Die Juden in Deutschland sind tot, vernichtet, es gibt sie nicht mehr. Dennoch gerät man hier leicht in den Verdacht, einer zu sein. Zwar wird dieser Verdacht (noch) nicht ausgesprochen, aber er ist in sonderbaren Verknüpfungen enthalten, die ohne ihn nicht zu erklären sind. Man rechtfertigt zum Beispiel Begins klares und entschiedenes Urteil über den westdeutschen Bundeskanzler als politisch-moralische Person und wird dann prompt aufgefordert, sich vom Zionismus zu distanzieren – als schlösse die Zustimmung zu einem wahren Urteil über den Bundeskanzler dann, wenn es von einem israelischen Ministerpräsidenten gesprochen wurde, auch die Verpflichtung ein, sich über den Zionismus eine Meinung gebildet zu haben und in Fragen israelischer Politik kompetent zu sein. Weil zwischen beidem aber nicht der geringste sachliche oder logische Zusammenhang besteht, muß die Aufforderung, man solle sich zum Zionismus äußern, auf der Vermutung gründen, ein solcher Zusammenhane sei durch die Person gegeben: Wer Begin gegen die beleidigte Volksgemeinschaft in Schutz nimmt, muß ein Jude sein. Als solcher hat er die Pflicht, zu beweisen, daß er ein guter Jude ist, d.h. er muß sich vom Zionismus distanzieren. Die Bitte, den Arier-Nachweis vorzuzeigen, schwingt verstohlen auch in der bei allen linken und alternativen Versammlungen und Diskussionen mittlerweile üblichen Standard-Frage mit, wer er denn eigentlich sei. Die Frage ist leicht zu beantworten, ganz ohne Ahnenforschung: So sicher, wie man kein Jude im Sinne von vor 1933 ist – denn diese Juden existieren nicht mehr -, so sicher ist man einer im Sinne von nach 1933. Man hat nämlich damals den Begriff ‘Halbjude’ eingeführt, einen Begriff, der nach weiterer Differenzierung verlangt, und je weiter diese Differenzierung getrieben wird, desto großer wird auch die Anzahl der Juden, spätestens beim Promille-Juden ist dann aus Gründen statistischer Gesetzmäßigkeit wohl jeder dabei. Stets folgert aus dem Ideal absoluter Reinheit die deprimierende Diagnose: Totalverseuchung. Totalvernichtung inklusive der eigenen Bevölkerung, war konsequenterweise die Therapie.
Wenn also, nach Auschwitz, die Juden alle und niemand sind, gegen wen richtet sich dann der Antisemitismus in Deutschland? Er richtet sich nicht gegen jene Deutschen, die beträchtlichen inszenatorischen Aufwand betreiben müssen, um als Juden zu gelten, sondern er richtet sich gegen Israel, und die Rehabilitierung Deutschlands als Nation ist sein Zweck. Weil gerade die Linken hier weder den Nationalsozialismus noch Auschwitz begriffen haben, weil sie ersteren mit einem besonders tyrannischem Regime und letzteren mit einem besonders grausamen Blutbad verwechseln, deshalb haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben, das Unrecht, welches sie anderswo entdecken, könne Deutschland entlasten. Wenn sich die deutsche Vergangenheit schon nicht verteidigen und rechtfertigen läßt, dann soll wenigstens niemand besser sein, und schon gar nicht die Juden. Die Annahme, der Zionismus könne diesem Nachweis dienen, hat ihn für die westdeutsche Linke so außerordenthch und weit über das Maß seiner realen Bedeutung hinaus interessant gemacht. Dreihundert von der südafrikanischen Polizei in Soweto erschossene Schüler kümmern niemand. Drei erschossene Schüler in Hebron machen die westdeutsche Linke vor Empörung fassungslos. Die Unterdrückung und Verfolgung der Palästinenser durch Israel wird so genau beobachtet und so leidenschaftlich angeprangert, weil sie beweisen soll: es gibt keinen Unterschied. So merkt die westdeutsche Linke nicht, daß ihr der Unterschied zwischen Deutschland und den anderen Nationen mit jedem Versuch, ihn zu verwischen und zu tilgen, nur umso kolossaler entgegentritt. Gewiß werden die Palästinenser von Israel unterdrückt, in Einzelfällen gefoltert; dies aber unter Bedingungen, unter denen es in Deutschland längst keine parlamentarische Demokratie, keine Opposition und keine bürgerlichen Freiheitsrechte mehr gäbe. Ob im Recht oder im Unrecht -jedenfalls sind die Palästinenser für Israel eine reale Bedrohung. Hier aber hat eine fiktive Bedrohung genügt, um die ganze Bevölkerung in ein Volk von Häschern und Denunzianten zu verwandeln, damals, als man in Stammheim drei Leichen fand, und keiner der tapferen Wortführer gegen Israel hat den Mut gehabt, nach der Todesursache zu fragen.
Das Unrecht überall auf der Welt zu verurteilen ist das Recht auch der Deutschen. Moralische Empörung aber ist hier stets mit einer guten Portion Heuchelei vermischt. Empörung setzt voraus, daß man sich wundert, daß man die Dinge, die geschehen, für unglaublich hält. Viel weniger aber noch als anderswo kann es in Deutschland wundern, daß Israel seinen erklärten Gegner blutig unterdrückt. Die einzige Frage, die hier Rätsel aufgeben kann, lautet: Warum waren die Machthaber in Israel so zimperlich? Warum sorgte Israel nicht dafür, daß militante Schülerdemonstrationen in Hebron oder Ramallah nicht mehr stattfinden können? Oder ist denn, anders gefragt, auch nur ein Fall bekannt, wo Juden nach 1933 in Deutschland der Polizei eine Straßenschlacht geliefert hätten? Hat es Unruhe und Aufruhr unter denen gegeben, die in Sammellagern auf ihre Deportation warten mußten? Gab es blutige Kämpfe und Schießereien wie in Ramallah oder Hebron, die das Interesse der Weltöffentlichkeit auf sich lenkten? Man kennt die Antwort, und damit kennt man den Unterschied. Überall auf der Welt und zu allen Zeiten wurden Menschen umgebracht. Hier aber hat ein namenloses Grauen lebendige Menschen in bewegliche Tote verwandelt. Gestorben waren sie schon, bevor sie in die Lager kamen. Dort sind sie nur noch vernichtet worden. An deutschen Vernichtungslagern, und nirgends sonst, findet der Begriff Genozid seine Bestimmung: als planmäßiger, systematisch betriebener, kontinuierlicher Mord an Millionen Menschen, mit welchem sich kein anderer Zweck und keine andere Absicht verbindet als bloß die der Vernichtung.
Wenn nun, im dritten Nahostkrieg, Mitte Juni 1982, die westdeutsche Linke und allen voran die ‘taz’ von Völkermord, Holocaust und Vernichtung spricht und die Operationen der israelischen Armee damit meint, dann ist mit dieser verlogenen Zweckpropaganda weder den bedrohten Palästinensern geholfen noch erleidet die israelische Armee den redlich verdienten Schaden, sondern der eizige Nutznießer sind deutsche Nationalgefühle. Im Lichte israelischer Untaten besehen verliert, so muß es dem regelmäßigen taz-Leser scheinen, Auschwitz sowohl seine Einmaligkeit als auch seine Schreckhchkeit. Und der Verdacht muß keimen: so außergewöhnlich völkermörderisch, wie die Israelis nun sind, war Auschwitz vielleicht nur ein kleiner Fehler. So nahe liegt dieser Gedanke, daß ein taz-Kommentator namens Reinhard Hesse die Ungeheuerlichkeit fertig bringt, ihn in seine Argumentation einzuflechten, indem er ihn dementiert: “Diese schreckliche Vergangenheit (gemeint ist die NS-Zeit) noch gegenwärtig, mußte (und muß) mit aller Entschiedenheit den Deutschen entgegengetreten werden, die bei israelischen Angriffen auf arabische Nachbarn mit dem Kommentar zur Stelle waren: ‘Die hat man zu vergasen vergessen!'” (taz vom 15.6.82).
Von einer Linken, die solche Entschiedenheit eigens bekräftigen muß, weil ihr die Selbstverständlichkeit abhanden kam, daß man den zitierten Deutschen nicht entgegentreten, sondern daß man sie kräftig treten muß, hat Israel nichts zu befürchten und haben die Palästinenser nichts zu erwarten, auch keine propagandistische oder moralische Unterstützung. In Relation gesetzt zu Begriffen wie Vernichtung oder Völkermord, mit denen die Operationen der israelischen Armee im Libanon von der westdeutschen Linken benannt werden, nehmen diese in der Tat mörderischen Operationen sich eher niedlich und harm]os aus. Unter die Völkermorde subsumiert, kann der Libanonkrieg nur als Kavaliersdelikt betrachtet werden. Selbst wenn dieser Krieg 10.000 Zivilisten das Leben gekostet hat: um solche Bagatellfälle in der deutschen Geschichte zu finden, muß man weit zurückgreifen in die Vergangenheit, in d
ie gute alte Zeit, als der Führer noch Kaiser Wilhelm hieß und deutsche Schutztruppen 10.000 Hereros in Süd-West-Afrika in die Wüste trieben, sie einkesselten und dort verdursten ließen. Was die Palästinenser für die westdeutsche Linke so sympathisch macht, was ihr erlaubt, sich mit den Palästinensern zu identifizieren, ist die Annahme, die Palästinenser führten eigentlich einen Stellvertreterkrieg für genuin deutsche Wünsche, Vorstellungen und Ideale: für völkische Einheit und nationale Selbstbestimmung auf heimatlicher Scholle. Die Palästinenser firmieren gewissermaßen als der große, militante Heimatvertriebenenverband, den die Westdeutschen gerade jetzt gern hätten, den sie sich aber nicht leisten können.
Die westdeutsche Linke vergißt in ihrer Begeisterung für die Palästinenser, daß auch Israel sich als großer, militanter Heimatvertriebenenverband versteht. Sie vergißt weiter, daß aus ihrer Parteinahme für die Palästinenser logisch nur folgert, daß Palästinenser und Israelis gleiche Rechte besitzen, daß zwischen gleichen Rechten die Gewalt entscheidet, und daß Israel über die bessere Armee verfügt. Den Kampf für völkische Einheit und nationale Selbstbestimmung auf heimatlicher Scholle, zu welchem auch die westdeutsche Linke die Palästinenser ermutigt hat, kann deshalb, weil dieser Kampf ein bloßer Machtkampf ist, unter den gegebenen Voraussetzungen nur Israel gewinnen.
Weil der Antisemitismus, ob er will oder nicht, es stets mit den Mächtigen hält, kann er Israel, welches kein jüdischer Staat – eine contradictio in adjecto – sondern ein Staat ist, nicht schaden. Schaden kann er nur den Ohnmächtigen, den Staatenlosen, den Flüchtlingen, zu denen auch jene Palästinenser zählen, die jetzt verbluten, unter den mörderischen Schlägen der israelischen Armee zwar, aber auch unter den anfeuernden Rufen ihrer verantwortungslosen Führer (Kampf bis zum letzten Mann) und unter dem heuchlerischen Wehgeschrei ihrer falschen Freunde nicht nur in den arabischen Ländern, welche den Streit schürten, ohne im Ernst den Palästinensern helfen zu können, ohne es auch nur zu wollen. Denn außer den Palästinensern selber kann niemand wirklich Interesse daran haben an einem zweiten Israel im Nahen Osten -nach den Erfahrungen, die man mit dem ersten Israel machte, und die sich jetzt aufs Deprimierendste bestätigen: Wenn Menschen sich als Volk zusammenrotten und einen eigenen Staat bekommen, sind alle humanitären Traditionen und ist die ganze Leidensgeschichte vergessen. Als Patrioten fügen sie anderen zu, was sie erlitten, als sie als vaterlandslose Gesellen galten. Kein Grund zur Annahme, die Palästinenser würden sich, wenn sie Erfolg hätten, anders verhalten als die Israelis. Kein Grund freilich auch, von den Palästinensern zu erwarten oder zu verlangen, aus den Bombardements ihrer Flüchtlingslager durch die israelische Luftwaffe eine andere Lehre zu ziehen als jene Juden, die Israel gründeten: daß man vertreiben und verfolgen muß, will man nicht zu den Verfolgten und Vertriebenen zählen.