Die 68er waren die erste Generation nach der staatlich organisierten fabrikmäßigen Ermordung von Millionen Menschen. Nach Auschwitz konnten wir keine Gedichte schreiben. Geistiges Leben war nur als Revolte gegen eine Kultur denkbar, die das Volk der Dichter und Denker zu einem Volk der Richter und Henker (Tucholsky) werden ließ.
Nie waren die Deutschen tugendhafter als zu der Zeit, als sie den besseren Teil von sich in den Konzentrationslagern und in den Gaskammern der Vernichtungslager umbrachten.
Die Töchter und Söhne jener deutschen Eltern, die so stolz und heldenhaft gegen die ganze Welt Krieg geführt und nebenbei – in unterschiedlicher Beteiligung – das grauenhafteste Verbrechen gegen die Menschheit verübt hatten, das je geschehen ist, konnten kein normales Leben führen. Sie waren die Kinder gebrochener Eltern, von denen sie – wie Peter Gauweiler vorigen Donnerstag in der taz schrieb – nicht lernen konnten, was Kinder brauchen. Diese Eltern hatten nicht mehr den Mut, jene Tugenden zu lehren, die sie zum Gehorsam im Völkermord tauglich gemacht hatten.
Für uns 68er war “die Gnade der späten Geburt” die lebhaft gefühlte Verpflichtung, sich der Verantwortung zu stellen, die mit dieser Geschichte auf dem deutschen Volke lastet.
Wir haben deshalb eine Leistung vorzuweisen, auf die wir stolz sein können: Wir sind – nachdem die Feinde Deutschlands das mörderische Naziregime zerschlagen hatten – mit der Tugendhaftigkeit der Deutschen ins Gericht gegangen. Wir haben, als unser Volk zur Normalität übergehen wollte, als sei nichts gewesen, der Demokratie in Deutschland Wurzeln gegeben, indem wir uns gegen einen Staat erhoben, der die Spuren seiner eben erst überwundenen Verschmelzung mit der Hitlerbande noch an sich hatte.
Doch das ist nur die Oberfläche. Die 68er haben Tradition und Religion als weltbildprägende Mächte – mehr noch, als es vorher die Naturwissenschaften und der Rationalismus vermocht hatten – zerstört und damit unser Volk der Mündigkeit einen Schritt näher gebracht. Erst jetzt ist der Boden für die Vollendung der Aufklärung, die zugleich ihre Überwindung sein wird, bereitet.
Wir erleben dieses Resultat der Kulturrevolution von 1968 jetzt als die Hölle, denn mit Tradition und Religion ist unsere sittliche Substanz verflogen. Wir wissen nicht mehr, wer wir sind. Gottes Tod ist auch der Tod des Menschen. Wer nicht mehr an Gott glauben kann, nicht von seiner Unendlichkeit und Allgegenwart weiß, erkennt in sich und im Anderen nicht das Moment der Göttlichkeit. Der Mensch ist so etwas Verächtliches – ob er ist oder nicht ist, ist belanglos. Wozu Mensch überhaupt (Nietzsche)?
In den Medien, insbesondere im Fernsehen, stellen wir uns als eine geistlose Spezies dar. Vielen in unserer Mitte gilt ein Mensch, der nicht auch Deutscher ist, allein deshalb als hassenwert, als Objekt staatlich zu verordnender Wegschaffung. Ist er von anderer Hautfarbe, erwachen Mordgelüste.
Unsere Alten entsorgen wir in Sterbe-Ghettos.
So ist als Folge der kulturellen Defundamentalisierung das Heidentum auferstanden: Der Kulturbetrieb, der ja weitergeht wie ein Perpetuum mobile, ist nur Schein. In ihm bewegt sich nichts. Als kulturloses Volk leben wir in einer zweiten Steinzeit.
Es erfordert einige Anstrengung des Denkens, das geistige Vakuum – diesen Zustand der absoluten Negativität, die uns als Menschen und als Volk ja jetzt wirklich auszulöschen droht – als etwas Positives und in diesem Sinne als eine geschichtliche Leistung der 68er zu erkennen und anzuerkennen. Aber das Leiden an der Geistlosigkeit, der horror vacui, ist zugleich die Kraft zum Positiven. Indem sie Bewegung im Denken bewirkt, ist sie an sich schon das Positive. Die 68er sind ein Teil dieser Kraft.
Der Holocaust hat gezeigt, daß die nur erst geglaubte Wahrheit, daß Gott im Menschen gegenwärtig ist, den staatlich organisierten Mord an den europäischen Juden nicht verhindern konnte. Die Wahrheit wird erst als Wissen zu der Macht, die das Grauen überwindet, seine Wiederholung in der Geschichte unmöglich werden läßt. Dieses Wissen entsteht in der Philosophie, die gegenwärtig aus dem Weltbild der klassischen Physik entkommt und dadurch fähig wird, den Menschen als geistiges Wesen zu erfassen und damit Gott zu denken und dann auch wieder zu fühlen.
Der Kultus des Wissens ist der philosophische Diskurs. Niemand ist davon ausgeschlossen; denn wir alle sind Ebenbilder Gottes. Seien wir Krieger des Denkens! Laßt uns miteinander streiten – für Gott und Elternland!
Quelle: jf 17.4.1998