Neukölln und Einwanderung
1. Falko Liecke, Brennpunkt Deutschland. Armut, Gewalt, Verwahrlosung. Neukölln ist erst der Anfang. Quadriga. Bastei-Lübbe-Verlag, Köln 2022. 288 Seiten
2. Heinz Buschkowski, Neukölln ist überall. Ullstein-Verlag, Berlin 2012, 400 Seiten
Zwei Politiker meines Heimatbezirks Berlin-Neukölln, einer ist Mitglied der CDU, der andere Mitglied der SPD. Beim Lesen ihrer beiden Bücher könnte man auch annehmen Liecke wäre ein Sozialdemokrat bzw. Buschkowski ein Christdemokrat. Aus meiner Sicht sind sie beide politisch kaum unterscheidbare Vertreter echter Volksparteien, wenn es so etwas überhaupt gibt. Beide waren jahrelang Stadträte und Bürgermeister bzw. stellvertretener Bürgermeister in Neukölln.
Meine Eltern und Großeltern waren alles waschechte Neuköllner und ich bin im Neuköllner Stadtteil Britz aufgewachsen und habe nach Wilmersdorf, Kreuzberg und Palm Beach seit geraumer Zeit auch im Süden Neuköllns, in Rudow, eine Bleibe. Ich habe also eine ungefähre Vorstellung von dem, worüber die beiden schreiben. Wenn in Fünfzigern bei uns zu Hause davon die Rede war, „in die Stadt“ zu fahren, dann meinten die Erwachsenen Neukölln. Charlottenburg, Wilmersdorf usw. wurden unter den Begriff Berlin subsumiert, der Rest war natürlich „der Osten“. Heutzutage ist von unserer „Stadt“ kaum noch etwas übrig, wenn man mal vom Rathaus und den „Arkaden“ absieht. Der Herrmannplatz war damals mit seinem Karstadt-Kaufhaus fast schon der Inbegriff von Luxus und Modernität. Heute ist er völlig runtergekommen, wo nur noch Alkis und Drogis rumhängen. Schlimmer noch, Kleingeister machen mobil gegen einen Großinvestor aus Österreich, der versprochen hat die alte Pracht wieder herzustellen.
Die Beschreibungen der beiden liegen 10 Jahre auseinander. Liecke beruft sich teilweise bei seinen Beschreibungen positiv auf Buschkowski, der auf seine schnoddrige Art die Missstände während seiner Amtszeit dargestellt hat. Buschkowski hat in seinem Buch Wege aufgezeigt, die beschritten werden müssten, um Abhilfe zu schaffen. Darauf geht Liecke leider nicht ein. Entweder sind Buschkowskis Ratschläge nicht befolgt worden, sind im Sande verlaufen oder dauern eben länger bis zu Erfolgen. Beide Autoren beschäftigen sich hauptsächlich mit den Folgen der ungeregelten Immigration in den Bezirk, wobei Buschkowski ein Hauptaugenmerk auf das Bildungswesen legt, von dem er meint, dass es wesentlich zur Integration der Neuankömmlinge beitragen müsse. Für Liecke sind die Clans ein Hauptanliegen.
Neukölln mit seinen 350 Tausend Einwohnern ist praktisch eine Großstadt für sich, aber hat keine fiskalische Unabhängigkeit und ist zB ohne Befugnisse auf das, was, wie und von wem in den Schulen gelehrt wird. Das obliegt der Stadt bzw dem Land Berlin. Neukölln ist also in seinen Gestaltungsmöglichkeiten sehr beschränkt. Verschärft wird die Situation dadurch, dass der Bezirk quasi zweigeteilt ist, dessen Grenze zwar keine Mauer hat, aber immerhin durch einen Kanal, den Teltowkanal, markiert ist. Nördlich des Kanals liegen die Problembereiche und südlich davon die eher normal-bürgerlichen Gebiete mit den Stadtteilen Britz, Buckow, Rudow und der Gropiusstadt. Beide Autoren beziehen sich hauptsächlich auf den Norden, wobei der Süden als Ausweichort dient für Leute, die es im Norden nicht mehr aushalten. Das ist allerdings nicht neu. Das war schon vor hundert Jahren so. Damals hatten die Stadtreformer Mies van der Rohe und Bruno Taut die Möglichkeiten mit der Hufeisensiedlung in Britz, die Möglichkeit geschaffen, Leute aus den dunklen und feuchten Hinterhöfen in die lichten Vororte zu bringen. Meine Familie hat davon profitiert. In den sechziger Jahren diente die neu gebaute Gropiusstadt demselben Zweck. Es waren also hauptsächlich soziale Gründe für die Veränderung. Die meisten dunklen Hinterhöfe wurden inzwischen abgerissen, aber es gibt neue Varianten der Verwahrlosung durch Überbelegung, Kriminalität und dergleichen, die im Zuge der ungeregelten Immigration entstanden sind. Im neuen Jahrhundert sind deshalb neue Faktoren für die Fluchtbewegung hinzugekommen, die von beiden Autoren als ethnische Segregierung beschrieben werden.
Beide Autoren sind sich einig, entschieden gegen Clan-Kriminalität auftreten zu müssen, beide sind sich auch einig, die Hartz-4-Mentalität bekämpfen zu müssen. Letztere machen sie für die Ausbreitung der Unterschicht, für das Verharren in Abhängigkeit, Opfermentalität und Deutschenhass verantwortlich. Bei Liecke nimmt die Drogenmisere breiten Raum ein. Die U-Bahnlinien 7 und 8 seien reine „Drogenlinien“. Die schlimmste Haltestelle sei der U-Bahnhof Schönleinstraße. Er fordert statt drei Druckräume (stationäre Konsumräume) für ganz Berlin mindestens drei allein für Neukölln. Als CDU-Mann nicht verwunderlich fordert er harte Repression für Dealer. Auch Cannabis will er nicht legalisiert sehen, da es allein in Neukölln jährlich „bis zu siebzig Menschen infolge ihres Cannabiskonsums wegen psychischer und Verhaltensstörungen stationär aufgenommen“ werden müssten. Desweiteren beschäftigt er sich mit Obdachlosigkeit und der aus ihr heraus resultierenden Todesfälle, für die inzwischen ein privater Verein Gedenkfeiern organisiert.
Beide Autoren schildern die Initiativen der „Stadtteilmütter“, der „Neuköllner Präventionskette“, der „Babylotsen“, „Schreibaby-Ambulanz“, die inzwischen auch in anderen Berliner Bezirken Eingang gefunden haben. Liecke macht Verwandtenehen, die erhöhte Konsanguinitätsrate, für Krankheiten und Missbildungen verantwortlich, die es in Immigrantenfamilien in höheren Prozentsätzen als in der Restbevölkerung gäbe. Beide Autoren nehmen eine spezielle Siedlung aufs Korn, die sogenannte High-Deck-Siedlung am südlichen Ende der Sonnenallee. Diese Siedlung wurde zu Zeiten des Finanzsenators Thilo Sarazin aus öffentlicher Hand an ein Privatkonsortium verkauft, weil der Staat angeblich eine nötige Renovierung nicht hätte bezahlen können. Das hat der Privateigentümer dann auch nicht gemacht und die Siedlung ist verkommen und zu einem ethnischen Sozialghetto degeneriert, in der Kriminalität endemisch ist. Die Bewohner beklauen sich einerseits nicht nur untereinander, andererseits halten sie mobmäßig gegen uniformierte und andere Außenstehende wie Feuerwehrleute zusammen. Das ist ihr Revier, da gilt nur ihr Recht des Stärkeren.
Liecke beschreibt die Ermordung zweier Polizisten durch Klan-Angehörige, den Tod von Babys durch Schütteltrauma, Bildungsmängel bei Immigranten (wesentlich kürzer als bei Buschkowsky) und die Probleme der Pandemiebewältigung. Resümierend stellt er fest, dass der Hass in den letzten drei Jahren gewachsen sei, unter anderem auch gegen ihn selbst online und offline. Dann geht es um sein Hauptthema, den Clans und der Kriminalität, die aus ihnen heraus erfolgen. Er beschreibt die Herkunft der Clans, der Al Zeins, der Remmos usw, ihre Strukturen, ihre Streitereien untereinander, die bis zu grausamen Morden gehen, ihre Geldwaschbemühungen und wie die Gesellschaft ihnen Einhalt gebieten könnte und sollte.
Buschkowsky und Liecke wenden sich gegen muslimisch-fundamentalistische Anmaßungen, wie das Recht auf Kopftuch oder Burka („Textilgefängnis“), egal wo, wann und von wem, gegen Homophobie bei Islamisten, den absurden Vorwurf der Islamophobie bei Kritik an der Religion, sowie bei der Durchsetzung gesetzlicher Normen, zB Kopftuchverbot für staatliche Amtspersonen mit Publikumsverkehr, und auch gegen grassierenden Antisemitismus unter muslimischen Milieus, wo „Jude“, neben „schwule Sau“ , „deutscher pic“ usw schon lange als Schimpfwort gilt. Buschkowsky sieht in dem Kopftuch („Bekennerutensilie“) einen „Sendboten der Geschlechterhierarchie und des Eigentumsrechts des Mannes über die Frau“. Deshalb sei im hoheitlichen Bereich der Verwaltung ein Kopftuchverbot notwendig. „Man kann sich nicht in Distanz zu einer Gesellschaftsform begeben und gleichzeitig ihr Vertreter sein.“ Die Burka würde er nicht, wie in Belgien oder Frankreich, generell verbieten, aber würde dem Rotterdamer Bürgermeister Aboutaleb folgen, der meint, Personen mit Burka würden zumeist ihre Arbeitslosigkeit damit selbst herbeiführen. Damit aber den Anspruch auf Unterstützung durch die Gemeinschaft verlieren.
Selbst nach Amtsaufgabe wurde Buschkowsky noch als „berüchtigter islamfeindlicher Demagoge“ beschimpft. Liecke nimmt dann die 2021 gegründete „Expert*innenkommission antimuslimischer Rassismus“ aufs Korn, deren Namen ein Erfolg der Islamistenlobby sei, denn die habe es „geschafft, einen reinen politischen Kampfbegriff in Politik und Verwaltung zu verankern“. Für ihn dann auch nicht verwunderlich, dass in dieser „Kommission“ mehrere Vertreter islamistischer Organisationen sitzen. Er kritisiert dabei auch die ehemalige Bürgermeisterin, Franziska Giffey und den derzeitigen Neuköllner Bürgermeister Martin Hikel (beide SPD), die Vertreter der Dar-As-Salam-Moschee hofieren, einer Moschee die den Muslimbrüdern hörig ist. Positiv hebt er hervor, dass ab Juni 2021 in Neukölln eine „Registerstelle für konfrontative Religionsbekundung“ eingerichtet worden sei.
Buschkowsky fängt mit den positiven Seiten Neuköllns an, mit der Einwanderung der Hugenotten und Hussiten ins Böhmische Dorf bzw nach Alt-Rixdorf, so hieß Neukölln noch im Kaiserreich, dem Bau der Hufeisensiedlung, dem Britzer Garten, dem Comenius-Garten, der Musikschule, den Erfindungen und Produkten, die aus Neukölln kommen und der in Neukölln von Kurt Löwenstein und Fritz Karsen angestoßenen Schulreform. Ende der 20iger Jahre sei die erste staatliche Gesamtschule Deutschlands dort entstanden. Heutzutage, also zur Buchveröffentlichung 2012, habe Deutschland nach den USA die zweitstärkste Einwandererpopulation der Erde. Der Anteil in der Bundesrepublik sei ca 20% und in Berlin 41%. Für Neukölln seien es 52% im Norden und 28% im Süden. Von den ca 130.000 Immigranten kommt ca die Hälfte aus islamischen Ländern. Bei seinen sozialen und demographischen Daten stützt er sich auf die Erhebungen von Hartmut Häußermann, dem ehemaligen SHB-Genossen aus Apo-Zeiten.
Besonderes Augenmerk setzt er auf die Auswirkungen falsch eingesetzter Transfereinkommen (Hatz-4, „Stütze“, „Sozialknatter“, „gesellschaftlicher Schnuller“) und der Klientel mit „multiplen Vermittlungshemmnissen“, umbenannt in „komplexe Profillage“, was er auf deutsch übersetzt in Menschen mit Überschuldung, Suchtproblemen, oder schlicht mit asozialem Verhalten. Wie nach ihm auch Liecke fordert er Sanktionen („Sanktionskeule“), auch finanzielle, wenn die Klientel sich nicht an die Bestimmungen hält. Er zieht auch gegen den von Grünen und partiell in Kirchen und seiner eigenen Partei verfolgten Kulturrelativismus und Parallelgesellschaften zu Felde. Was für Hinz gilt, muss auch für Kunz gelten. Die Grundsätze der deutschen Verfassung müssen von jedermann beachtet werden. „Wer sich nicht anpassen will oder kann, sollte nicht wandern. Integration und die Bereitschaft dazu sind an erster Stelle eine Bringschuld der Hinzugekommenen.“ Assimilierung ist für ihn eine mögliche Folge der Integration, aber nicht wie für Tayyip Erdogan ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Er ist für klare Ansagen und die Political Correctness sei häufig lediglich ein willkommenes „Alibi fürs Nichtstun, für das Schweigen und die Ignoranz“. Lehren zieht er von Beispielen aus Kopenhagen, Glasgow, Neapel und Rotterdam.
Er setzt sich relativ detailliert mit dem Islam auseinander, wobei er hervorhebt, dass die Aleviten, also ca 20% der türkischen Einwanderer, eine besondere, mit ihren Cem-Häusern (statt Moscheen) eher positive Rolle spielen. Positiv hierbei bezieht er sich auf den Islamexperten Johannes Kandel, Necla Kelek und Hamed Abdel-Samad, negativ auf die langjährige Berliner Auslandsbeauftragte Barbara John, die den Zuwanderern eine Opferrolle gegenüber den geschichtlich belasteten Deutschen zuerkannte. Thilo Sarazin widmet er ein eigenes Kapitel, in dem er von einem Gespräch der beiden berichtet.
Grundsätzlich spricht sich Buschkowsky für Einwanderung aus, schon aus demographischen Gründen, wobei er allerdings einen mehr pragmatischen, auf die Bedürfnisse der deutschen Gesellschaft gerichteten Kurs verlangt. In Zusammenhang mit muslimischer Einwanderung kritisiert er, dass in dieser Community vorhandene Risiko der mangelnden Bildung, Gewalterfahrung und Erziehung zur Machokultur. Wenn diese Faktoren, gepaart mit Geldmangel und religiöser Selbsterhöhung, vorherrschen, dann sei eine randständige Karriere wahrscheinlich. Er zitiert Prof. Pfeiffer, der zu dem Ergebnis kommt, „dass bei muslimischen Jugendlichen die Feindlichkeit gegenüber anderen Kulturkreisen und Verhaltensweisen oder Religionen wie zum Beispiel Deutschen, Homosexuellen oder Juden am stärksten ausgeprägt ist“. In der Kriminalitätsbekämpfung wünscht er sich unmittelbare Prozesse (das „Neuköllner Modell“), wie sie von der leider verstorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig befolgt wurden.
Im Bildungsbereich setzt er auf obligatorisch und freie Kindergärten ab 13 Monaten, da in den folgenden Monaten das Sozialverhalten entscheidend geformt werde. Die vom Berliner Senat herausgegebene Broschüre „Islam und Schule“ widerspreche unseren gesellschaftlichen Werten und versteht Schulleiterinnen, die diese Heftchen nicht verteilt, sondern in die Mülltonne geworfen haben. Gewaltexzesse erforderten die Beschäftigung von „Schwarzen Sheriffs“ in Schulen. Um Pünktlichkeit und Disziplin zu unterstützen wurden „Schulstationen“ eingeführt bestehend aus ethnisch gemischten Sozialarbeiterteams. Auch mit „Schulschwänzer-Internaten“ und einem „Mitmachzirkus“, sowie mit „Stadtteilmüttern“ wurden gute Erfolge erzielt. Mit der Schirmherrin Christina Rau wurde der Campus Rütli auf den Weg gebracht, ein inzwischen erfolgreiches Bildungszentrum. Einige Bemerkungen zu den immigrierten Sinti und Roma fügt er an, ohne jedoch auf deren historische Benachteiligungen näher einzugehen. Er verlangt für diese Volksgruppe ein spezielles Programm, für das der Senat aber kein Geld zur Verfügung stellen wolle.
Zum Schluss mahnt er die „Stadtviertel der Segregation“ (soziale Brennpunkte) nicht allein zu lassen. „Wer dies tut, versündigt sich an den Menschen, die dort leben. Er betrügt die nächste Generation um ihre Lebenschancen, er erhöht die Soziallasten, füllt die Gefängnisse und spaltet die Gesellschaft. Man kann individuell diesen Vierteln entfliehen, den gesellschaftlichen Folgen entgeht man dadurch allerdings nicht.“
Günter Langer, 1. Mai 2022