21.02.2013 · Heute erscheint Wolfgang Kraushaars Buch über den deutschen und palästinensischen Terror. Viel ist zu lernen aus diesem wichtigen Werk. Von LORENZ JÄGER
Als ich im Frühsommer 1969 Saskia in Berlin besuchte, gingen wir abends in die Diskothek „Unergründliches Obdach für Reisende“ am Fasanenplatz. Dort – viel mehr als Matratzen und eine Tanzfläche gab es nicht – traf sich die überschaubar kleine linksradikale Welt; es war der bevorzugte Ort für jene, die sich „Haschrebellen“ nannten oder „Schwarze Ratten“ oder „Blues“ und ein halbes Jahr später „Tupamaros Westberlin“. Man spielte das Lied „In A Gadda Da Vida“ von Iron Butterfly, Stroboskope mit Lichtblitzen erzeugten einen Rausch auch ohne die Droge, deren Schwaden sich durch den Raum verbreiteten. Mit den „Reisenden“ waren ja, für die Eingeweihten lesbar, Leute auf einem Trip gemeint.
Irgendwann zog es uns wieder in die milde Nacht. Vor dem Lokal sah ich Dieter Kunzelmann, den mein Bruder schon ein paar Jahre zuvor in München besucht hatte; dieser habe seinen Adepten vom Bett aus lange Vorträge gehalten, erzählte er mir. Und Georg von Rauch war auch da.
Georg von Rauch
Ein Polizeiwagen näherte sich sehr langsam der Diskothek. Und nun gerieten Kunzelmann und Rauch in eine Art Kriegstanz, der Erstere eher wie ein Rumpelstilzchen, Rauch aber sportlich, graziös; fast wie ein Baseballspieler, nur viel schneller, warf er Steine auf das Polizeiauto, Kunzelmann auch, beide kicherten und lachten. Ich kann nicht sagen, dass ich die Aktion „abgelehnt“ hätte; nur wusste ich in diesem Augenblick, dass es sich um Menschen handelte, bei denen die Funktion des Realitätsprinzips ausgefallen war. Der Polizeiwagen entfernte sich so langsam, wie er gekommen war, bald hatten jedoch die „Wannen“, gesicherte und größere Mannschaftswagen der Polizei, das kleine Viertel dichtgemacht. Saskia und ich kamen aber ohne Probleme durch die Kontrollen.
Ausweitung der Terrorzone
Wenn ich in Wolfgang Kraushaars Buch die Planungsnotizen Georg von Rauchs lese, die er in der Haft zur Sprengung der Olympischen Spiele abgefasst hatte, finde ich diese Szene potenziert wieder. „Bei der Fahnenhissung fallen die ersten Schüsse. Wenn die Polizei schießt, schießen wir zurück. Wir haben alle Waffen… Nach dem Sturm auf das Olympiadorf herrscht Chaos in der Stadt. Überall werden neue Kommunen gebildet.“
Kraushaars Buch „Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel? München 1970: über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus“, aus dem wir bereits einen Auszug abgedruckt haben, handelt von der Zusammenarbeit deutscher und palästinensischer Terrorgruppen. Hier liefen zwei Bewegungen aufeinander zu, und ihre Wege mussten sich kreuzen. Die PLO, zunächst als Instrument ägyptischer Außenpolitik gegründet, suchte nach der Niederlage der arabischen Staaten im Sechs-Tage-Krieg von 1967 nach neuen Wegen. Der Partisanenkrieg schloss den Terrorismus ein und vor allem die Ausweitung seiner Zone nach Europa. Anfang 1969 hatte Arafat von der al Fatah die Führung der PLO übernommen.
Die Anschlagsserie von 1970
Gleichzeitig aber war bei jenen deutschen Gruppierungen, die aus der Konkursmasse der Außerparlamentarischen Opposition einen „bewaffneten Kampf“ in den „Metropolen“ organisieren wollten, der lateinamerikanische Weg à la Che Guevara keine Option mehr, an die man hätte andocken können. Auch der Vietnam-Krieg, der für die Mobilisierung ursprünglich so entscheidend gewesen war, bot keine operativen Anknüpfungsmöglichkeiten; die vietnamesischen Kommunisten verfolgten keine Strategie der Internationalisierung des Terrors. Blieben die Palästinenser. Zu ihnen machten sich Kunzelmann, Georg von Rauch und einige andere im Spätsommer 1969 auf, absolvierten eine militärische Grundausbildung und trafen mit Arafat und dessen Unterführer zusammen.
Den Kern des Buches bildet eine dramatisch auf wenige Tage konzentrierte Anschlagsserie im Februar 1970. Am 10.Februar scheitert die Entführung einer El-Al-Maschine auf dem Flughafen München-Riem. Am 13.Februar kommt es zu einem Brandanschlag auf das Israelitische Gemeindezentrum in der Münchner Reichenbachstraße, bei dem sieben ältere Menschen sterben; einige unter ihnen hatten den Holocaust überlebt. Ein Flugzeug, in dem eine Bombe plaziert worden ist, muss in Frankfurt notlanden. Am 21.Februar stürzt eine Maschine der Swissair auf dem Flug nach Israel bei Würenlingen ab; auch dort war eine Bombe, die durch einen Höhenmesser gezündet wurde, die Ursache. Aber das sind nur die wichtigsten der terroristischen Anschläge in München, es gab viel mehr, allerdings in kleinerem Format.
Löscharbeiten am Israelitischen Gemeindezentrum in München, 13. Februar 1970. Unter den Opfern waren auch Überlebende des Holocaust.
Episches Gesamtbild eines Krieges
Kraushaars Ausgangsfrage lautet: Ist das, was zeitlich so nahe ist, auch in der Sache verbunden, in den Akteuren, möglicherweise gar durch Absprachen? Jedenfalls in den Zielen liegt die Verbindung auf der Hand. Es ging um israelische oder, in der Münchner Reichenbachstraße, um jüdische Einrichtungen. Und die personelle Verflechtung macht Kraushaar mit ein paar Linien klar. Kunzelmanns Freundin Ina Siepmann war in Jordanien bei der al Fatah geblieben. Seine andere Freundin, Inge Presser, arbeitete im Frankfurter Büro der „
Generalunion palästinensischer Studenten“, das von Abdallah Frangi geleitet und mehr oder weniger von der Fatah kontrolliert wurde. Kunzelmanns Freund und Genosse aus der „Kommune I“, Fritz Teufel, war der Kopf der „Tupamaros München“. Zudem gab es dort noch die „Aktion Südfront“, mit den „Tupamaros“ nicht identisch, aber von ihr auch nicht trennscharf abzugrenzen. Auch hier hatte ein Freund von Kunzelmann aus der Zeit der „Subversiven Aktion“ das Sagen, Alois Aschenbrenner.
Was den furchtbaren Brand in der Reichenbachstraße angeht, so kann Kraushaar auf einen vorangegangenen Anschlag in der Nacht vom 8. auf den 9.November – ausgerechnet! – verweisen, der in Berlin auf das Jüdische Gemeindehaus verübt worden war, wobei die Bombe allerdings nicht zündete. Nach Angaben des Täters, Albert Fichter, der sich vor einigen Jahren offenbarte, hatte Kunzelmann ihm den Auftrag gegeben.
Man übertreibt nicht, wenn man Kraushaars Buch epische Qualitäten zuspricht. Nicht im Sinne des Fabulierens, sondern in dem eines Gesamtbildes. Der Gegenstand des Epos ist von jeher der Krieg. Das Panorama, das hier entrollt wird, ist umfassend, auch wenn nicht alle Einzelheiten neu sind. Noch nie wurden die Akteure und die Opfer dieser terroristischen Episode so klar in den Blick genommen, noch nie wurden die Vor- und die Nachgeschichte der Anschläge – zu der vor allem das Olympia-Attentat der palästinensischen Unterorganisation „Schwarzer September“ gehört – so umfassend analysiert.
Ein rätselhafter Brief aus Amman
Wenn es ein Krieg war, dann gilt es, sich einen Begriff von ihm zu bilden. Er war, das ist Kraushaars impliziter Schluss, Teil des Kalten Krieges. Dass Wadi Haddad, der Kontaktmann der RAF auf palästinensischer Seite, 1970 unter dem Decknamen „Nationalist“für den sowjetischen Geheimdienst KGB angeworben worden war, ist hier nur ein Glied der Beweiskette. Der damalige KGB-Chef Juri Andropow hielt in einem Bericht an den Parteichef Breschnew fest: „Die Natur unserer Beziehungen zu W. Haddad versetzt uns in die Lage, die externen Operationen der PFLP bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren, in einer für die Sowjetunion günstigen Weise Einfluss zu nehmen und…aktive Maßnahmen zur Unterstützung unserer Interessen ausführen zu lassen.“ Also war der Kalte Krieg auch heiß. Was in Europa passierte, war Teil einer sowjetischen Strategie zur Destabilisierung der westlichen, amerikanisch dominierten Welt. Man darf sich die Verschwörung nur nicht zu sehr nach dem Muster der Verschwörungstheorien vorstellen. Wie überhaupt Führung ja niemals heißt, jeden einzelnen operativen Schritt anzuordnen.
Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann
Zurück zu Kraushaars Buch. So ungemein fruchtbar seine Fragestellung ist – manchmal überzieht er die Beweiskraft seiner Quellen. Ende Dezember 1969 schrieb Ina Siepmann aus Amman an Kunzelmann: „Mein Gott wird das seltsam sein, wenn ich Euch plötzlich wiedersehe! Wenn Karl August kommt, freue ich mich ja sehr. Doch wo sind die Brandst. geblieben? Und warum steht in Deinem Brief nichts von N. aus Frankfurt?“ Kraushaar liest „Brandst.“ als mahnende Frage, wo die Brandstiftungen geblieben seien. Es ist aber – der sehr persönliche Kontext der Passage könnte es nahelegen – auch eine andere Lesart denkbar, dann wären die „Brandstifter“ (der Frankfurter Kaufhäuser) Andreas Baader und Gudrun Ensslin gemeint, die im November 1969 erst in Paris, dann in Italien abgetaucht waren.
Woher kam der Antisemitismus?
Und dass Dieter Kunzelmann den Palästinensern überhaupt erst den Gedanken eines Überfalls auf die Olympischen Spiele eingeflüstert haben könnte, wie Kraushaar es nahelegen will, überzeugt am Ende wenig. Jedenfalls dürften die PLO, al Fatah, die PFLP und wie ihre Ableger noch hießen, auf das Motiv der linksalternativen deutschen Olympia-Kritik – Ablehnung des „Leistungsdrucks“ – nur mit einem Lächeln reagiert haben. Sie waren ja regelrechte Großunternehmer des Terrors mit Flugzeugentführungen und -sprengungen, während die „Tupamaros“ über – allerdings besonders heimtückische – Brandanschläge kaum hinauskamen.
Für die Anschläge auf das Berliner Jüdische Gemeindehaus und auf das Münchner Israelitische Gemeindezentrum gibt es kein anderes Wort als Antisemitismus. Aber Kraushaars Versuch, Dieter Kunzelmann eine schon immer dagewesene antisemitische Grundhaltung nachzuweisen, führt nicht sehr weit, die Zeugen dafür sind dünn gesät. Es sind dies vor allem der eigentliche Täter des Berliner Anschlags und sein Bruder Tilman Fichter, die eigene Absichten damit verfolgt haben mögen. Wie wäre die „Kommune I“ ohne die Theorien des jüdischen Psychoanalytikers Wilhelm Reich zur sexuellen Befreiung auch nur denkbar gewesen? Was Kunzelmann sonst im Kopf hatte, war ein ins Rustikale übersetzter Herbert Marcuse. Man möchte eher von einem kumulativen Antisemitismus, einer kumulativen Niedertracht sprechen, die sich aus der Nähe zu den Palästinensern ergaben. Wenn man es denn mit den Palästinensern halten wollte, musste man darauf kommen, dass für die primitive terroristische Technik, über die man verfügte, nur jüdische Einrichtungen als Ziele zur Verfügung standen. Und die Falle, in die man sich aus freien Stücken begeben hatte, schloss sich mörderisch.
Die Unverantwortlichkeit des Täters und die Folgen
Wir haben uns daran gewöhnt, die Kontexte von mörderischer Gewalt in militaristischen oder faschistischen Einstellungen zu sehen oder auch in stalinistischen, jedenfalls traditionell totalitären oder autoritären. Hier aber sieht man, wie Untaten auch aus dem libertären, libertinistischen Hedonismus des Berliner „Blues“ hervorgehen konnten. Eine gute anthropologische Lehre.
Im bis heute ungeklärten Fall Reichenbachstraße deutet Kraushaar ziemlich klar auf einen Verdächtigen, einen damals achtzehnjährigen Lehrling. Er stand der „Aktion Südfront“ nahe. Das erinnert an Gavrilo Princip, den Schützen von Sarajevo, der 1914 noch nicht volljährig war. Ein furchtbarer Abgrund zwischen der Unverantwortlichkeit des (möglichen) Täters und den Folgen seiner Tat tut sich auf. Fritz Teufel ist tot. Noch leben aber Menschen, die womöglich Auskunft über den verheerenden Brand geben könnten. Der damalige Lehrling ebenso wie die Südfrontler Alois Aschenbrenner und Ulrich Enzensberger, der jüngere Bruder des Dichters. Ulrich Enzensberger publizierte 1998 ein bemerkenswertes und bewegendes Buch. Es heißt „Das Brennglas“ und erzählt die Lebensgeschichte von Otto Rosenberg, einem Berliner Sinto, der Auschwitz überlebt hatte, in dessen eigenen Worten. Ulrich Enzensberger, so viel ist klar,hat ein Gewissen. Wenn er etwas zu sagen hat, sollte er es jetzt tun.