Unlängst verschreckte der pakistanische Atomphysiker Pervez Hoodbhoy westliche
Islam-Versteher mit einer provokanten
These: Muslimische Gesellschaften seien kollektiv gescheitert. Als
Begründung führte der international bekannte Gelehrte an, dass Muslime seit
tausend Jahren keinerlei bedeutende Erfindung gemacht hätten. Die muslimischen
Fanatiker der Gegenwart steckten seiner Meinung nach gedanklich immer noch im
12. Jahrhundert fest.
Alhambra in Granada
Wenn
es nur so wäre. Denn damals bot ausgerechnet ein Land ein Gegenbeispiel, das
heute zur westlichen Welt gehört: Spanien. In dessen südlichen Teilen blühte
bis zum 12. Jahrhundert noch eine Wissenskultur, die zur Weltspitze gehörte.
Mehr noch: Sie gründete sich auf die Zusammenarbeit zwischen zwei
Weltreligionen, die heute als Antipoden gelten: Islam und Judentum. Der
Niedergang von al-Andalus, wie seine Bewohner das maurische Spanien nannten,
besorgte die Reconquista. Im Zuge der christlichen Rückeroberung schwand ein
“goldenes Zeitalter” dahin.
Dass
es ab 711 hatte entstehen können, verdankte die Iberische Halbinsel dem Islam.
Von Nordafrika aus begann seine Gotteskrieger den Kampf gegen die christlichen
Westgoten, die sich in den Trümmern des Imperiums eingerichtet hatten. Es
dauerte nicht lange, da waren sie unterworfen. Damit aber wurden die Juden von
den drückenden Lasten befreit, die die Germanen ihnen zuvor aufgebürdet hatten.
Der muslimische Arzt und Philosoph Averroës (l.; 1126-1198) und sein jüdischer Kollege Maimonides (um 1135-1204)
In
den Konzilien von Toledo 589 bis 694 hatten die Westgoten-Könige mehrere
Gesetze erlassen, welche auf eine stufenweise Vertreibung der damals in ihrem
Reich lebenden Juden zielten: zunächst das Verbot der Mischehe mit Christen,
dann hohe “Judensteuern”, die jüdische Händler zahlen mussten und
schließlich eine systematische Versklavung der Erwachsenen und Verschleppung
ihrer Kinder, um sie im christlichen Glauben zu erziehen.
Algebra,
Alkalien, Alkohol
Daher
war es nicht verwunderlich, dass viele Juden die muslimischen Eroberer Anfang
des 8. Jahrhunderts als Befreier begrüßten und sie vielerorts unterstützten.
Al-Andalus entwickelte sich so in der Folgezeit zu einem Zentrum muslimischer
und jüdischer Gelehrsamkeit. Verfolgte Juden aus ganz Europa sowie aus
Nordafrika und sogar dem Orient soll es damals auf die Iberische Halbinsel
gezogen haben.
Wissenschaftliche,
oft auf antike griechische Werke aufgebaute Errungenschaften von Weltrang aus
dieser Zeit auf Gebieten der Astronomie, der Mathematik, der Philosophie, der
Chemie und der Medizin sind teilweise heute noch an arabischen Vorsilben (al-) von
Fachgebieten und Stoffen erkennbar. Etwa Algebra, Alchemie, Alkalien und
Alkohol.
Besonders das von Abd-ar Rahmann III.
gegründete Kalifat von Córdoba von 929 bis 1031 markierte eine fruchtbare
Epoche dieses “Goldenen Zeitalters” in al-Andalus. Der amerikanische Historiker David Levering Lewis behauptet
in seinem Buch “God’s Crucible” sogar, dass die Dynastie der
Omayyaden das wahre Erbe des untergegangenen, wissenschaftlich hochstehenden
römischen Imperiums verkörperten.
Diese Ommayaden waren von ihren
innermuslimischen Gegnern, den Abbasiden, 750 im Nordirak beinahe vernichtend
geschlagen worden, konnten aber in al-Andalus von 756 bis 1031 zunächst
als Emire, dann als Kalifen eine letzte Machtbasis sichern und ausbauen. Die
siegreichen Abbasiden, die von Bagdad aus als Kalifen den Orient beherrschten,
hielten es mit den Wissenschaften übrigens ähnlich. Sie folgten dem Grundsatz:
“Die Tinte des Gelehrten ist heiliger als das Blut der Märtyrer.”
Eine Devise, die heutige Fanatiker offenbar vergessen haben.
Um 710 setzte erstmals ein muslimisches Heer an der Meerenge von Gibraltar über. Ein Jahr später wurde der Felsen erobert und blieb bis 1492 in maurischer Hand.
Gegen
die Finsternis des Mittelalters
Den
gebildeten Bewohnern von al-Andalus, von dessen vielleicht sieben Millionen
Einwohnern im Jahr 1000 fünf Millionen zum Islam konvertierte Christen gewesen
sein sollen, stellt Levering Lewis die christianisierten Barbaren im Norden
gegenüber, die nach dem Fall des weströmischen Reiches Europa verwüstet hätten.
Hätten die Franken den Vorstoß der Muslime nicht gestoppt, hätten sie Europa
beizeiten durch die Finsternis des Mittelalters führen können.
Allerdings
hat dieses Bild von einem “glänzenden “Garten” (Heinrich Heine)
intellektueller Libertät Widerspruch provoziert. So bedeutete die religiöse
Toleranz der islamischen Welt stets: Duldung nach vorheriger Unterwerfung. Das
hieß, wie der britische Historiker Bernard Lewis ausführt, höhere Steuern für
Juden und Christen und optische Diskriminierung, etwa durch einen
“Zunnar”-Gürtel.
Auch
der Historiker Nikolas Jaspert kritisiert den Mythos des blühenden,
friedlichen, toleranten al-Andalus. So verbrannten die aus Nordafrika im 12.
Jahrhundert in al-Andalus einfallenden streng muslimischen Almohaden zahlreiche
Bücher. Werke großer Gelehrter aus Córdoba wie die des Muslim Ibn Ruschd und
des Juden Musa ibn Maimun, heute bekannt als Averroës und Maimonides, waren
darunter. Diese beiden Philosophen-Ärzte markierten den Höhepunkt der
muslimisch-jüdischen Hochkultur in al-Andalus. Sie mussten vor den Almohaden,
den berberischen “Bekennern der Einheit Gottes”, fliehen.
Maimonides
entzog sich den Zwangsbekehrungen der Fanatiker, indem er nach Ägypten entwich.
Averroës, der dem Islam “rein und vollständig die Wissenschaft” geben
wollte und Schriften von Aristoteles ins Arabische übersetzte, setzte sich als
alter Mann nach Nordafrika ab, wo er 1198 in Marrakesch starb. Vielleicht
beginnt mit seinem Tod tatsächlich die von Pervez Hoodbhoy beklagte Dunkelheit.
Granada: die Alhambra als letzte Bastion
Mit
dem Feuer der Inquisition
Dabei
war die “Reconquista”, die christliche Rückeroberung der Iberischen
Halbinsel, zu dieser Zeit bereits voll im Gange. Die christlichen Reiche waren
immer weiter erstarkt und hatten die Muslime im Laufe der Jahrhunderte
kontinuierlich zurückgedrängt. Schließlich wehte im Jahr 1492 wieder ein Kreuz
über Granada, 781 Jahre nachdem der Berber Tariq ibn Ziyad die Westgoten
angegriffen hatte. Nach zehnjähriger Belagerung der granadischen Festung
Alhambra ergab sich der letzte Emir von Granada dem kastilisch-aragonischen
Königspaar Ferdinand I. und Isabella II.
Muhammad XII. übergibt 1492 die Schlüssel Granadas an die Katholischen Könige Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón
Muslime
und Juden mussten in der Folge die katholischen Reiche Kastilien und Aragon
verlassen oder zum Christentum konvertieren. Und der christliche Terror der
Inquisition unter Großinquisitor Tomás de Torquemada sollte seine volle Wucht
entfalten. Besonders die konvertierten Juden litten darunter. Viele von ihnen
wurden bei den sogenannten “Autodafés” bei lebendigem Leib auf Scheiterhaufen
verbrannt, verdächtigt, immer noch dem jüdischen Glauben der Vorväter
anzuhängen.
Mit
der abgeschlossenen “Reconquista” wurden dann für Kastilien und
Aragon Geldmittel und Ressourcen frei, um einen Wendepunkt der Weltgeschichte
zu ermöglichen: Die Atlantik-Überquerung des Christoph Kolumbus nach Indien,
die ungeplant in Amerika ende sollte. Und die konvertierten Muslime,
“Moriscos” genannt, wurden letztendlich nach Nordafrika vertrieben.
So meldete König Philipp III. 1609 dem Papst im Rom: Das christliche Werk sei
getan und der Unglauben in Spanien besiegt – ein religiös-fanatischer Akt, der
eine jahrhundertealte Wissenskultur endgültig zu Grabe trug.
Die große Moschee von Córdoba hat sich in der christlichen Kathedrale erhalten, die als Siegesmonument nach der Reconquista darüber erbaut wurde.
Berber-Affen in Gibraltar, von britischen Soldaten im 18. Jahrhundert importiert
Source: Welt 23.04.13