Willi Jasper, Der gläserne Sarg – Erinnerungen an 1968 und die deutsche „Kulturrevolution“, Matthes & Seitz, Berlin 2018
Am 3. Februar 2023 ist der 1945 geborene Willi Jasper gestorben. Anstatt eines gewöhnlichen Nachrufs soll hier eine Rezension seines eigenen Rückblicks in seine maoistischen Verstrickungen dienen. Er lebte als Kulturwissenschaftler und Publizist in Berlin. Bis 2010 war er Professor für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Potsdam.
In „Der gläserne Sarg“ beschreibt er die Geschichte seiner maoistischen Vergangenheit, gespickt mit Deutungen der deutschen und chinesischen Geschichte. Im Alter von 21 Jahren kommt er 1966 aus der westdeutschen Provinz in die damalige Frontstadt Berlin, um dort an der FU Germanistik und Politologie zu studieren. Er stolpert hinein in die bereits unruhige Studentenszene. Erste sit-ins haben schon stattgefunden, wie auch studentische Demos in der Stadt gegen imperialistische Einmischungen der Westmächte in Ländern der Dritten Welt, wie im Kongo und besonders in Vietnam. Kaum ist Jasper da, im Folgejahr wird im Zusammenhang mit den Protesten gegen den Besuch der US-Marionette Reza Pahlavi, dem Shah von Persien, der Germanistikstudent Benno Ohnesorg von der Polizei hinterrücks ermordet. Jasper identifiziert sich schnell mit den Protesten. Als dann ein weiteres Jahr später der große und bedeutende Internationale Vietnamkongress stattfindet und kurze Zeit später Rudi Dutschke angeschossen wird, nimmt er Teil an Bemühungen, die Proteste in maoistische Bahnen zu lenken. Er wird einer der führenden Funktionäre einer Gruppe, die meint, in die Schuhe der KPD der Vornazizeit schlüpfen zu können, völlig außer Acht lassend, dass diese Partei in der BRD vom Verfassungsgericht 1956, also drei Jahre nach Stalins Tod und dem Beginn des Tauwetters, verboten worden und in der DDR zur SED mutiert war.
Was oder wer Jasper dazu überzeugt haben mag, Kommunist sein zu wollen, bleibt unklar. Er ist eben in einer Menge sozusagen mitgeschwommen, wie er dann nach dem schließlichen Misserfolg seiner Minipartei sich offenbar ebenso umstandslos in die publizistische und akademische Gesellschaft einbringen konnte. Die authentische KPD wurde verboten, weil sie sich nicht von dem Ziel der von Marx proklamierten „proletarischen Diktatur“ distanzieren wollte oder konnte, die maoistische Imitat-KPD dagegen wurde von den Behörden toleriert, obwohl sie sich in der Folge des mörderischen Diktators Stalin sah. Solche Widersprüche gehen dem Professor völlig ab, stattdessen berichtet er, wie er mit seinen Genossen 1977 von der KPChinas in Peking und Schanghai empfangen wurde, um teilzuhaben an der Politik, die sich an der „Theorie der drei Welten“ orientierte. Der Mao-Nachfolger Hua Guo-feng hatte diese Mao-Linie noch zugespitzt. In Jaspers Worten: „Ein neuer Weltkrieg sei auf Dauer unvermeidlich, wobei der sowjetische Sozialimperialismus zur gefährlichsten kriegstreiberischen Supermacht erklärt wurde.“ Der Mao-KPD wurde nahegelegt, sich mit den USA zu „nationalrevolutionären Befreiungskriegen auch in Europa“ zu verbünden. Dem stimmten Jasper und Genossen ausdrücklich zu und warnten ihre Gastgeber bei ihrem Besuch in Peking vor Außenminister Genscher, der zur gleichen Zeit dort weilte, weil dieser als Entspannungspolitiker „sich niemals auf eine Front gegen Moskau einlassen“ werde. Jaspers engste „Genossen“, mit denen er zusammen 1977 das Buch „Partei kaputt“ veröffentlichte, Karl Schlögel und Bernd Ziesemer, halten sich bis heute an diese Maxime. Schlögel als renommierter Professor mit seiner Einschätzung des Ukraine-Konflikts und Ziesemer als Autor im Handelsblatt und Capital.
Abgesehen von diesen Ungereimtheiten beschreibt Jasper viele Details aus der Zeit der Apo-Revolte, so zB die Reaktion des Lehrpersonals der FU-Germanistik auf die Aktivitäten der Studiker, aber auch zu mehr oder weniger bekannten Studentenführern, wie Rudi Dutschke, Gaston Salvatore, von dem er (fälschlich) behauptet, der sei auch Maoist gewesen, Hans-Jürgen Krahl, Peter Neitzke, Jürgen Horlemann und Christian Semmler. Er berichtet auch von Yvonne Stangos und Petros Stangos, der eine Filiale seiner Partei (EKKE) im faschistischen Griechenland aufbauen sollte, dort verhaftet und gefoltert wurde. In Köln lebte Kurt Holl, ein Sympathisant der Jasperschen Partei, der von dem berüchtigten Kölner Richter, Victor Henry de Somoskeoy, verknackt wurde, daraufhin Berufsverbot erhielt und sich anschließend der Sinti-und Romasolidarität verschrieben hatte. Willi Münzenberg und Babette Gross vergisst er nicht, weil er verstehen will, warum deren Propaganda erfolgreich war und seine als Chefredakteur seiner Parteizeitung nicht. Paul Breitner wird bemüht, weil dieser gelegentlich mit Mao kokettiert hatte und deshalb Ärger mit Franz Beckenbauer erntete, der aber selbst dann nach Peking flog und dort höchstpersönlich die Fußballbegeisterung unterstützte. Die Chinesen behaupteten, schon länger als die Engländer, mindestens schon 2000 Jahre lang, ein fußballartiges Spiel (Cuju) gepflegt zu haben.
Der Streik in Hannover gegen das dortige Nahverkehrssystem, ÜSTRA, mit der Roten Punkt-Aktion beschreibt Jasper ausführlich, so auch die Besetzung des Germanisten-Seminars an der FU. Nach der Auflösung des SDS bemächtigten sich Jasper und seine maoistischen Germanistikstudenten in einer Nacht- und Nebelaktion der INFI-Bibliothek: „Mit einem Lastwagen eigneten wir uns einen großen Teil der von dem italienischen Verleger und Anarchistenfreund Giangiacomo Feltrinelli gestifteten Bibliothek der internationalen Arbeiterbewegung an.“ Diese Bibliothek hatte damals einen Wert von über 30,000 DM oder sogar mehr. Was aus dieser Bibliothek geworden ist, gibt er nicht bekannt. Er berichtet aber von der linken Theaterszene in Berlin, über Brecht, Peter Stein, Dieter Sturm und dem Theater am Halleschen Ufer, wo die Maoisten zu einem produktiven Einfluss kamen. Die insbesondere von Wolfgang Schwierdzik betriebene Aufführung der „Märzstürme“, in Anlehnung an den Arbeiteraufstand 1921 in Sachsen und Thüringen unter Max Hölz, würdigt er detailliert.
Gespannt sucht man eine Erklärung, weshalb Willi Jasper zum Maoisten wurde. Eine direkte Antwort gibt er nicht. Stattdessen zitiert er aus einem Statement des Springer/Welt-Journalisten Alan Posener, der bei seinem Germanistikstudium an der FU Berlin von der Intellektualität der dortigen maoistischen Studenten fasziniert war. Für ihn war es eher eine persönliche Entscheidung, denn eine politische, den Maoisten beizutreten. Posener meinte, sonst wäre er vielleicht bei der RAF gelandet. Wer wisse das schon, wo man bleibt, wenn man ideologisch völlig offen ist. Jasper selbst will darstellen, dass er 1969/70 im San Marino am Savigny-Platz zusammen mit Christian Semmler versucht hätte, Horst Mahler und Mitglieder der Wieland-Kommune die Idee einer Berliner Stadtguerilla auszureden. Da beweist er allerdings ein Erinnerungsvermögen, dass den Fakten nicht standhält, da Mahler und die Kommunarden keine Gemeinsamkeiten in dieser Frage verband. Für Mahler galten die Kommunarden als undisziplinierte Wirrköpfe, mit denen die von ihm angestrebte „Rote Armee Fraktion“ nicht kompatibel gewesen wäre. Mahler hatte tatsächlich einen eher autoritären Stil präferiert, weshalb er nach der Aktion der „Bewegung 2. Juni“, also dem Kidnapping des CDU-Chefs Peter Lorenz im Jahre 1975, sich weigerte den Knast zu verlassen und nach Aden ausgeflogen zu werden. Er wollte stattdessen vom „revolutionären Proletariat“ unter Führung der Jasperschen KPD befreit werden: „Vorwärts mit der KPD!“.
Ausführlich bemüht er sich die Bedeutung der chinesischen Kulturrevolution und die sich verändernde Linie der KPCH darzustellen. Die Schanghaier Kommune und Maos Witwe, die angebliche Anführerin der „Viererbande“, kommen bei ihm dabei nicht gut weg, obwohl er nähere Einsichten in deren Positionen vermissen lässt. Die sind für ihn schlicht „Linksradikale“ unter anarchistischem Einfluss. Andererseits zitiert er bürgerliche Autoren, die Sympathien für China bzw. auch für Mao Tse Tung in ihren Äußerungen zum Ausdruck gebracht haben, so Klara Blum (Wien) und Uwe Kräuter (Ex-KBW), die in Schanghai leben, Jürgen Theobald und Hans Mayer, Roxane Witke, die eine Biografie von Jiang Quing, Maos Frau, geschrieben hat.
Ende der 70iger ging es dann mit Jaspers Partei dem Ende entgegen. Man traf sich mit Rudolf Bahro und mit Leuten, die eine ökologisch ausgerichtete Partei gründen wollten auf einer „Sozialistischen Konferenz“. Rudi Dutschke habe Bahro und die „KPD-Kader“ agitiert, sich dem „Bundesverband der Grünen“ anzuschließen, was mit der Auflösung der Jasperschen Partei 1980 dann auch passierte. Der Niedergang seiner Partei sei ein Ergebnis des Niedergangs aller Linken. Erstaunlich findet er die „schnellen neuen politischen und gesellschaftlichen Karrieren zahlreicher Führungskader“ sowohl in der Partei “Die Grünen” als auch generell im Management. Am Schluss warnt er vor „inhaltslosen Parolen“ wie „Wir schaffen das“. Die würden nur „die weltweiten sozialen Ungleichheiten verschleiern und bei ärmeren Schichten der Bevölkerung zu Recht die Sorge auslösen, die Hauptlastenträger von Kriegsfolgen, ökologischen Katastrophen und Flüchtlingskrisen“ zu sein. Dem Spruch auf Herbert Marcuses Grabstein auf dem Berliner Dorotheenstädtischen Friedhof sei zuzustimmen: „Weitermachen!“
Berlin, 30.4.2023