Vincent von
Wroblewsky
Juden und die DDR – eine unheimliche Liebe …
Vor vielen Jahren – ich war noch Student – nutzte ich mit Freunden einige
freie Tage, um im Norden Berlins das Kloster Chorin und seine Umgebung
kennenzulernen. Wir fanden Unterkunft bei der Witwe eines Kunstschmiedes, der
vor kurzem gestorben war. Unbeholfen artikulierten wir unser Beileid, worauf
uns die Witwe zu unserem Erstaunen erzählte, warum der Tod ihres Mannes ihr
nicht nur Grund zur Trauer war. Sie hatten jung geheiratet – die große Liebe.
Beim ersten gemeinsamen Frühstück gab sie ihm das Gelbe von ihrem
weichgekochten Ei. Nicht, weil sie es nicht mochte, im Gegenteil! Einen
größeren, selbstloseren Liebesbeweis hätte sie kaum erbringen können. Und so
geschah es auch am nächsten Morgen, und am übernächsten, Tag um Tag, Woche um
Woche, ein halbes Jahrhundert lang… Nun aß die Witwe wieder ihr morgendliches
Ei, nicht nur in seiner faden weißen Unschuld, sondern mit dem schmackhaften
cholesterinreichen Eigelb, das vielleicht den Anbruch ihrer neuen Freiheit
beschleunigt hatte.
An diese Geschichte habe ich in den folgenden Jahren immer mal wieder denken
müssen – und vielleicht hat sie mich auch beeinflußt, als ich zusagte, hier vor
Ihnen zu sprechen, und ein derart vieldeutiges und verfängliches Thema wählte.
Was mich am Thema “Juden und die DDR” interessiert, die gegenseitige
Beziehung, die Wechselseitigkeit, kurz die Problematisierung des Themas, oder
auch – philosophisch gesprochen – die Bedingung der Möglichkeit einer
derartigen Beziehung.
Zahlen und Daten sind wichtig, sie sind jedoch nur die Hülle, unter der sich
komplexere Gebilde verbergen. Vielleicht ist mir deshalb die Liebe in die
Überschrift gerutscht. Gibt es denn intensivere, und zugleich problematischere,
gefährdetere, mißdeutigere Beziehungen als die der Liebe? Dieses
widersprüchliche Ensemble von mehr oder weniger asymmetrischen Erwartungen und
Bedürfnissen, von Tagträumen, Phantasien, Projektionen und Obsessionen, von
überraschenden Reaktionen, die von verdrängten frühen Prägungen mitgesteuert
werden, entzieht sich erschöpfenden rationalen Erklärungen, läßt sich nicht auf
Kausalketten reduzieren. Sie taugt deshalb für mein Thema als Metapher wie als
Paradigma.
Unheimlich war die Liebe zwischen Juden – wir werden genauer sehen, welche
besonders gemeint sind – und der offiziellen DDR nicht primär in der
umgangsprachlichen Bedeutung von “besonders groß”, so wie man von
einem “unheimlichen Glück” spricht. Es geht mir eher um die Bedeutung
von “unheimlich” als “unerwartet”,
“beunruhigend”, auch als “undurchschaubar”, “nicht zu
trauen”, so wie man von einem unheimlichen Menschen spricht, oder einer
Landschaft, in der man nicht heimisch ist.
Damit die Unheimlichkeit, die Bedrohung, die Fremdheit nicht noch größer
werde – wir wissen ja, daß sie zwar nicht die Ursache, jedoch häufig fördernder
Begleitumstand von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus ist -, will ich
versuchen, die auf den ersten Blick seltsam anmutende Beziehung von Juden und
DDR etwas vertrauter zu machen.
Beziehungen beginnen meistens mit einer ersten Begegnung, jedoch nicht immer
voraussetzungslos und ohne Vorgeschichte. So auch in unserem Fall. Wie konnten
Juden nach 1945, nach dem fast geglückten Versuch, sie aus Europa zunächst zu
vertreiben, dann in Europa (fürs erste in Europa:”… und morgen die ganze
Welt…”) als Volk umzubringen, überhaupt auf den Gedanken kommen, in
Deutschland zu bleiben (insofern sie dort überlebt hatten oder sich aus Lagern
befreit auf dessen Territorium befanden) oder gar aus der Emigration
zurückzukehren?
Helmut Eschwege beschreibt die damalige Situation: “Vorherrschender
Gedanke nach der Befreiung war bei Juden des In- und Auslandes, die letzten
Reste des jüdischen Gemeindelebens in Deutschland zu liquidieren und für die
Auswanderung der Überlebenden zu sorgen. Zutiefst saß der verständliche Haß bei
ihnen gegen ein System von Verbrechern, die das deutsche Volk in seiner Masse
hatte gewähren lassen. So wurde die Berliner Gemeinde damals
‘Liquidationsgemeinde’ genannt. Aber ganz so einfach war die ‘Liquidation’
nicht. Die Engländer hielten die Grenzen Palästinas verschlossen und die USA
ließen nur wenige neue Einwanderer in ihr Land.
Der harte Winter 1945/46 und das Erkennen des tragischen Endes ihrer
Familien ließ eine ganze Reihe von Juden den Freitod wählen. Nicht wenige
verließen verbittert Deutschland. Groß waren damals auch als Folge der
KZ-Leiden die Sterbefälle. Erwähnt werden sollte, daß das ‘American Joint
Distribution Commitee’ und die MRO’ großzügig halfen, die bitterste Not zu
lindern. Viele Juden besaßen nur die Kleidung, die sie aus dem KZ mitgebracht
hatten. Die meisten waren ausgehungert, oft krank, noch ohne Arbeit, ohne
Einkommen und nur notdürftig untergebracht.”
Ein geringer Teil dieser Überlebenden blieb in Deutschland, meistens in den
Westzonen, auf die Weiterwanderung nach Palästina oder andere Länder hoffend.
Einige Hundert jedoch blieben in der SBZ, der sowjetisch besetzten oder auch Ostzone.
Ihre Bindung zum Judentum war meistens
schon vor der Nazizeit sehr schwach gewesen. Die Überlebenschancen orthodoxer
Juden – sie waren keine Mischehen eingegangen und hatten keine christlichen
Freunde – waren minimal.
In den ersten Nachkriegsjahren kehrten jedoch Juden in die Sowjetische
Besatzungszone (SBZ) zurück – ihre Zahl wird auf etwa 3.500 geschätzt,
denen es gelungen war, Deutschland zu verlassen, nicht in erster Linie, weil
sie Juden, sondern weil sie als Sozialdemokraten, Kommunisten … Gegner der
Nazis waren. Auf diese Gruppe von Juden (und deren Nachkommen) – früh politisch
engagiert und der Religion, damit auch den Gemeinden entfremdet – will ich mich
im folgenden beschränken, der “unheimlichen Liebe” zwischen ihnen und
der SBZ bzw. ab 1949 DDR will ich nachgehen, schon deshalb, weil es mich selbst
betrifft, aber auch, weil sie innerhalb der zweifachen Minderheit – Minderheit
der Juden in Deutschland, Minderheit der Juden in der DDR innerhalb der Juden
in Deutschland – eine Mehrheit darstellen, die in der Literatur bisher kaum
wahrgenommen wurde.
Warum wechselte meine Mutter 1950 von Paris nach Berlin, unterbrach meine
zehnjährige französische Kindheit, um ihr plötzlich (und für mich unerwartet,
unvorbereitet) eine deutsche Fortsetzung zu geben? Zu Beginn des Jahrhunderts
in Berlin geboren als Tochter von Berta Wohlgemuth (Wohlgemuth – wie der Lehrer
Albrecht Dürers), diese eine geborene Rosenthal, eine in bescheidenen
Verhältnissen lebende gläubige, noch nicht völlig assimilierte Jüdin mit
osteuropäischen Vorfahren, wuchs meine Mutter nach dem frühen Tod ihres Vaters
in einem jüdischen Waisenheim auf, den Auerbachschen Anstalten, und erhielt auf
dem Sophien-Lyzeum eine gute Ausbildung – deutsche Literatur, englische und
französische Sprache absolvierte sie mit besonderem Erfolg, was ihr bald, nach
der Entlassung aus dem Hause Ullstein und der Emigration 1933, sehr nützlich
sein sollte. Ihre “Identität” war gleichermaßen jüdisch und deutsch –
vielleicht dominierte letztere mit den Jahren. Die Glanzstunden ihrer Jugend
waren die Aufführungen deutscher Klassiker an Reinhardts Deutschem Theater, und
bis in ihr hohes Alter kannte sie des “Faust” ersten Teil auswendig.
Mit viel Entbehrungen und auch Glück überlebte sie in Frankreich die Zeit der
deutschen Besatzung – anders als ihr Mann, der 1944 vierzigjährig an den Folgen
des Widerstandskampfes qualvoll starb.
Überlebt hatte sie zwar – auch dank der Hilfe großartiger Franzosen -, war
jedoch in all den Jahren die Fremde geblieben: für die deutschen Besatzer und
für das offizielle Vichy-Frankreich die zu jagende bzw. auszuliefernde Jüdin
und Kommunistin, für die “normalen” Franzosen die so oder so verdächtige
Deutsche. Und letztere war sie durch ihre Sozialisation viel zu sehr, um sich
je in Frankreich heimisch, wirklich dazugehörig fühlen zu können.
In den ersten Jahren nach der Befreiung öffneten sich ihr neben der
Möglichkeit, weiter in Frankreich zu leben, zwei Wege, für oder gegen die sie
sich zu entscheiden hatte. Vom ersten wollte 1946 Golda Meir sie überzeugen,
die spätere israelische Ministerpräsidentin, damals Leiterin eines jüdischen
Waisenheims in Toulouse, in dem meine Mutter uns provisorisch untergebracht
hatte, um vom Dorf Moutier-Rozeille in der Creuse wieder nach Paris zu kommen,
und in dem sie selbst als Schneiderin arbeitete. Die Option, die Golda Meir
anbot: eine jüdische Identität in einem eigenen Staat Israel (sie war 1946 von
dessen bevorstehender Gründung überzeugt und wirkte intensiv in diesem Sinne)
war die zionistische, die meine Mutter wie bereits vor 1933 trotz der seitdem
gemachten historischen Erfahrungen ablehnte. Die nächste Wegscheide zeigte ihr
Ende 1949 ein deutscher Genosse, der im Spanienkrieg zur Verteidigung der
Republik einen Arm verloren hatte und den sie nun in Paris traf.
Er erzählte ihr von der Gründung eines deutschen Staates mit
antifaschistisch-demokratischem Programm, geführt von Antifaschisten, ein
neues, ganz anderes Deutschland, ohne Ausbeutung, weil ohne große Kapitalisten
und ohne Junker, ohne Militarismus und natürlich ohne Rassendiskriminierung und
Antisemitismus. Sie könnte nicht nur in die Stadt ihrer Kindheit und Jugend
zurückkehren, die ihr vertraute Sprache sprechen, sondern vor allem: dort würde
sie gebraucht, da könne sie mitwirken an der Verwirklichung der Ideale, für die
sie mit vielen anderen gekämpft hatte, für die ihr Mann gestorben war, und, für
eine jüdische Mutter wohl noch wichtiger – dort hätten ihre beiden Söhne eine
Zukunft. Diese Argumente, die ihre Vergangenheit und die Zukunft ihrer
Kinder einschlossen, überzeugten sie wohl, und nach den entsprechenden
nicht leichten Vorkehrungen kehrte sie im Mai 1950 nach Berlin, in den
sogenannten demokratischen Sektor, zurück. Zwar begannen bald die
Desillusionierungen und herben Enttäuschungen, doch die Brücken nach hinten
waren abgerissen, und auf die andere deutsche Seite wechseln kam für sie erst
recht nicht in Frage: dort saßen für sie (und nicht nur für sie) die alten
Nazis; die Globke, Oberländer, Abs, Gehlen und Kompagnie waren wieder und immer
noch einflußreich, der kalte Krieg mit der wechselseitigen Legitimierung von
Antikommunismus hie, Antikapitalismus und Verkennen der tatsächlichen, wenn
auch zähen und widerspenstigen Demokratisierung dort tat ein Übriges, ein
derartiger Wechsel wäre Verrat an ihrem bisherigen Leben gewesen.
Warum habe ich diese private Geschichte so ausführlich erzählt? Zum einen
ist sie typisch für einen beträchtlichen Teil jener Juden, die aus der
Emigration in die DDR kamen und die in der Literatur bisher auch deshalb kaum
wahrgenommen wurden, weil die Jüdischen Gemeinden und die DDR-Regierung, wenn
auch aus verschiedenen Motiven, sich darin einig waren, Juden religiös zu
definieren. Zum
anderen aber erlaubt sie Verallgemeinerungen, die mit dem Oberthema unserer
Tagung enger verbunden sind, als es bisher scheinen konnte.
Wie viele Juden ihrer Generation war meine Mutter in ihrem Leben mit den
vier bis fünf “Lösungen” auf die sogenannte “Judenfrage”.
In ihrer Kindheit und Jugend hatte sie die oft im Rückblick verklärte
deutsch-jüdische Symbiose erlebt,
die gegenseitige Anerkennung und Befruchtung, Bereicherung verschiedener
Kulturen. Auch als sie sich von der Religion ihrer Vorfahren entfernt hatte,
lebte sie in Deutschland mit dem stolzen Selbstbewußtsein, einem Volk
anzugehören, ohne dessen Beitrag ihr Heimatland in jeder Hinsicht ärmer wäre,
und empfand es als Glück, in diesem Land zu leben – die Antisemiten, die
sie auch wahrnahm, waren für sie ein Teil der universellen menschlichen
Dummheit und Gemeinheit, die man auch in der besten Gesellschaft als Randerscheinung
ertragen muß.
Die zionistische Antwort – Bürger eines eigenen Nationalstaates zu werden,
um nicht in einem fremden Nationalstaat den alltäglichen Beleidigungen und
Erniedrigungen und gelegentlich, vor allem in Krisenzeiten, den Launen der Geschichte,
das heißt den Brutalitäten der Rechtgeborenen und Rechtgläubigen ausgeliefert
zu sein – kam für sie nicht in Betracht. Lieber trennte sie sich von dem
Zahnarzt, mit dem sie verlobt war – einem überzeugten Zionist – als dieser
tatsächlich nach Palästina ging.
Nach tiefen ökonomischen und politischen Krisen des Landes gelang es dieser
unvermeidlichen Randerscheinung in Deutschland eine Mehrheit der Bevölkerung zu
gewinnen und – zunächst erfolgreich – blutige Lösungen anzubieten: angefangen
bei der “Reinheit” des eigenen Blutes (das Beispiel des ehemaligen
Jugoslawien zeigt einmal mehr, wie schnell die Reinheit des eigenen Blutes zum
Vergießen des fremden Blutes führt). Die unreine Minderheit begann ebenso wie
die mit dieser “nationalen” Lösung nicht einverstandenen politischen
Minderheiten sich in Deutschland ihres Lebens nicht mehr sicher zu sein. Für
die politische jüdische Minderheit war das schneller offensichtlich,
unpolitische Juden hielten sich, noch von der Illusion deutsch-jüdischer
Symbiose zehrend, fest an den Glauben an einen schnell vorübergehenden, in
einem zivilisierten, kulturvollen Land wie Deutschland nicht haltbaren Spuk. Im
Unterschied zu den anderen Mitgliedern ihrer Familie – zum Beispiel ihrem
Bruder, der wähnte, das ihm im Ersten Weltkrieg verliehene Eiserne Kreuz weise
ihn hinreichend als guten Deutschen aus – war meine Mutter zuerst Angehörige
der politischen Minderheit. Deshalb folgte sie 1933 meinem Vater in die
französische Emigration und kämpfte nach der Besetzung Frankreichs durch
Nazi-Deutschland an seiner Seite in der französischen Résistance.
Dieser Kampf hat auf den ersten Blick nichts mit der “Judenfrage”
zu tun. Betrachtet man jedoch die Motive näher, die wahrscheinlich viele Juden
zur kommunistischen Bewegung führten, wird der Zusammenhang zwischen ihrem
kommunistischen Engagement und der marxistischen Lösung der
“Judenfrage” erkennbar.
Marx sah bekanntlich in der Nachfolge linkshegelianischer Religionskritik
Religion als verkehrten Schein realer irdischer Verhältnisse, als falsches
Bewußtsein, das entfremdeten menschlichen Verhältnissen entspringt. Die Ursache
der vielfältigen Formen der Entfremdung des Menschen – Entfremdung von der
Natur, von seinen eigenen Produkten und von den Mitmenschen – entdeckte er
“in letzter Instanz” in den ökonomischen Verhältnissen, das heißt in
der Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Klassen, in Besitzende und
Nichtbesitzende (von Produktionsmitteln) und damit in Ausbeuter und
Ausgebeutete. Und diese Spaltung war für Marx nichts Statisches, sich immer
gleich bleibend. Im Gegenteil, in ihr sah er die Kraft, die die Geschichte
vorantrieb, bis zu seiner Zeit vorangetrieben hatte und die Widersprüche auf
den Gegensatz von Kapital und Arbeit vereinfacht hatte. Damit eröffnete sich
für ihn eine Perspektive, die vorangegangenen Geschichtsperioden versagt
geblieben war: zum ersten Mal in der Geschichte war mit dem Industrieproletariat
eine Klasse entstanden, die – anders als zuvor das Bürgertum in seinen
Revolutionen – mit ihrer Befreiung keine neue Form von Herrschaft und
Ausbeutung etablieren würde, sondern eine klassenlose Gesellschaft, frei von
Ausbeutung, in der jeder seine Fähigkeiten voll entfalten und nach seinen
Bedürfnissen leben könnte. Erst dann würden die Ideale der französischen
Revolution, die den Juden zwar die Emanzipation als Staatsbürger gebracht, sie
jedoch in das Dilemma der nationslosen nationalen Minderheit gestürzt hatte –
Wirklichkeit werden können. Dann verschwänden auch Entfremdung und trügerischer
Schein, Ausbeutung und falsches Bewußtsein.
Jetzt zeichnet sich ab, was dieser längere, wenn auch arg verkürzte Exkurs
mit unserem Thema zu tun hat, obwohl ich hier nicht die überaus fragwürdigen
Aspekte von Marx’ “Zur Judenfrage” diskutieren kann, in der er Juden
und Geld und Geld und Bourgeoisie gleichsetzt, was ihm ermöglicht, durch die
wahre Emanzipation die bürgerliche Gesellschaft in der klassenlosen und den
Juden im Menschen aufgehoben zu denken – die “Frage” ist gelöst, in
dem ihr “Gegenstand” verschwunden ist.
Für eine Bemerkung zu dieser Jugendschrift von Marx – 1843 verfaßt, 1844
veröffentlicht – sollte jedoch noch Raum sein: Als Kritik an Bruno Bauers
“Die Judenfrage” (1843) intendiert, übernimmt Marx von diesem einige
Auffassungen, die sich – gewiß nicht in bewußter Nachfolge – in der
DDR-Ideologie wiederfinden. Wie Bruno Bauer sieht auch Marx in den Juden kein
Volk, sondern “eine Sammlung von Atomen”, “eine Summe von
atomistischen Individuen”, eine “schimärische Nationalität” und
schließlich eine “Kaste”, die lediglich durch ihre Religion definiert
ist.
Auch in der DDR wurde offiziell nur von “Bürgern jüdischen Glaubens”
gesprochen – wenn es um die Opfer ging, galt allerdings die Ergänzung
“jüdischer Abstammung”, denn der Rassismus der Nazis fragte nicht
nach der Religion. Letzteres ist wahrscheinlich auch ein entscheidender Grund
für die Abweichung von dem sonst mit musterschülerhaftem Eifer kopierten
Vorbild der Sowjetunion, wo die Juden als eigene Nationalität galten. Die
Übereinstimmung zwischen Marx und Bauer macht eindringlich auf eine andere,
unerwartete Verwandtschaft aufmerksam. Bei Marx rettete die Aufhebung der
bürgerlichen Gesellschaft und des Juden diesen als Menschen und ließ ihn als
Juden verschwinden. Er war nichts als eine zeitweilige, vorübergehende, zum
Untergang verurteilte Partikularität, eine Form der Entfremdung, der es
historisch bestimmt war, in die Universalität der befreiten Menschheit
überzugehen. Sehen wir, wie Jean-Paul Sartre in seinen “Überlegungen zur
Judenfrage”, nachdem er sehr eindringlich das “Porträt des
Antisemiten” gezeichnet hat, von einem zwar gutwilligen, jedoch nicht sehr
hilfreichem Freund der Juden spricht: “Die Juden haben jedoch einen
Freund: den Demokraten. Aber das ist ein erbärmlicher Verteidiger. […] Seine
Verteidigung besteht darin, die Individuen davon zu überzeugen, daß sie in
isoliertem Zustand existieren. ‘Es gibt keine Juden’, sagt er, ‘es gibt keine
Judenfrage.’ Das bedeutet, er möchte den Juden von seiner Religion, seiner
Familie, seiner ethnischen Gemeinschaft trennen, um ihn in den demokratischen
Schmelztiegel zu stecken, aus dem er allein und nackt wieder herauskommen wird
als ein individuelles und einsames Partikel, das allen anderen Partikeln
gleicht (…) für einen selbstbewußten und stolzen Juden, der auf seiner
Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft besteht, ohne deshalb die Bande zu
verkennen, die ihn an eine nationale Kollektivität binden, besteht zwischen dem
Antisemiten und dem Demokraten kein so großer Unterschied. Jener will ihn als
Menschen vernichten, um nur den Juden, den Paria, den Unberührbaren in ihm
bestehen zu lassen; dieser will ihn als Juden vernichten, um in ihm nur den
Menschen zu bewahren, das abstrakte und allgemeine Subjekt der Menschen- und
Bürgerrechte. Noch beim liberalsten Demokraten kann man eine Spur von
Antisemitismus entdecken: er steht dem Juden feindselig gegenüber, sobald es
dem Juden einfällt, sich als Jude zu denken.”
Diese strukturelle Verwandtschaft zwischen marxistischer und
demokratisch-universalistischer Haltung findet sich in der Haltung der DDR
gegenüber den Juden wieder. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinden wurden als
religiöse Minderheit wie alle Religionsgemeinschaften in dem Maße offiziell
anerkannt und toleriert, wie sie nicht in Gegensatz zu essentials des
sozialistischen Staates gerieten, zu sogenannten Grundlagen der sozialistischen
Gesellschaft. Dagegen wäre prinzipiell nichts einzuwenden, soweit es
konsequenter Ausdruck der Trennung von Kirche und Staat war und die DDR – mit
der französischen Republik vergleichbar – in dieser Hinsicht eine modernere
Gesellschaft als die alte und neue Bundesrepublik Deutschland war. Es hatte
jedoch besondere Folgen: Beispielsweise gerieten die evangelischen Kirchen in
Konflikt zur herrschenden Militärpraxis, die eine Kriegsdienstverweigerung aus
Gewissensgründen ausschloß, oder zur staatlichen atheistischen Erziehung, und
die Jüdischen Gemeinden unterließen es, sich zur israelfeindlichen Politik zu
äußern. Ja, die jüdischen Gemeinden erfuhren sogar proportional eine wesentlich
stärkere Förderung als andere Religionsgemeinschaften – ohne erhebliche
materielle Zuschüsse hätte beispielsweise die Synagoge in Berlin nicht
restauriert und funktionsfähig gemacht werden können, hätte die koschere
Fleischerei in der Eberswalder Straße, für die der Schacher wöchentlich aus
Budapest eingeflogen wurde (und zu deren Stammkundschaft die Köche der
arabischen Botschaften gehörten) nicht arbeiten können. Das war allerdings
nicht in allen Phasen der DDR-Entwicklung so. Julius H. Schoeps faßt
verschiedene Berichte und Untersuchungen darüber zusammen: “Bis zur Zeit
des mit Todesurteilen und Hinrichtungen endenden Slánskyprozesses 1952 in der
CSSR herrschte in der DDR eine durchaus freundschaftliche Atmosphäre zwischen
den Jüdischen Gemeinden und den führenden Repräsentanten von Partei und Staat.
Durch den Slánskyprozeß und die antisemitischen Vorfälle in der Sowjetunion im
Zusammenhang mit einem angeblichen Mordkomplott jüdischer Ärzte gegen Josef
Stalin wuchs jedoch 1952/53 auch in der DDR das Mißtrauen gegenüber
Juden.” An diese Zeit habe ich einige Erinnerungen. Wir – meine Mutter,
mein Bruder und ich – lebten damals in einer gemeinsamen Wohnung mit Trautl
Feigl, die in den dreißiger Jahren jenen Feigl geheiratet hatte, der im
Außenministerium als Staatssekretär arbeitete und im Slánsky-Prozeß zu
lebenslanger Haft verurteilt wurde. Sie war über Prag nach Paris und London
(Feigl dagegen nach Palästina) emigriert. Bei ihr trafen sich regelmäßig
Reemigranten und sprachen natürlich – auch in meiner Gegenwart, vielleicht
nahmen sie an, der Dreizehnjährige würde nicht verstehen, worüber gesprochen
wurde, vielleicht wollten sie auch, daß die nächste Generation mehr erfährt als
die begrenzte Schulweisheit vorsah – über den Prozeß und die dabei
dominierenden Vorwürfe gegen die “zionistischen Agenten des
Imperialismus”. Später schenkte sie mir aus ihrer Bibliothek sowohl das in
Prag deutsch erschiene Protokoll des Slánsky-prozesses als auch, quasi als
Beigabe, die Broschüre von Hermann Matern, Mitglied des Politbüros der SED,
über “Die Lehren aus dem Slánsky-Prozeß”. Später erfuhr ich mehr über
die Hintergründe aus dem Buch Arthur Londons “Das Geständnis”, das
mir französische Freunde in der französischen Fassung in die DDR
einschmuggelten. Schoeps fährt fort:”… der Staatssicherheitsdienst
durchsuchte zahlreiche Gemeindebüros und die Privatwohnungen von Menschen, die
allein auf Grund ihres jüdischen Glaubens als “verdächtig” galten.
Jüdische Parteimitglieder wurden von ihren Aufgaben relegiert, aber auch
Personen, die den Gemeinden nicht nahestanden und schon vor 1933 Mitglied der
KPD gewesen waren, wurden aufgrund ihrer jüdischen Herkunft von hohen
Positionen in Partei und Staat ausgeschlossen, wie beispielsweise der
Gesellschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski, den man seines Amtes als
Präsident der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft enthob. Diese
Repressalien führten zur Flucht vieler führender Gemeindemitglieder und ganzer
Jüdischer Gemeinden aus der DDR in den Westen. Der Schock für die damals in der
DDR lebenden Juden war beträchtlich, schien es doch nun, als hätte sich
grundsätzlich nichts geändert, als sei die über Jahre beschworene Freundschaft
zwischen dem Staat DDR und seinen jüdischen Bürgern nichts als eine
vorgeschobene taktische Behauptung und der überwunden geglaubte Antisemitismus
in der DDR nach wie vor existent.”
Nach Stalins Tod 1953 und dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 “normalisierte” sich jedoch das
Verhältnis zwischen der DDR und den verbliebenen Juden zunehmend. Die Gemeinden
waren wieder willkommenes Aushängeschild für die demokratische und
humanistische Grundhaltung der DDR, und mehr noch für ihren antifaschistischen
Charakter, der während der gesamten DDR-Geschichte den Legitimationsboden für
diesen zweiten deutschen Staat bot. Und innerhalb der DDR-Ideologie nahmen die
Jüdischen Gemeinden ansonsten den Platz ein, den alle anerkannten
Religionsgemeinschaften einnahmen: Sie hatten ihren Platz als
Übergangserscheinung, solange sich auch die sozialistische Gesellschaft
transitorisch, als Übergang zur klassenlosen, kommunistische Gesellschaft
verstand – dann würden sie mit dem Verschwinden der Religion sich selbst
auflösen.
Und die nichtreligiösen Juden? Obwohl viele von ihnen 1952/53 und
gelegentlich auch später vom herrschenden Mißtrauen betroffen waren
– der auch mit den Herrschaftsinteressen der mit Ulbricht aus der Sowjetunion
zurückkehrten Emigranten zu tun hatte, die potentielle Konkurrenten aus der
“Westemigration” auszuschalten bestrebt waren – spielten sie in
wesentlichen Bereichen der Gesellschaft eine erhebliche Rolle. Doch das ist das
Paradoxe, das vielleicht durch die vorangegangenen Exkurse in die Ideologie, in
die Zukunftserwartungen und damit auch in die Motivationen etwas verständlicher
geworden ist: Obwohl bei vielen ohne Zweifel die jüdische Identität, wenn auch
in der Form des Bruchs, am Anfang des kommunistischen Weges stand, obwohl sie
als Kommunisten und als Juden verfolgt worden waren und gekämpft hatten,
war diese jüdische Identität von ihnen selbst so gründlich verdrängt oder
verleugnet worden, daß sie sich mit dem gesellschaftlichen Blick
identifizierten, für den es Jüdisches außerhalb des Religiösen nicht gab. Dabei
spielten sie in der DDR, im Unterschied zum westlichen Teil Deutschlands, im
Verhältnis zu ihrem Anteil in der Bevölkerung eine ungleiche größere Rolle.
In einer Broschüre vom Ende der sechziger Jahre, die die antifaschistische
Basis der DDR in Form von 95 Kurzbiographien belegen sollte, erkenne ich 17
“jüdische Herkünfte”, ohne daß auch nur bei einem darauf hingewiesen
wird.
Ja, im Gegenteil, gerade im Nichterwähnen sah die offizielle Lehrmeinung einen
Beweis für den nichtvorhandenen Antisemitismus. Gegen Ende der DDR erzählte der
Schriftsteller Stefan Hermlin in einem Artikel in der Zeitung der
Jugendorganisation FDJ, “Junge Welt”, die damals eine millionenstarke
Auflage hatte, wie ihm ein Schriftstellerkollege in einem Streitgespräch als
Beweis für den in der DDR angeblich nicht vorhandenen Antisemitismus sagte:
“Sieh’ mal, mein Sohn weiß nicht einmal, was ein Jude ist.” Auch im
fünften Jahr nach dem Ende der DDR ist das Problematische dieser Tabuisierung
(und ihrer Folgen) noch Streitgegenstand. So schreibt der Karikaturist Harald Kretzschmar:
“Jude. Das Wort war suspekt geworden durch Nazigebrauch. Und ist es noch.
Beschmutzt. Spreche ich heute, ja heute noch, mit einem x-beliebigen Menschen
in Ost oder West und erwähne das Wort, so zuckt mein Gegenüber kaum merklich
zusammen. Jeder. Deutschland nach Auschwitz.”
Wollte ich polemisieren, würde ich sagen, durch Nazigebrauch ist das Wort
Deutscher mehr beschmutzt worden, gewiß in anderer Weise, und viele in der
Welt, selbst einige in Deutschland zucken ebenfalls bei seiner Erwähnung
vielleicht kaum merklich zusammen. Doch ich will nicht polemisieren, ich
zweifle nicht an der guten Absicht von Harald Kretzschmar, noch an der
weitgehenden Richtigkeit seiner Beschreibung. Doch liegt diese bleibende
“Beschmutzung”, die unvermeidlich vom Wort, vom sprachlichen Zeichen,
auf die so bezeichnete Person übergeht, nicht auch an der langanhaltenden
Tabuisierung, Verdrängung, nur verklemmten, fast heimlichen, schamhaften
Wahrnehmung des anderen in seinem Anderssein? Obwohl es nicht in seiner Absicht
liegt, beschreibt der Karikaturist auch diese Aspekte sehr treffend und er hat
dabei das Verdienst, besonders auf die nichtreligiösen Juden aufmerksam zu
machen: “Juden in der DDR waren in ihrer Aktivität un-überhörbar,
unübersehbar, unüberlesbar. Sie wurden als Genosse oder Kollege angeredet wie
du und ich. Als Deutsche unter Deutschen, selbstverständlich. Sie waren
geachtet, die Älteren geehrt.”
Juden waren also sehr gegenwärtig – nur nicht als Juden. Vielleicht
unterschieden sie sich nicht von anderen Genossen, Kollegen, Deutschen? Waren –
siehe Sartres Demokrat – nur Menschen? Nein, auch das nicht. H. Kretzschmar
fährt fort: “Ich habe sie mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen. Für
mich als Porträtzeichner waren sie auffällig. Weniger der Nase, nebbich, nein,
des Wesens wegen. Oder des Geweses, wie der Berliner zu sagen pflegt. Meist
waren sie agil, verrieten eine komplexere Sicht auf die Dinge des Lebens.
Genossen unter ihnen legten weniger teutonische Vasallentreue an den Tag, als
den kritischen Geist der Skepsis.” Auch hier hat der Zeichner gut
beobachtet, denke ich. Das kommunistische Engagement der Juden hatte eben –
sicher auch seines Ursprungs wegen – für sie häufiger eine existentielle
Dimension, es war meistens auch in einem weiteren Erfahrungshorizont begründet,
Gründe für Opportunismus, Anpassung, Karrieredenken, Zynismus waren bei ihnen
seltener bestimmend (das konnte man vor 1989 oft nur vermuten: ein großer
Vorteil der “Wende” war es, daß die wendigen Anpasser, denen es unter
jedem Regime nur um das private Eigeninteresse geht, als “Wendehälse”
plötzlich sichtbar wurden – nicht zu verwechseln mit wirklichem Umdenken, das gemeinhin
mehr Mühe kostet und häufig auch vor November 1989 einsetzte). Die größere
Konsequenz des Engagements heißt nicht, sie hätten nur gute Rollen gespielt. H.
Kretzschmar nennt viele Namen aus Wissenschaft, Kunst, Politik, Medien, er
spricht über Dissidenten (“Abweichler” in der DDR-Sprache) und
besonders Linientreue. Meiner Ansicht nach hat beides auch gleiche Ursprünge
und es war die durch Biographie und Charakter, Temperament etc. jeweils
verschiedene Weise, die “Sache”, die man als Alternative zu einer
Welt verschiedenster Diskriminierungen, sozialer und eben auch der der Rasse
gewählt hatte, ernst zu nehmen.
Ich gehe auf den Artikel von H. Kretzschmar, der “unser jüdisches
Erbe” betrachtet – das Possessivpronom bezeichnet dabei als Subjekt DDR-Bürger,
denen ihr Land auch heute nicht einfach nur und vor allem ein totalitärer
Unrechtsstaat gewesen ist – und die DDR gegen den Vorwurf verteidigt, sie sei
antisemitisch gewesen, “die SED-Diktatur” hätte “Juden
unterdrückt”, so ausführlich ein, weil dieser wohlwollende Blick von außen
so relevant ist für ein anderes Erbe, für das des (scheinbaren) völligen
Aufgehens der kommunistischen nichtreligiösen Juden in die DDR-Gesellschaft und
für dessen ausschließlich positive Bewertung. Er schreibt zum Beispiel:
“Die von außen und nun nachträglich geübte Schelte am DDR-Umgang mit dem
Thema reduziert sich leider auf den Aspekt des rein religiösen Lebens. Das
geschieht in seltsamer, beinahe heuchlerisch zu nennender Verkennung der
Emanzipierung von Menschen zu aufgeklärten Humanisten und Sozialisten. Ich habe
die Integration jüdischer Elemente in die deutsche Kultur immer als
imponierende geistige Steigerung empfunden. Und genau dies wurde bei allen
Tiefschlägen durch eine übermächtige Administration in dem verblichenen Land
weitergeübt. So wie die sozialistische Arbeiterbewegung die
Befreiungsbestrebungen dieser Menschengruppe aufnahm und ihre Geschicke einer
großen Reihe von Gründer- und Führerpersönlichkeiten dieser Herkunft
anvertraute, so entwickelt sich Geschichte auf anderer Ebene weiter. Heute und
hier.” Zuvor hatte H.K. bemerkt: “Intellektuelle, längst von ihren
religiösen Bindungen losgelöste jüdische Bürger, trugen auch in der DDR ihr
Judentum nicht auf einem Tablett vor sich her. Sie waren mit dem guten Vorsatz
nach Deutschland Ost gekommen, als Deutsche unter Deutschen, als Sozialisten
unter Sozialisten zu leben. Fanden sie ihr Glück? Das können sie nur selbst
beantworten. Warum fragt sie keiner?
Viele haben in aufopferungsvoller
Arbeit ihren Idealen gelebt. Aber es gab genauso Enttäuschung, Anpassung,
Rebellion und Repression. Aber rassische Verfolgung? Undenkbar.” Es ist
(fast) wahr – rassische Verfolgung gab es in der DDR in offener, gar
offizieller Form, wie es sie in Polen, der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion
gab, keine. Allerdings gab es Friedhofsschändungen und selbst Verwüstungen (der
Friedhof der Gemeinde Adass Isroel in Berlin zum Beispiel war nach dem Krieg
noch intakt, in den achtziger Jahren jedoch, vor seiner Wiederherstellung, nur
noch eine Mischung von Trümmerfeld und Müllplatz), und wie in der Bundeswehr
gab es auch in der “Nationalen Volksarmee” – solche betont männlichen
Einrichtungen sind offensichtlich ein besonders fruchtbares Milieu –
antisemitische “Vorkommnisse”, die jedoch sorgfältig vor der Öffentlichkeit
geheimgehalten wurden.
Und selbst innerhalb der SED gab es vor allem in den fünfziger Jahren
Beispiele. Harald Kretzschmar erwähnt selbst eins – allerdings in der Absicht,
das Gegenteil zu beweisen: “Der Parteiausschluß der Genossen Wieland
Herzfelde und John Heartfield 1951 bis 1956 war nicht rassistisch, vielmehr
politisch motiviert: Sie leisteten der Idiotenthese vom kosmopolitischen
Formalismus Widerstand.” War denn das Schimpfwort vom Kosmopolitismus
nicht vor allem eine verschämte – oder sollte man nicht besser sagen
unverschämte – Form von Antisemitismus? Wer waren denn die
“Kosmopoliten”? Und natürlich gab es auch für H. Kretzschmar keine
“Judenfrage”: “Nelken hatte eine geschliffen klare Haltung zur
‘Jüdischen Frage’. Ich war Zeuge, als er dem einflußreichen Dichter Sergej
Michalkow aus Moskau vorhielt, daß es im sowjetischen Paß die Bezeichnung
‘Nationalität: Jude’ gäbe. In Deutschland gebe es nur Deutsche, und das sei gut
so.” Das Problem für die sowjetischen Juden war meines Erachtens jedoch
nicht die Registrierung ihrer Nationalität in einem Vielvölkerstaat, wo jeder
Bürger eine Nationalität hatte (übrigens unterschied auch die DDR zwischen der
Staatsbürgerschaft “DDR” und der Nationalität: war letztere jedoch
nicht selbstverständlich “deutsch”, war man also nicht von deutschen
Eltern in Deutschland geboren, und gehörte man nicht zur anerkannten
Vorzeigeminderheit der Sorben, fragte man vergeblich nach Kriterien, die der
“Nationalität” zugrunde lagen), sondern das Fehlen eines eigenen
Territoriums und Diskriminierungen wie der Numerus clausus für Juden bei der
Zulassung zum Studium.
Für wen war es gut, daß es “in Deutschland nur Deutsche gebe”? H.
Kretzschmar unterstellt selbstverständlich, daß die “Lösung vom
Judentum” für die betroffenen Juden eine Emanzipierung und nichts als das
gewesen sei, obwohl er sich auch hier widerspricht, wenn er die erschütternde
Begebenheit erwähnt, daß Anna Seghers, u.a. durch ihren Roman “Das siebte
Kreuz” jedem DDR-Schulkind bekannt, Präsidentin des
Schriftstellerverbandes der DDR und hochgeehrt, ihre Tochter bat, den
Chanukka-Leuchter vom Schreibtisch zu entfernen, wenn Leute ihr Arbeitszimmer
besichtigen kamen.
Wie war es denn letztendlich mit der Liebe zwischen der DDR und den Juden,
den Juden und der DDR? Läßt sich in wenigen Worten so etwas wie eine Bilanz
ziehen? Bei aller anfänglichen, kurzen Euphorie: die DDR bzw. ihr Vorläufer SBZ
hatte sie nicht als Juden gerufen, sondern als Kommunisten, und hat sie
zu keiner Zeit als Juden geschätzt oder gar geliebt. Im Gegenteil, sie
brachte es fertig, die anfängliche Kategorie “Opfer des Faschismus”
in “Opfer des Faschismus” und “Kämpfer gegen den
Faschismus” zu differenzieren und letzteren (höhere)
“Ehrenpensionen” zuzubilligen, wobei bei einigen anderen
“Privilegien”, die die “Antifaschistischen Komitees”
verteilten – leichterer Zugang zu Wohnungen, Autos, Kuren,
Erholungsmöglichkeiten – auch innerhalb der Kämpfer selbst unterschieden wurde:
im allgemeinen waren die Funktionäre der Partei, des Staatsapparates, die
Nationalpreisträger und ähnliche wichtige “Persönlichkeiten”
“gleicher” als die einfachen “Kämpfer” der Basis. Und
selbst in der “Zentralen Leitung des Komitees der antifaschistischen
Widerstandskämpfer in der DDR” gab es niemanden, der für die besondere
Geschichte, die besonderen Interessen, die besonderen Probleme ehemaliger
sozialdemokratischer, bürgerlicher, konservativer, christlicher oder jüdischer
Widerstandskämpfer zuständig gewesen wäre, oder gar für ehemalige Deserteure,
Euthanasieopfer, Sinti und Roma, Homosexuelle… Die Einheitspartei mit
ihrer Einheit und Geschlossenheit reproduzierte sich auf allen Ebenen,
in allen Bereichen der Gesellschaft, und usurpierte auch die Vergangenheit. Die
späte Liebe zu den Jüdischen Gemeinden – besonders 1988 – wurde nicht nur von
“üblen Verleumdern und Feinden der DDR” mit dem Wunsch Erich
Honeckers in Verbindung gebracht, als Krönung seiner außenpolitischen Anerkennung
– nach seinem würdigen Empfang in Bonn 1987 – in den USA empfangen zu werden.
Und die Liebe auf Seiten der areligiösen, kommunistischen Juden? Sie hatten
meistens vor der Gründung der DDR die “Loslösung” vom Judentum, seine
mehr oder weniger schmerzhafte Verdrängung als Mitgift in den Ehebund mit der
kommunistischen Bewegung eingebracht, je nach Charakter und Biographie (was
sicher nicht ganz getrennt werden kann) stellten sie hohe Ansprüche an den
daraus hervorgegangenen Partner DDR, sahen ihn deshalb besonders kritisch, oder
waren besonders nachsichtig, verständnisvoll für seine Schwächen und Gebrechen,
litten unter diesen, fühlten sich schuldig, schämten sich oder waren trotz
seiner unübersehbaren Makel, die sie als vorübergehende banalisierten, stolz
auf ihn. In der Generation ihrer Kinder, die nicht so viele Opfer, und auch
entsprechend weniger hohe Erwartungen investiert hatten, kam häufig die
Ernüchterung und Enttäuschung schneller und gründlicher, und mitunter galt die
Treue oder Loyalität zur DDR mehr den Eltern als diesem Staat. So ist es nicht
erstaunlich, daß besonders seit der Mitte der achtziger Jahre bei der zweiten
Generation der Remigranten eine Hinwendung zum Judentum, seltener zur Religion,
häufiger zur Tradition, zur Geschichte, zur Kultur stattfand, die von der Frage
nach der eigenen Identität dominiert wurde. Sie erkannten, daß ihre Eltern sich
gezwungen gesehen hatten, zu unauthentischen Juden zu werden – um Sartres
Bestimmung aufzugreifen -, um authentische Kommunisten werden zu können, und
daß sie ihnen dadurch in diesem Punkt eine negative Erbschaft, eine Leere,
einen Mangel – gewissermaßen ein Ei ohne sein Gelbes – hinterlassen hatten.
Hatte dieses Opfer einen Sinn? Gern würde ich glauben, es sei nicht zuletzt
auch ihnen zu verdanken, daß eine in osteuropäischen Staaten und in beiden
deutschen Staaten 1990, noch vor der Vereinigung, vom Jüdischen Weltkongreß
initiierte soziologische Untersuchung zu Ergebnissen führte, die den
Auftraggeber – und nicht nur ihn – überraschte: die Prozentsätze
antisemitischer und auch israelfeindlicher Einstellungen lagen im Osten
Deutschlands deutlich unter denen Westdeutschlands, und zwar stärker bei den
jungen als bei den älteren Generationen. Und das am Ende einer totalitären
Diktatur, die eine gegen Israel geführte Außenpolitik betrieb! Ich erinnere
mich gut daran, wie meine fellows am Woodrow Wilson International Center
for Scholars in Washington D.C. im Herbst 1990 versuchten, sich diese für sie
äußerst verblüffenden Ergebnisse zu erklären. Einige wollten darin ein Ergebnis
der oppositionellen Haltung der Bevölkerung gegenüber der offiziellen Politik
sehen, andere stellten die Methode der Befragung in Frage. Allen fiel es
schwer, sich vorzustellen, daß die intensive, wenn auch oft formale, schematische,
zu allgemeine, ideologisierte und instrumentalisierte Erziehung zur
Völkerfreundschaft, zum Internationalismus, zur Solidarität, wie Schlüsselwerte
des DDR-Selbstverständnisses lauteten, auch eine positive Wirkung gehabt haben
konnte. Und daß bei allem “verordneten” Antifaschismus Literatur,
Filme, Schule und auch die persönliche Wirkung ehemaliger Widerstandskämpfer
einen Einfluß gehabt hatten, der sich in diesen Umfrageergebnissen
niederschlägt.
Und was wird aus dem Erbe, nachdem dieser schwierige Partner DDR
dahingeschieden ist? Es ist so widersprüchlich, wie dieser es selbst war. Die
tatsächliche Vereinigung von Ost und West kennt viele Hemmnisse, dauert länger,
als viele erwarteten. Doch scheint sie dort besonders gut zu verlaufen, wo man
es am wenigsten wünschen möchte: in den Kriminalitätsraten zum Beispiel hat der
Osten in fünf Jahren den Westen aufgeholt, und auch in der Fremdenfeindlichkeit
klappt der Anschluß gut, ja die Angriffe gegen Schwarze, gegen Vietnamesen
zeichnen sich im Osten oft durch besondere Brutalität aus (wobei, soweit noch
möglich, die passive oder gar Beifall bekundende Menge “normaler,
anständiger Bürger” noch erschütternder ist). Wie nicht anders zu
erwarten, geht diese dumpfe, fast immer stark alkoholisierte Gewalt mit
antisemitischen Äußerungen einher. Zur Erklärung mag man zurecht die radikale
Umbruchsituation, die sozialen und familiären Probleme, den Werte- und
Perspektivverlust und vieles mehr nennen, doch auch die Tiefen- und
Langzeitwirkung der DDR-Erziehung zur internationalen Solidarität ist durch
diese Entwicklung in Frage gestellt. Es erweist sich im Rückblick, daß die für
die DDR nicht untypische Ausländereuphorie – zu beobachten bei
“Weltfestspielen der Jugend und Studenten”, bei “Internationalen
Festivals des politischen Liedes”, bei auch spontaner, nicht “von
oben” organisierter Solidarität zum Beispiel mit Chilenen nach dem Putsch
gegen Allende im Herbst 1973 wohl teilweise aus dem gleichen Mangel gespeist
wurde, der heute bei manchen zur Gewalt führt: Es gab kein normales,
alltägliches Zusammenleben mit Ausländern, nur sehr begrenzte Erfahrungen im
Ausland, und natürlich auch keine Relativierung der eigenen Wertvorstellungen
durch anderer kulturelle Erfahrungen, sodaß die punktuellen
Begegnungsmöglichkeiten exotisch aufgewertet, ja kompensatorisch überbewertet
waren. Heute, da Konkurrenzkampf, drohender oder tatsächlicher Verlust des
Arbeitsplatzes, Verarmung, die sicher oft – angesichts des jetzt
allgegenwärtigen, jedoch unerreichbaren Reichtums – mehr empfunden als real
ist, schlägt die mangelnde Erfahrung in ihr Gegenteil um: was vor zehn Jahren
vor dem Hintergrund sozialer Sicherheit als exotischer Reiz wahrgenommen wurde,
wird heute als Bedrohung erlebt und erzeugt Angst, die sich in der Gewalt gegen
das Angsterzeugende, das mit der Ursache der Angst verwechselt wird, ihren
Ausweg sucht. Ich nehme an, die Kenntnis der konkreten Vorgeschichte zu Zeiten
der DDR vermag dabei zu helfen, solche Widersprüche und Umkehrungen besser zu
verstehen und entsprechend mit ihnen umzugehen. Und die globale Verteufelung
der DDR-Geschichte unter dem Motto “SED-Diktatur”, die Nivellierung
der Gegensätze, die in der DDR am Werke waren und mit zu ihrem Ende führten,
könnten sich gegen die Absichten der vorschnellen Interpreten kehren. Aus der
unheimlichen Liebe zwischen Juden und DDR gewänne der Antisemitismus neue
Nahrung – es genügt, die tatsächliche, im Verhältnis zu ihrer verschwindend
geringen Zahl starke Repräsentanz von Juden in verantwortlichen Stellungen der
DDR zu verallgemeinern, einseitig zu interpretieren und zu bewerten, indem man
das positive Vorzeichen, das die Beschreibung bei Harald Kretzschmar noch
hatte, umkehrt, und schon war die “SED-Diktatur” eine jüdische
Erfindung und die Nichtjuden ihr Opfer. Wie wenig eine derartige Tendenz aus
der Luft gegriffen ist (und mit dem alten antisemitischen Topos vom
Judeo-Bolschewismus zusammenfließen kann), zeigen neuere Veröffentlichungen und
ihr möglicher Gebrauch.
Möge eine gerechte, differenzierte Bewertung der Geschichte auch im Hinblick
auf die “unheimliche Liebe” zwischen Juden und der DDR einen
derartigen Mißbrauch verhindern helfen.
Friedrich-Ebert-Stiftung,
digitale Bibliothek, März 2003; http://library.fes.de/fulltext/asfo/01023004.htm