Freiheit ist ein religiöser Begriff. Wer mit dem Ziele der Freiheit Revolutionär ist, ist ein religiöser Mensch, Revolutionär sein ohne religiös zu sein, heißt mit revolutionären Mitteln andre als freiheitliche Ziele ansreben. Anders gesagt: Revolutionäre Entschlossenheit kann aus einer seelischen Not stammen, aus dem Empfinden der Unerträglichkeit von Zwang, Gesetz und Entpersönlichung – dann ist sie religiös; sie kann auch stammen aus der nüchternen Errechnung von Zweckmäßigkeit, wenn sich unter ihren Faktoren die Revolution als unumgängliches Mittel erwiesen hat – dann ist sie positivistisch. Der Positivist, – das ist der kirchliche Mensch im Gegensatz zum religiösen, der Leugner der Wildheit, des Rausches und der Utopie: der Dogmatiker und Fatalist, dem die Freiheit eine Kleinbürger-Phantasie und der Kampf ums Dasein eine Bestimmungs-Mensur scheint. Hier wird zu Revolutionären gesprochen, deren revolutionäres Ziel die Freiheit ist. Freiheit ist ein gesellschaftlicher Zustand, dessen Fundament die freiwillige Vereinbarung der Menschen zu gemeinsamer und einander ergänzender Arbeit und zur gegenseitigen Verbürgung des Lebens und seiner Güter bildet. Der gesellschaftliche Zustand der Freiheit beruht auf der Freiheit der Persönlichkeit, die Freiheit des Einzelnen aber findet ihre Grenze an der Freiheit der Gesamtheit; denn wo nicht alle Menschen frei sind, kann keiner frei sein. Das Ringen um diese Freiheit, die unvereinbar ist mit irgend welcher Art Obrigkeit, gesetzlichem Zwang, angeordneter Disziplin oder staatlicher Gewalt, ist die religiöse Idee der Anarchie. Zu ihrer Verwirklichung bedarf es der revolutionären Umwälzung der Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen, will sagen der Schaffung der materiellen Basis, auf der allein Freiheit möglich ist: das ist ökonomische Gleichheit. Wir Anarchisten sind Sozialisten, Kollektivisten, Kommunisten, nicht weil wir in der gleichmäßigen Regelungen von Arbeitsleistung und Produktenverteilung die letzte Forderung menschlicher Glückseligkeit erfüllt sähen, sondern weil uns kein Kampf um geistige Werte, um Vertiefung und Differenzierung des Lebens möglich scheint, – und eben dieser Kampf ist der Sinn der Freiheit –, solange die Menschen unter ungleichen Bedingungen geboren werden und heranwachsen, solange geistiger Reichtum in materieller Armut ertrinken, geistige und seelische Armseligkeit im Glanze erkaufter Macht und Bildung als Reichtum strahlen kann. Gleichheit hat mit dem, was heute Demokratie heißt, nicht das mindeste zu schaffen. Die Gleichheit der bürgerlichen Demokratie beschränkt sich auf die Anerkennung, daß jede zur Stimmabgabe zugelassene Person als eine Stimmeinheit zu zählen sei. Dabei ist die Mehrheit der Stimmen selbstverständlich immer der Klasse verbürgt, die durch ihre wirtschaftlichen Privilegien fast den gesamten Beeinflussungsapparat beherrscht; überdies sind aber die Institutionen, für die gewählt werden darf, ihrer Art nach nur geeignet, Bestehendes zu erhalten und zu verwalten. Mag die Mehrheit der Wähler immerhin mit revolutionären Absichten votieren, die Gewählten, welcher Programmrichtung sie auch angehören mögen, können in ihren Körperschaften niemals anders als konservativ handeln. Sozialismus und Freiheit ist auf dem Wege der Demokratie nicht zu erlangen; Demokratie aber im Sinne von Freiheit und Gleichheit ist nur auf dem Boden des restlos verwirklichten Sozialismus möglich. Diese eigentliche Demokratie, die die Herrschaft der Gesamtheit über sich selbst, das ist die Selbstbeherrschung jedes Einzelnen im Bewußtsein seiner gesellschaftlichen Mission, bedeutet, bedingt wirtschaftliche und rechtliche Gleichheit, die die Voraussetzung aller Freiheit ist. Nirgends in der Welt steht der religiöse Drang nach Freiheit tiefer im Ansehn als bei den Deutschen. Der Positivismus, als philosophisches Prinzip von dem Franzosen Comte aufgerichtet, fand seinen realen Nährboden in dem Lande, das schon den Sieg des brutalen Rationalisten Martin Luther über den glühenden Weltstürmer Thomas Münzer erlebt hatte. Das ist die ganze Geschichte Deutschlands: immer und überall zertrampelt das Schema und die Formel den lebendigen Geist, die Schulweisheit den Impuls des Inneren Wissens, die Kirche die Religion. Der stärkste Geist der deutschen Geniezeit, Goethe, imponiert den Deutschen nicht durch seine apollinische Natur, sondern durch seine robuste Lebensauffassung, und sie verehren ihn, weil er seinen phänomenalen Verstand so gut bürgerlich zu kleiden wußte und weil er den Oberlehrern die bequeme Phrase des gesättigten Appetits geliefert hat, daß, wo Gleichheit sei, keine Freiheit bestehn könne. Von den innigsten Geistern jener Zeit, Hölderlin und Jean Paul, weiß der Deutsche wenig, und warum der Versuch der Romantiker, vor den Stiefeltritten des Preußenschneids in Mythologie und Mystizismus zu flüchten, in fade Sentimentalität umschlug, um endlich vom Literatentum der Börne und Laube im Positivismus begraben zu werden – darüber machen sich die Leute keine Gedanken. Das junge Deutschland – das war literarischer Positivismus, verschärft mit Hegelei. Der Positivismus, die Philosophie der nüchternen Gegebenheiten, die letzten Endes Gelehrsamkeit mit Wirklichkeit verwechselt, und der Hegalinianismus, das uniforme Metternichtum des Geistes, dessen apodiktische Abstraktionen und dialektische Gaukeleien den Irrsinn produzieren, alles Wirkliche vernünftig zu finden, – diese beiden Denkfesseln mußten sich gleichzeitig um die Willensgelenke der Deutschen legen, um ihre beste Eigenschaft, den Kosmopolitimus, zu vernichten und an seiner Stelle im Geistigen, wie im Politischen den Zentralismus, das natonale Reglement, das „;Staatsbewußtsein“; wachsen zu lassen. Das Preußentum, das Luthertum – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der Kapitalismus Deutschland zu industrialisieren begann, gebar es aus der Banalität der konkretesten und der Verschrobenheit der abstraktesten aller Philosophien die Theorie seiner Geistverlassenheit und der in kapitalistischen Formen entbrannte Klassenkampf in Deutschland sah die Gegner auf beiden Seiten den gleichen philosophischen Strick ergreifen, – nur faßten ihn beide am entgegengesetzten Ende an. Bismarck spaltete Deutschland und schuf das zentrale Reichsgebilde mit dem Preußenkönig als Kaiser an der Spitze, so den Boden bereitend für die hemmungslose Entfaltung des kapitalistischen Besitzmonopols; Karl Marx spaltete die Arbeiter-Internationale, warf Bakunin und alle Revolutionäre hinaus, die der Selbstverantwortlichkeit des Proletariats, seinem Freiheitswillen und seiner Entschlußkraft mehr zutrauten als den Rechenkünsten festbesoldeter Revolutions-Manager und machte aus der Religion des Sozialismus die Kirche der Sozialdemokratie. Bismarck arrangierte drei Kriege, um den Agrar-, Industrie-, und Börsenkapitalisten die nötige Ellenbogenfreiheit für die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft zu schaffen; Marx schrieb eine für die Zeit ihres Entstehens meisterhafte, aber sehr professorale Analyse des Kapitals, die er mit einer von Hegel entlehnten abstrakten Philosophie garnierte, wonach der Kapitalismus die naturnotwendige Konsequenz der sich am Faden der historischen Dialektik abspulenden Menschheits-Entwicklung sei und der historische Materialismus sein Aufschwellen bis zu der Überfülle bedinge, die ihn unter Nachhilfe der unausweichlichen proletarischen Revolution von selber platzen lassen werde. Bismarck praktizierte den Obrigkeitsstaat, dessen Machtfundament von der Kommandogewalt des Unteroffiziers über den Rekruten gestützt wurde; Marx kopierte in Partei und Gewerkschaft die Disziplin und den Drill, die Subordination und Schnauzerei des Kasernenstaates und übernahm dazu von der katholischen Kirche die Unfehlbarkeit des Papstes und Avancement-Stufenfolge nach dem Grade ergebener Frömmigkeit. Bismarck endlich ordnete seinen Staat nach dem Prinzip des autoritärsten Zentralismus, wie es den Wünschen und den Interessen der ausbeutenden Bourgeoisie entsprach, und Marx proklamierte diese Organisationsform als die dem Proletariat nach der Machtergreifung ebenfalls gemäße des „;Arbeiterstaates„;. So wuchsen im neuen Deutschen Reich zwei feindliche Stämme aus derselben Wurzel, einer öden und phantasielosen Autoritätslehre; genährt von den gleichen Kräften, gedanken- und begeisterungsloser Disziplin und anspruchsvollem und gänzlich unfruchtbarem Bürokratismus; beide entschlossen, jede Konkurrenz mit allen Mitteln der Macht oder doch des Machtwillens niederzuschlagen: Bismarck den nationalen Kapitalismus anderer Länder, Marx die revolutionären Sozialisten, die weder von Marxens fatalistischer Theorie noch von Bismarcks allgemeinem Wahlrecht Gebrauch zu machen wünschten und keine Staaten zu erobern sondern alle zu zerstören trachteten, um statt ihrer die von keinen Staatsgrenzen getrennt arbeitenden Menschen nach eigenen Ratschlüssen produzieren und konsumieren zu lassen. Die peinlichste Ähnlichkeit der beiden Stämme, die in Deutschland als bismarcksche kapitalistische Staatsmacht und als marxsche doktrinäre Arbeiterbewegung zu den Sternen strebte, die ihnen nicht leuchteten, war der völlige Mangel an jeder schöpferischen Originalität, die völlige Abwesenheit aller religiösen Inbrunst, in Wesen und Ziel der völlige Verzicht auf jedwede Freiheit. Dieser Mangel, verbunden mit Anmaßung, Pedanterie, Bürokratendünkel, Paragraphenbesessenheiten und Schulmeisterei – das ist der deutsche Kujonengeist, dem die herrschende Klasse ihren stumpfsinnigen Aufstieg von gepflegter alter Kultur zur Geldmacht und einem komfortablen Stande auf dem internationalen Sklavenmarkt verdankt, und der die deutsche Arbeiterbewegung immer weiter vom Sozialismus weg auf den Weg der Resignation und zur inneren Fäulnis und Kampfunfähigkeit geführt hat. Es ist das, was ich, den ganzen Jammer unsrer Zeit umfassend, Bismarxismus nenne. Die Parallele von Bismarcks untheoretischer Praxis und Marxens unpraktischer Theorie hat schon vor 5 1/2 Jahrzehnten Michael Bakunin gezogen, der von oberflächlichen Beurteilern vielfach als Antisemit und Deutschlandfeind ausgegeben wird. Er war beides nicht und hat sich ausdrücklich dagegen verwahrt, für das Eine oder das Andere gehalten zu werden. Dennoch tobt er in seinen Polemiken immer wieder mit wütendem Haß gegen „die Deutschen“ und „die Juden“. Mögen unsere Hakenkreuz-Teutonen wissen, daß Bakunin beide Ausdrücke gebrauchte, um ein und dieselbe Eigenschaft damit zu bezeichnen, eben die, für die ich das Wort Bismarxismus vorschlage. Bakunin schimpfte auf die deutschen Juden und auf die jüdischen Deutschen und meinte den von dem Deutschen Bismarck und von dem Juden Marx in gleicher Feindschaft gegen Menschenwert und Freiheit geübten Geist der Despotie und der zentralistischen Autorität; unter diesem Gesichtspunkt identifizierte er die Begriffe Deutschtum und Judentum volständig, selbstverständlich in vollem Bewußtsein dessen, daß er damit nur eine einzige Untugend charakterisiere, für die ihm eine bestimmte Art Deutsche und eine bestimmte Art Juden repräsentativ schienen. Michael Bakunin ist nun über 50 Jahre tot. Die trostlosen Prophezeiungen, die er der proletarischen Revolution für den Fall hinterließ, daß die Bismärckerei Europa und die Marxerei die Arbeiterbewegung verseuche, sind in fürchterlichem Maße Wahrheit geworden. Aber schon neigen sich die Schatten des Untergangs über beide Infektionsgebiete. Wenn ich hier einmal das Wort von der „Todeskrise des Kapitalismus“ übernommen habe, so irrt der Genosse, der mich darum angriff, wähnend auch ich hätte mich nun der fatalistischen Ideologie des Marxismus ergeben, die die Weltgeschichte nach ehernen Gesetzen und unabhängig vom aktiven Tatwillen der Menschen in „naturnotwendiger“ Entwicklung dialektisch ihr Pensum erledigen sieht. Im Gegenteil: Ich stimme vollständig überein mit der Ansicht Gustav Landauers, daß jederzeit und überall die Beseitigung des Kapitalismus und die Aufrichtung des Sozialismus möglich ist, wenn die Menschen das Notwendige veranstalten, um die revolutionären Bedingungen dazu zu schaffen. Die „Todeskrise des Kapitalismus“ ist für mich nicht eine Erscheinung der göttlichen Vorsehung, die uns berechtigen könnte, geruhsam zuzusehen, wie jetzt das bestehende Wirtschaftssystem automatisch zusammenkrachen und an seiner Stelle ebenso gottgewollt und unausbleiblich ein neues sozialistisches und in der Reihenfolge marxistisch errechneter „Phasen“ aufblühen werde. Von dieser Krise nehme ich aber untrügliche Erscheinungen wahr, deren erste und verständlichste der Weltkrieg mit seinen für die kapitalistische Maschinerie unreparierbaren Folgen war; das Erkennen dieser Krise hat mit Fatalismus nichts zu tun, sondern verpfichtet zum Eingreifen, damit die krepierende Bestie nicht in der Agonie die Keime vernichtet, aus denen Revolution, Sozialismus und Freiheit erwachsen sollen. Das Verrecken des Kapitalismus in seiner bisherigen Form bedingt keineswegs das Entstehen des Sozialismus an seiner Stelle. Ein andrer, vielleicht besser organisierter Kapitalismus kann, wenn die revolutionären Sozialisten die Todeskrise nicht durch den Todesstoß beschleunigen, sehr wohl der Ausbeutung in veränderten Formen neue und noch erweiterte Möglichkeiten schaffen. Bleibt der Staat in irgend einer Gestalt am Leben, dann hat der Kapitalismus und mit ihm der Positivismus, das Kirchentum des Lebens, mit einem Wort der Bismarxismus freies Feld. Die Todeskrankheit des Kapitalismus ist aber zugleich die Todeskrankheit des Marxismus. Heute steht ja, zumal in Deutschland, die Arbeiterbewegung fast ausnahmslos auf dem Boden dieser fatalistischen Lehre, und Sozialdemokraten und Unabhängige, rechts- und linksbolschewistische Kommunisten, KAPisten und Unionisten aller Schattierungen sieht man sich unter Aufwand haarsträubender Rabulistik gegenseitig die Bibel des garntiert wissenschaftlichen Sozialismus, die Marxdoktrin, auslegen. Am Bibelwort selbst zu rühren, die Heilswahrheit des gesamten Marxismus anzuzweifeln, das wagt keiner von ihnen allen, das ist unter Sozialisten ein solche Verbrechen, wie bei den Bismarck-Epigonen die Verneinung der Notwendigkeit des großpreußischen Deutschen Reiches. Und siehe: die Bejahung dieser Notwendigkeit geschieht nirgends so überzeugungsvoll wie bei den sozialdemokratischen und kommunistischen Marxisten. Jene 1918/19, diese 1923: Bismarxismus auf der ganzen Linie Ist das zu verwundern? Der Marxismus – Landauer weist in seinem herrlichen „Aufruf zum Sozialismus“ nachdrücklich darauf hin – beschäftigt sich in allen seinen theoretischen Schriften nirgendwo mit dem Sozialismus, er erschöpft sich in der Analyse und Kritik des Kapitalismus. Indem er aber ausgeht von der Hegelschen Lehre der Vernünftigkeit alles Seienden und die unausweichliche Notwendigkeit der kapitalistischen Periode behauptet, ja, ihre Fortentwicklung bis zum Kulminationspunkt in die Zukunft hinein zur Grundlage seiner Revlutionslehre macht, bejaht er zunächst alle Voraussetzungen des Kapitalismus, und so bejaht er den Staat, den Zentralismus, das Autoritätsprinzip, alles, worauf der Kapitalismus ruht. Das Proletariat kann nicht zu Freiheit und Sozialismus kommen, ehe es nicht auch in der Idee vom Staat losgekommen ist. Es kann nicht vom Staat loskommen, ehe es nicht in seinem eigenen Befreiungskampf die Lehren verwirft, die die Stützen jedes Staatsglaubens sind: Autorität und Disziplin, Zentralismus und Bürokratismus, Positivismus und Fatalismus. Die Wissenschaft, sagt Bakunin, hat das Leben zu erhellen, nicht zu regieren. Führerin im Kampf sei dem revolutionären Proletariat nicht die anfechtbare Wissenschaft des Marxismus, der nicht andres ist als Bismarxismus, sondern der unanfechtbare religiöse Glaube an sein Recht und seine Kraft, der Haß gegen die Ausbeutung und der Wille zur Freiheit!
Aus „Fanal, Anarchistische Monatszeitschrift“, Jg. 1, Nr. 5, Februar 1927
Quelle