasztner machte nicht nur Kompromisse, er verschwieg den Ungarn auch Eichmanns Vernichtungspläne, obwohl er genau wusste, was in Auschwitz geschah. Warum tat er das? 

Löb: Kasztner hängte sein Wissen zwar nicht an die große Glocke, schickte jedoch Boten in die Ghettos, um die Juden zu warnen. Aber die Menschen wollten das nicht hören. Sie verschlossen die Augen, weil es etwas so Schreckliches wie die Vernichtungslager in ihren Augen einfach nicht geben durfte. Selbst wenn Kasztner Alarm geschlagen hätte: Die meisten Juden waren so demoralisiert, dass sie wohl kaum rebelliert hätten. Die Leute ließen sich nach Auschwitz schleppen – mein Vater nicht. 

einestages: Nach dem Krieg sagte Kasztner in Nürnberg zugunsten des SS-Mannes Becher aus. Warum deckte er als Jude einen Kriegsverbrecher? 

Löb: Monatelang hatten Kasztner und Becher fast täglich miteinander verhandelt – da ist eine gewisse Freundschaft psychologisch verständlich. Zudem glaubte Kasztner, dass Becher ihn durchschaut, aber dennoch bei Himmler ein gutes Wort für ihn und den “Palästina-Transport” eingelegt habe. Schließlich fuhr Kasztner im Januar 1945 mit Becher nach Berlin, um Juden zu retten. Kasztner war der Ansicht, Becher habe Himmler überzeugt, die Juden in einigen Konzentrationslagern, darunter Bergen-Belsen, zu verschonen. 

einestages: Im Jahr 1954 wurde Kasztner in Israel verurteilt, obwohl er Hunderte Menschenleben gerettet hatte. Wieso ging man so hart mit Kasztner ins Gericht? 

Löb: Zum einen war es ein politischer Prozess, in dem Kasztner dem Konflikt zwischen der sozialdemokratischen israelischen Mapai-Partei und den Revisionisten zum Opfer fiel. Kasztners Gegnern ging es darum, Mapai durch Diffamierung ihres Stellvertreters Kasztner zu schwächen. Zum anderen trieb viele Juden in Israel das schlechte Gewissen um, dem Holocaust nicht Einhalt geboten zu haben. Sie brauchten Rezsö Kasztner als Sündenbock. Indem man ihn verurteilte
, wusch man sich selbst rein. 

einestages: Wie veränderte die Kasztner-Affäre die israelische Politik? 

Löb: Unmittelbar nach Ende des Prozesses stürzte die sozialdemokratische Regierung. 20 Jahre später gab es keine Mapai mehr, sondern nur noch den konservativen Likud. Ein verhängnisvoller Rechtsrutsch brach sich Bahn – der bis heute das Geschehen im Nahen Osten beeinflusst. 

Das Interview führte Katja Iken. 

"Seine Seele dem Teufel verkauft"
“Seine Seele dem Teufel verkauft”: Nach dem Krieg wanderte Rezsö Kasztner (Foto von 1947) nach Israel aus und arbeitete für die sozialdemokratische Mapai-Partei, unter anderem als Sprecher des Versorgungsministeriums. Nachdem ein Rechtsextremist ihn der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt hatte, strengte Kasztner einen Verleumdungsprozess an, der sich jedoch gegen ihn wendete: Er habe “seine Seele dem Teufel verkauft”, urteilte damals der Richter. Am 3. März 1957 wurde Kasztner von einem jüdischen Fanatiker vor seiner Wohnung erschossen – seine Teilrehabilitierung erlebte er nicht mehr.



Zum Weiterlesen: 

 

Ladislaus Löb: Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Bericht eines Überlebenden, Böhlau Verlag 2010, 24,90 Euro.


Quelle: einestages, spiegel 19.8.2010

Antisemitismus-Opfer Philipp Auerbach – Der unerwünschte Nazi-Jäger

Alle wollten vergessen, er verlangte Gerechtigkeit: Im Nachkriegs-Deutschland kämpfte Philipp Auerbach wie kein zweiter für die Entschädigung von NS-Opfern. Politiker und Medien beschimpften ihn – ein ehemaliger Nazi-Richter verurteilte den Juden in einem unfairen Prozess. Die Hetze endete tödlich. Von Christoph Sydow

Philipp Auerbach
Der Querulant: Philipp Auerbach kämpft wie kein zweiter für die Entschädigung von Opfern des Nazi-Regimes. Vielen Deutschen ist er damit ein Dorn im Auge. Auch die Politik wendet sich bald von ihm ab, besonders Bayerns Justizminister Josef Müller bekämpft ihn rücksichtslos. 1952 wird Auerbach in einem umstrittenenen Prozess zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Kurz darauf nimmt er sich das Leben.

Philipp Auerbach war kein sympathischer Mensch. Selbst Leute, die es gut mit ihm meinten, bezeichneten ihn als cholerisch, machtgierig, selbstherrlich. Aber andererseits auch als hilfsbereit, gutmütig und selbstlos. Viele Deutsche verachteten ihn schlicht: Denn in den ersten Nachkriegsjahren war Auerbach der Stachel im Fleisch der jungen Republik. Während die meisten Deutschen die Verbrechen während der zwölfjährigen Nazi-Diktatur einfach nur vergessen wollten, drängte er wie kein zweiter auf eine Wiedergutmachung für die NS-Opfer und eine rücksichtslose Verfolgung der Täter. 

Auerbach gehörte als Jude selbst zu denen, die unter den Nazis eingesperrt waren und jahrelang in Todesangst auf ihre Freilassung hoffen mussten. Er überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald. Doch nach seiner Befreiung 1945 wurde Auerbach nicht wie erhofft mit Jubelrufen, sondern bestenfalls mit Gleichgültigkeit, oft auch mit Hass empfangen. Denn er vertrat all jene, die jeden Tag die Deutschen an ihre Mitschuld an den Verbrechen des Nazi-Regimes erinnerten. 

Seine Mission: Wiedergutmachung für die Opfer des NS-Regimes und die juristische Verfolgung von Alt-Nazis. Dieses Ziel vertrat er in verschiedenen Ämtern, zuletzt als bayerischer Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte und als Präsident des Landesentschädigungsamtes in München. 

Auerbach war kein Mann der Kompromisse, kein Versöhner, manchmal handelte er am Rande der Legalität. Er verlangte nicht nur Entschädigung für jüdische NS-Opfer, sondern ausdrücklich auch für die im Nachkriegsdeutschland noch immer diskriminierten Homosexuellen sowie für Sinti und Roma. Mit dieser Haltung machte er sich auch bei jüdischen Interessengruppen Feinde. 

Viele Deutsche hatten kein Verständnis für Auerbach 

Auerbach forderte für jeden ehemaligen KZ-Häftling eine Entschädigung von zehn Mark pro erlittenem Hafttag. Dafür sollte das Raubgut der Nazis unter den Opfern des “Dritten Reiches” verteilt werden. Daraufhin erhielt er zahlreiche antisemitische Schmähbriefe, in denen den Überlebenden des Nazi-Regimes pauschal Gier und Rachsucht vorgeworfen wurden. 

Denn in den ersten Nachkriegsjahren, als viele deutsche Städte in Trümmern lagen und die Not groß war, sahen fast alle Deutsche sich selbst als Opfer der Nazi-Zeit. Sie mussten mit den Folgen der Kriegsniederlage leben. Für Auerbachs Haltung fehlte ihnen fast jedes Verständnis.

Der verteidigte in einem Gastbeitrag im SPIEGEL 1947 seine Forderungen: “Während wir im Kampf um unsere Idee gegen den Hitler-Terror kämpften und unser Leben aufs Spiel setzten, misshandelt, verkrüppelt und tyrannisiert wurden, haben große Teile von ihnen in Ruhe ihrer Beschäftigung nachgehen können oder sogar in Amt und Würden gestanden und von dem System Nutzen gezogen, das wir bekämpften. Sie hatten bis die Bomben einschlugen, ihre Wohnung, ihr Heim.” 

In der deutschen Presse erschienen inzwischen wieder offen antisemitische Leserbriefe wie dieser von einem “Adolf Bleibtreu”, der im August 1949 in der “Süddeutschen Zeitung” schrieb: “Geht doch nach Amerika, aber dort können sie Euch auch nicht gebrauchen, sie haben genug von diesen Blutsaugern”, pöbelte der Mann. Und fuhr fort, er sei “beim Ami beschäftigt”, und habe d
ort gehört, dass sie den Deutschen alles verziehen, außer dass sie nicht alle Juden vergast hätten. Denn nun würden sie Amerika beglücken. 

Häme für den “Cäsar der Wiedergutmachung” 

Auch seine Jagd nach Alt-Nazis brachte Auerbach Ärger ein: Die junge Bundesrepublik benötigte ehemalige Vertreter des NS-Regimes für den Aufbau ihres Verwaltungsapparats, und auch die US-Militärbehörde zeigte kein wirkliches Interesse an einer Aufarbeitung des Unrechts während der Nazi-Zeit. Sie brauchte stabile deutsche Institutionen angesichts des aufziehenden Kalten Krieges und der Konfrontation mit dem neuen Feind Kommunismus. Schnell wurde klar: Der unbequeme Nazi-Jäger musste weg. 

Bereits 1949 stellte der CSU-Gründer und bayerische Justizminister Josef Müller einen Staatsanwalt eigens dafür ab, belastendes Material gegen Auerbach zu sammeln. Im Januar 1951 durchsuchte die Polizei das von Auerbach geleitete Landesentschädigungsamt. Zehn Wochen lang besetzte die Beamten die Münchener Behörde, Entschädigungsanträge wurden in dieser Zeit kaum noch bearbeitet. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Das Amt sollte mit Hilfe gefälschter Dokumente mehrere 100.000 Mark an Wiedergutmachungsgeldern erschlichen haben. Viele Deutsche fühlten sich dadurch in ihrem antisemitischen Vorurteil bestätigt, dass Juden zu ihrem eigenen finanziellen Vorteil lügen und betrügen.

Journalisten und Politiker bedienten diese Vorurteile. Manche ganz offen, bei anderen schlichen sich weit verbreitete Ressentiments in Nebensätzen ein. So erwähnte etwa der SPIEGEL im Februar 1951 in einem Artikel über Auerbachs Tätigkeit als Präsident des bayerischen Landes-Entschädigungsamtes ganz nebenbei “Juden, denen KZ-Haft und Tod zahlloser Angehörigen den Maßstab gesetzlicher Notwendigkeit getrübt hatten”. Bayerns Justizminister Müller, der mehr und mehr zu Auerbachs erbittertstem Gegenspieler wurde, geht noch einen Schritt weiter. Er sagte, er könne nicht zusehen, dass Bayern von einem jüdischen „König“ regiert werde. Außerdem machte er Auerbachs Verhalten für den wachsenden Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland verantwortlich. 

Am 10. März hatte die Staatsanwaltschaft offenbar genügend belastendes Material gesammelt: Die bayerische Polizei nahm Auerbach auf der Autobahn fest, als dieser von einer Dienstreise aus Bonn zurückkehrte. Nach 13 Monaten in Untersuchungshaft begann im April 1952 der Prozess gegen ihn und drei Mitangeklagte, darunter den bayerischen Landesrabbiner Aaron Ohrenstein. Die Anklageschrift war Ausdruck der pedantischen Ermittlungsarbeit. Sie warf Auerbach Erpressung, Untreue, Betrug, Bestechung, Abgabenüberhebung, Amtsunterschlagung, Angabe falscher Versicherung an Eides statt und die unbefugte Führung eines akademischen Grades vor. 

Keine Chance auf einen fairen Prozess 

Schon vor dem Prozess erreichten die Behörden zahllose antisemitische Briefe. So schrieb ein anonymer Absender: “Ehrliche Arbeit scheut der Jude.” Und hetzte weiter: Das Deutsche Volk habe seit Jahren in Erfahrung bringen müssen, dass bei Staatlichen- und Kommunalen-Behörden, wo Unterschlagungen und Betrügereien vorgekommen sind, stets Juden an den maßgebenden Stellen die Betrüger waren. Am Ende seiner Tirade foderte er gar: “Raus mit den Juden aus Deutschland!” 

Prozesseröffnung
Prozess: Am 16. April 1952 beginnt am Landgericht München das Verfahren gegen Auerbach (mit Verteidiger Josef Klibansky und dem Mitangeklagten Berthold Konirsch, v.r.n.l.) Die Angeklagten haben keine Chance auf ein faires Verfahren, denn Richter, Staatanwalt und Sachverständige sind ehemalige Nazis.


Als der Angeklagte am 16. April 1952 erstmals auf der Anklagebank Platz nahm, saß ihm eine Riege ehemaliger NS-Juristen gegenüber: Richter Josef Mulzer war nicht nur ein ehemaliger Kanzleikollege von Auerbachs Gegenspieler Müller; er war auch Oberkriegsgerichtsrat im “Dritten Reich”. Ein Beisitzer war Ex-SA-Mitglied, ein weiterer Beisitzer, die Staatsanwälte und der psychiatrische Sachverständige waren Mitglieder der NSDAP. Ganz unbefangen erwähnte der Richter, dass Auerbach “eine arische Ehefrau habe”, und als der Verteidiger daran erinnerte, dass sein Mandant Jahre im KZ interniert war, entgegnete Mulzer lapidar, dass er selbst auch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gesessen hatte. 

Unstrittig war, dass Auerbach unberechtigterweise einen Doktortitel führte. Doch weit schwerer wiegende Anklagepunkte brachen in sich zusammen, weil Zeugen Auerbach entlasteten und Belastungszeugen frühere Aussagen zurücknahmen. Wegen seines angeschlagenen Gesundheitszustands wurde der 45-Jährige aus der Untersuchungshaft entlassen und durfte zur Behandlung in ein Sanatorium. Justizminister Müller musste noch während des Prozesses zurücktreten, weil er eigenmächtig einen Staatsanwalt jahrelang gegen Auerbach ermitteln ließ. 

Dennoch verurteilte das Gericht Auerbach am 14. August 1952 zu zweieinhalb Jahren Haft und 2700 Mark Geldstrafe. Seine Vergehen: unberechtigtes Führen eines akademischen Grades, zwei falsche eidesstattliche Erklärungen, ein Erpressungsversuch, Bestechung in drei und Untreue in vier Fällen. Den Hauptanklagepunkt – die angebliche Veruntreuung von Entschädigungsgeldern – hatten die Richter fallengelassen. 
Abschiedsbrief
Abschiedsbrief: Auf der Rückseite seiner Gerichtsvorladung hinterlässt Auerbach vor seinem Selbstmord seine letzten Worte: 

Nicht aus Feigheit, nicht aus einem Schuldbekenntnis heraus handle ich, sondern weil ein Glaube an das Recht für mich nicht mehr besteht und ich meinen Freunden und meiner Familie nicht weiter zur Last fallen will. Ich bin unschuldig verurteilt in Falle Diekow und in den Fällen Hönig/Ohnsorg. Auch im Fall Lehrer hat man mir unrecht getan. Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann dieses entehrende Urteil nicht weiter ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft, es war umsonst. Ich danke meinen Verteidigern Dr. Panholzer und Rechtsanwalt Klibansky. Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen. Dr. Auerbach, 14.8.52

Proteste bei der Beerdigung 

Doch der Urteilsspruch und die antisemitische Hetzkampagne hatten Auerbach gebrochen: Zwei Tage später nahm er sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann das entehrende Urteil nicht weiterhin ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft – umsonst … Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen.“ 

Bei der Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof in München am 18. August 1952 folgten Tausende dem Sarg des Verstorbenen. Am Rande des Trauerzugs kam es zu Tumulten, als Demonstranten ein Transparent mit dem Schriftzug enthüllten: „Bist Du nun zufrieden, Josef Müller?“ Die Polizei setzte Wasserwerfer ein. 

Doch es war nur eine Minderheit, die auf Seiten Auerbachs stand: Die bayerische Landpolizei schrieb in einem Bericht über die Beisetzung: “Das Urteil im Auerbach-Prozess wird im Volke allgemein als gerecht, vielfach aber auch (…) als zu milde empfunden. Der Selbstmord Auerbachs sei zwar mit Überraschung, aber ohne besondere Erschütterung zur Kenntnis genommen und als Schuldbekenntnis gewertet worden.” 

Zwei Jahre später wurde Auerbach von einem Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags vollständig rehabilitiert. Auf seinem Grabstein steht heute: “Helfer
der Armen, Opfer seiner Pflicht”. 

Wasserwerfer
Tumulte: Am Rande von Auerbachs Beerdigung kommt es zu Unruhen. Die Demonstranten machen Justizminister Müller für das Gerichtsurteil und den Selbstmord des Verurteilten verantwortlich. Die Polizei setzt Wasserwerfer ein.


Quelle: einestages, spiegel 30.1.2013

Kurt Lichtenstein – Jude & Kommunist, von Grenzer erschossen

Jude – Kommunist – Deutscher: Als der Journalist Kurt Lichtenstein zwei Monate nach dem Mauerbau an der innerdeutschen Grenze erschossen wurde, machte ihn die westdeutsche Politik zum “Blutzeugen” der deutschen Teilung. Den Behörden aber blieb das ehemalige KPD-Mitglied bis zuletzt suspekt. Von Solveig Grothe

Geschwister Lichtenstein
Geschwister Lichtenstein: Kurt Lichtenstein mit seiner Schwester Elfriede um 1930. Elfriede Lichtenstein wurde später in Auschwitz ermordet. Bundesdeutsche Behörden lehnten es zu Lichtensteins Lebzeiten ab, ihn für das erlittene Leid der Familie im Holocaust zu entschädigen.

Aus allen Teilen der Bundesrepublik waren die Trauergäste am 26. Oktober 1961 nach Dortmund gekommen. Auf dem Hauptfriedhof versammelten sich unzählige Journalisten und Gewerkschaftsvertreter; Wirtschaftskreise und die politischen Parteien hatten Blumen und Kränze geschickt. Der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer (CDU), war persönlich erschienen, um dem Toten, dessen umrahmtes Bild in einem Blumenmeer auf dem Katafalk stand, die letzte Ehre zu erweisen. 

Das Foto zeigte den Journalisten Kurt Lichtenstein, der am 12. Oktober 1961 “in Ausübung seines Berufes”, wie der Trauerredner betonte, an der niedersächsischen Zonengrenze nordöstlich von Wolfsburg von DDR-Grenzern erschossen worden war. In Regierungserklärungen und Zeitungen war von der “Empörung und Abscheu” ob dieser Tat zu lesen. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Herbert Wehner würdigte Lichtenstein als “Blutzeugen” dafür, was “diesem geplagten deutschen Volk und diesem geplagten Land noch immer angetan” werde. 

Der “Blutzeuge”, dessen Tod die bundesdeutsche Öffentlichkeit so sehr bewegte und in dessen schrecklichem Schicksal führende Politiker das “gesamtdeutsche Leid” infolge der deutschen Teilung verkörpert sahen, war der gleiche Kurt Lichtenstein, der bis zu seinem Tod vergeblich mit bundesdeutschen Behörden darum gerungen hatte, für sein als Jude in Deutschland erlittenes Leid – seine Eltern und seine Schwester waren von den Nationalsozialisten ermordet worden – entschädigt zu werden. 



 

Eingesperrt und ausgegrenzt: Lesen Sie hier die Geschichten der Menschen, deren Leben der Mauerbau für immer veränderte! 



Was die unerwartete Aufmerksamkeit auf die Person Lichtensteins lenkte, waren Zeitpunkt und Umstände seines Todes: Erst am 13. August 1961, also zwei Monate zuvor, hatte der Osten seine Grenzen abgeriegelt. Der Mauerbau in Berlin stand nicht nur symbolhaft für die Teilung der Stadt sondern ganz Deutschlands. Und Lichtenstein war das erste Opfer an dieser innerdeutschen Grenze. Er war zudem auch der erste Mensch, der aus Richtung Westen kommend unter Beschuss geraten war. Mitten im Kalten Krieg machte dieser Vorfall aus einem Mann, der jahrelang wenig erfolgreich nach seinem Platz in der Bundesrepublik gesucht hatte, plötzlich einen “Helden der freien Welt”, wie es seine Witwe s
päter ausdrückte. 

Das Erstaunlichste an diesem Fall: Leben und Tod Lichtensteins schienen den ganzen Wahnwitz und die Irrungen des 20. Jahrhunderts zu bündeln. Denn als wäre der zwiespältige Umgang mit dem jüdischen auf der einen, und demdeutschen Schicksal des Kurt Lichtenstein auf der anderen Seite nicht schon seltsam genug, gab es noch eine andere Absurdität: “Lichtensteins Leben endete an der Grenze jenes Staates, für dessen Existenz er jahrzehntelang gekämpft hatte”, wie sein Biograf Rainer Zunder schrieb. Gemeint war die DDR. Seit jeher hatte Lichtenstein vom Aufbau des Sozialismus in Deutschland geträumt. Zunders Buch erschien mehr als 30 Jahre nach Lichtensteins Tod. Zu diesem Zeitpunkt, 1993, war der Todesfall juristisch noch immer nicht abgeschlossen. 

Aufbruch zur Grenze 

Am 9. Oktober 1961 hatte sich der 49-jährige Dortmunder, Chefreporter der “Westfälischen Rundschau”, morgens von seiner Frau und den beiden Töchtern verabschiedet und war mit seinem brandneuen roten Ford Taunus zu einer Recherchereise aufgebrochen. Zwei Monate, nachdem die DDR mit dem Mauerbau und der hermetischen Abriegelung der deutsch-deutschen Grenze begonnen hatte, wollte er “eine umfangreiche Reportage über das Leben an und mit der Grenze, über auseinandergerissene Dörfer und Familien, über Volkspolizei und Nationale Volksarmee drüben und Bundesgrenzschutz hüben” schreiben, wie sich seine Frau erinnert. 



50 Jahre Mauerbau – Alle Artikel, Hintergründe und Fakten 



Aus Richtung Lübeck kommend, so ergab die polizeiliche Rekonstruktion später, war er drei Tage darauf gegen 11.30 Uhr an einer Straßensperre eingetroffen, die das Dörfchen Zicherie im Westen von Böckwitz im Osten trennte. Bei einem westdeutschen Zollassistenten erkundigte sich der Reporter, ob man die Straße nach Kaiserwinkel – parallel zur Zonengrenze – risikolos befahren könne. Als dieser bejahte, machte er sich auf den Weg. 

Nach rund zwei Kilometern stoppte er seinen Wagen auf dem Seitenstreifen. Mit dem Fotoapparat in der Hand stieg er aus, überquerte den trockengelegten Graben, der die Grenzlinie markierte, und lief über den geeggten, zehn Meter breiten Kontrollstreifen geradewegs auf eine Menschengruppe zu, die mit Maschinen und Traktor damit beschäftigt war, Kartoffeln zu ernten. Zäune und Minenfelder gab es damals noch nicht, die Lichtenstein hätten aufhalten können. Die Handzeichen der Feldarbeiter, die ihm signalisieren wollten, dass er verschwinden möge, nahm er offenbar nicht wahr oder ignorierte sie. Möglicherweise verhinderte auch der Motorenlärm, dass er verstand, was man ihm zurief. 

Rückweg abgeschnitten 

Zur Umkehr entschloss sich Lichtenstein offenbar erst, nachdem er den Grenzposten bemerkt hatte, der am Kontrollstreifen entlanglief, um ihm den Rückweg abzuschneiden. Schüsse fielen und die Menschen auf dem Feld sahen, wie der Reporter die Arme in die Höhe riss, wankte und schließlich Richtung Graben stürzend zusammenbrach. DDR-Grenzer und ein herbeigeeilter Treckerfahrer versuchten wenig später, die Wunden des an Bein und Oberkörper Getroffenen notdürftig zu versorgen, bevor sie ihn schließlich ins Hinterland zogen. Am späten Nachmittag des gleichen Tages starb Lichtenstein im Krankenhaus der nahegelegenen Kleinstadt Klötze. 

Seine Leiche wurde daraufhin in die Bezirksstadt Magdeburg transportiert – und eingeäschert. Ein Telegramm kündigte der Witwe am 18. Oktober die postalische Zusendung der Asche an. Zur anberaumten Trauerfeier – mehr als eine Woche später – kam die Urne dann allerdings nicht pünktlich. 

Während der Osten den Fall des “Grenzverletzers” auf seine Weise propagandistisch ausschlachtete und Lichtenstein einen “Provokateur” schimpfte, nutzte der Westen den Anlass für eine Verurteilung des “mörderischen” kommunistischen Regimes. Der “Mord”-Vorwurf entsprang dabei wohl vor allem der aufgeheizten Stimmung, die zu diesem Zeitpunkt zwischen den Machtblöcken herrschte. 

Abgesehen davon b
egleiteten den Fall auch Spekulationen, ob Lichtenstein nicht tatsächlich gezielt liquidiert worden war. Schließlich war er mit einigen Mitgliedern des SED-Regimes persönlich bekannt: Mit Erich Honecker etwa, dem ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und damit Koordinator des Mauerbaus, hatte Lichtenstein 1934/35 im Kommunistischen Jugendverband des Saarlandes gearbeitet. Lichtensteins Frau Gertrud hatte mit Erich Mielke, nunmehr Ulbrichts Minister für Staatssicherheit, in den dreißiger Jahren zusammen die Moskauer Leninschule besucht. 

Parteiverfahren gegen Lichtenstein 

1931 war Lichtenstein in die KPD eingetreten, hatte für sie im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und – obwohl Jude – illegal und als Fremdarbeiter getarnt in Nazi-Deutschland gearbeitet. Nach dem Krieg engagierte er sich weiter für die Partei, saß im Nordrhein-westfälischen Landtag. Zum Bruch kam es erst, nachdem er selbst wegen seiner kritischen Haltung gegenüber dem dogmatischen, Moskau hörigen KPD-Vorsitzenden Max Reimann in die Mühlen der parteiinternen stalinistischen Säuberungen geriet: Etwa zur selben Zeit, da der stalinistische SED-Flügel um Walter Ulbricht im Osten Schauprozesse gegen sogenannte Abweichler initiierte, gab es in der KPD im Westen ein Parteiverfahren gegen Lichtenstein, das er trotz versicherter Treue zur Partei und einem verzweifelten Besuch beim Ostberliner SED-Zentralkomitee nicht zu seinen Gunsten beeinflussen konnte. Es endete 1953 mit seinem Ausschluss. 

Nach dem Rausschmiss aus der Partei, verbunden mit dem Verlust seiner Ämter und Einkünfte, versuchte Lichtenstein jahrelang, als Journalist in der Bundesrepublik Fuß zu fassen. Obwohl längst nicht mehr Mitglied in der dort 1956 verbotenen KPD haftete ihm seine politische Vergangenheit weiter an – selbst noch, nachdem er 1956 in die SPD eingetreten war und zwei Jahre später eine Anstellung bei der SPD-eigenen “Westfälischen Rundschau” erhalten hatte. Weil er zum Stichtag 23. Mai 1949 noch Mitglied der kommunistischen Partei gewesen war und deren “antidemokratischen Ziele” unterstützt habe, wurde sein Anspruch auf “Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung” abgelehnt. Dass Lichtensteins Eltern rassisch Verfolgte waren, deportiert wurden und im KZ umkamen, bezweifelten die Behörden indes nicht. 

Nur vier Wochen nach Lichtensteins aufsehenerregendem Tod an der deutsch-deutschen Grenze hatte sich die Haltung der Behörden offenbar gewandelt: Die Witwe erhielt die Nachricht, dass sich das Entschädigungsamt nunmehr bereiterklärt habe, die “rechtlichen Bedenken, die einer Entschädigungsleistung entgegenstanden, aufzugeben”. 

Der Prozess 

Auf ein juristisches Urteil zum Tod ihres Mannes sollte die Witwe allerdings noch 36 Jahre warten. 1997 verhandelte das Landgericht Stendal die Todesschüsse auf den westdeutschen Journalisten. Anhaltspunkte dafür, dass man es gezielt auf Lichtenstein abgesehen hatte, fanden sich auch in der erst Mitte der neunziger Jahre ausgewerteten Stasi-Akte nicht. Das Gericht sah es als ebenso wenig erwiesen an, dass die beiden angeklagten Schützen vorsätzlich gehandelt hatten – und sprach die früheren DDR-Grenzsoldaten frei. Daran, dass sie die Schüsse abgegeben hatten, die zum Tode führten, zweifelte es nicht. 

Lichtenstein sei, so die Erklärung, offenbar auf einen “besonders scharfgemachten Posten” getroffen. Etwa eine Woche zuvor hatte die DDR-Regierung die zunächst sehr restriktiven Vorgaben für den Schusswaffengebrauch gelockert: Nach Zuruf und Warnschuss durften nun Waffen auch gegen Flüchtende angewandt werden, sofern eine Festnahme anders nicht möglich war. 

Noch einen Tag bevor Lichtenstein in Zicherie eintraf, war es dem Treckerfahrer einer Kartoffelernte-Brigade gelungen, in den Westen zu fliehen. Die Truppe, die der Reporter Lichtenstein am 12. Oktober 1961 fotografieren wollte, stand daher unter besonderer Bewachung. Der Kompaniechef hatte den Wachposten eingeschärft: “Keiner darf durchkommen.” Womöglich hatte er damit Lichtensteins Urteil gefällt. 
Familienfeier
Familienvater: Kurt Lichtenstein sitzt im Dezember 1958 mit seinen Töchtern Elfriede und Susanne beim Adventskaffee zusammen. Am Morgen des 9. Oktober 1961 sahen die beiden Mädchen ihren Vater zum letzten Mal.



Zum Weiterlesen: 

Rainer Zunder: “Erschossen in Zicherie”. Dietz Verlag, Berlin 1993, 263 Seiten.


Quelle: Solveig Grote, einestages, Spiegel 3.8.2011