Er log, bluffte und besaß eine ungeheure Chuzpe – Rezsö Kasztnerkaufte der Gestapo 1600 ungarische Juden ab und bewahrte sie vor der Gaskammer. Später wurde er in Israel verurteilt und von einem Fanatiker erschossen. Auf einestages verteidigt der Holocaust-Überlebende Ladislaus Löb seinen Retter.
Zwischen Held und Verräter: Rezsö Kasztner, 1906 wie Ladislaus Löb in Klausenburg geboren, war studierter Jurist und überzeugter Zionist. Als faktischer Leiter des jüdischen Rettungskomitees Wa’adah verhandelte er in Budapest mit der Gestapo über die Freilassung ungarischer Juden im Tausch gegen Gold und Devisen.
Am 25. April 1944 unterbreitete Holocaust-Organisator Adolf Eichmann dem in Budapest ansässigen jüdischen Rettungskomitee Wa’adah einen makaberen Deal: Die Gestapo versprach, eine Million Juden freizulassen, forderte dafür aber von den ungarischen Juden 10.000 Lastwagen, 200 Tonnen Kaffee, zwei Million Kisten Seife und anderes kriegswichtiges Material. Das Rettungskomitee sollte die von den Nazis zum Einsatz an der Ostfront vorgesehenen Lastwagen von den westlichen Alliierten beschaffen. Hintergrund waren Bestrebungen des SS-Chefs Heinrich Himmler, hinter dem Rücken Adolf Hitlers einen Separatfrieden mit den westlichen Alliierten zu erreichen. Die Vereinbarung kam nie zustande. Dafür kaufte Rezsö Kasztner, faktischer Wa’adah-Leiter, in monatelangen Verhandlungen mit der Gestapo 1670 ungarische Juden frei: Am 6. Dezember 1944 erreichte sein “Palästina-Transport” die neutrale Schweiz.
Nach dem Krieg sagte Kasztner zugunsten hochrangiger Nationalsozialisten aus. Er wanderte nach Israel aus und arbeitete für die sozialdemokratische Mapai-Partei. 1954 bezichtigte ihn Malchiel Grünwald, ein verbitterter rechtsextremer Einzelgänger, der Kollaboration mit den Nazis. Kasztner strengte einen Verleumdungsprozess an – wurde aber selbst schuldig gesprochen. Er habe, so der Richterspruch, “dem Teufel seine Seele verkauft”. Am 3. März 1957 wurde Kasztner von einem jüdischen Fanatiker erschossen.
In seinem jetzt erschienenen Buch versucht Ladislaus Löb, 77, der den “Palästina-Transport” selbst miterlebte, seinen Retter Kasztner zu rehabilitieren. Miteinestages sprach Löb, der nach dem Krieg in England als Professor für deutsche Sprache und Literatur arbeitete, über seine Erinnerungen und Recherchen.
einestages: Ohne Rezsö Kasztner hätten Sie Ihren zwölften Geburtstag wohl nie erlebt. Kann ein Geretteter ein ausgewogenes Sachbuch über seinen Retter schreiben?
Löb: Ich glaube nicht, dass es nur Subjektivität gibt. Bis zu einem gewissen Grad kann auch der persönlich Betroffene objektiv sein. Ich habe rund vier Jahre lang in Archiven recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen. Trotzdem bin ich natürlich nicht unvoreingenommen.
einestages: Als jüdisches Kind wuchsen Sie während des Krieges in einem Klima der Angst auf. Wie erlebten Sie den Antisemitismus in Ungarn?
Löb: Als kleiner Junge versuchte ich einmal, die Fransen der ungarischen Flagge zu erhaschen, die vor unserem Haus gehisst war. Daraufhin wurde mein Vater verurteilt – weil sein Sohn die ungarische Nation beleidigt habe. Ein anderes Mal stand er vor Gericht, weil meine an Tuberkulose erkrankte Mutter mit ihrem Husten angeblich das ungarische Volk vergiften wollte. Das war jedoch nichts gegen das, was nach der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht am 19. März 1944 passierte …
einestages: … woraufhin binnen kürzest
er Zeit 437.000 ungarische Juden in den Tod geschickt wurden. Wie kam Kasztner auf die tollkühne Idee, mit der Gestapo um Menschenleben zu feilschen?
Löb: Das jüdische Rettungskomitee Wa’adah erhielt einen Bericht aus der Slowakei, dass die Deutschen angeblich bestechlich seien. Daher trat man unmittelbar nach deren Einmarsch an Adolf Eichmann heran, um Geschäfte zu machen.
einestages: Wieso verhandelten die Deutschen überhaupt mit den ungarischen Juden, in ihren Augen doch Untermenschen?
Löb: So seltsam es klingen mag: Die Nazis glaubten ihrer eigenen Propaganda von der Allmacht des sogenannten Weltjudentums. Indem sich Kasztner als Stellvertreter jener angeblichen Weltmacht ausgab, flößte er den Deutschen gehörigen Respekt ein.
einestages: Wie kam es zu dem Deal, der 1670 Juden das Leben rettete?
Löb: Kasztner spielte auf Zeit: Wenn die Nazis unsere Gruppe gehen lassen würde, machte er Eichmann weis, würden die Alliierten dem Lastwagen-Deal zustimmen.
einestages: Die Alliierten dachten jedoch gar nicht daran. Warum nicht?
Löb: Es kam für die Alliierten nicht in Frage, dem Feind kriegswichtiges Material zu liefern, zudem sperrten sich die Russen gegen diesen Plan. Und: Was macht man mit einer Million Juden? Keiner der Alliierten hätte sie gewollt.
einestages: Pro freigelassenem Juden bot Kasztner Eichmann hundert Dollar, am Ende bestimmte Himmler ein Lösegeld von tausend Dollar pro Kopf. Woher bekam Kasztner so viel Geld?
Löb: Rund 150 Leute aus Kasztners “Palästina-Transport” waren extrem reich, sie zahlten für uns alle.
einestages: Wie schafften Sie es, in den Kreis der Auserwählten aufgenommen zu werden?
Löb: Dass ich Teil der Gruppe wurde, ist purer Zufall, gepaart mit viel Glück. Um dem Ghetto unserer Heimatstadt Klausenburg in Siebenbürgen (heute Cluj-Napoca – Anm. d. Red.) zu entrinnen, bestach mein Vater einen Polizisten und floh mit mir nach Budapest. Dort erfuhr er von Kasztners Vorhaben. Als sich herausstellte, dass einer der Leiter des Transports sein entfernter Cousin war, redete mein Vater so lange auf den Mann ein, bis dieser uns beide ins Kasztner-Lager aufnahm. Wir tauschten unsere prekäre Freiheit gegen die sichere Gefangenschaft in den Händen der Nazis ein – ein enormes Wagnis.
einestages: Der Zug in die vermeintliche Freiheit führte Sie von Budapest aus aber nicht sofort nach Palästina, sondern zunächst ins Konzentrationslager Bergen-Belsen, fünf Monate lang waren sie dort als Eichmanns Geisel interniert. Was war das Schlimmste am Lager?
Löb: Am schrecklichsten war die Ungewissheit. Wir hatten keine Ahnung, was mit uns geschehen würde. Das war weit schlimmer als Läuse und Flöhe, modrige dreistöckige Betten und der Hunger, sogar noch schlimmer als die berüchtigten allmorgendlichen Zählappelle. Mit jedem Tag sank die Hoffnung. Als der erste aus unserer Gruppe starb, waren wir noch geschockt, später wurden wir immer gleichgültiger.
einestages: In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie sich Kasztner während Ihrer Zeit im Lager vorstellten: Als eine Art Moses, der sein Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft führt. Eichmann charakterisierte seinen Verhandlungspartner hingegen als eiskalten Fanatiker, der einen perfekten Gestapo-Offizier abgegeben hätte. War Kasztner ein Held oder ein Verräter?
Löb: Der Mann war extrem ehrgeizig, konnte hervorragend lügen und bluffen und besaß eine wahnsinnige Chuzpe. Sein Neffe hat ihn später mal gefragt, ob er wirklich ein Held sei. Da antwortete Kasztner: “Jemand musste etwas tun, um Menschen zu retten. Niemand tat etwas. Da war ich halt der, der es gemacht hat. Ich war ein Held umständehalber.” Das trifft es im Kern – bei aller Arroganz, Selbstherrlichkeit und Verschlagenheit, die Kasztner an den Tag legte.
einestages: Was gab Kasztner die Kraft, mit dem Teufel zu paktieren?
Löb: Kasztner hatte den Mut der Verzweiflung. Zudem kann ich mir gut vorstellen, dass ihm das alles manchmal sogar Spaß gemacht hat. Er konnte dem Reiz nicht widerstehen, mit den Nazis auf Augenhöhe zu verhandeln und für einen großen Mann gehalten zu werden. Außerdem wollte er als Nationalheld in Israel empfangen werden.
einestages: Kasztner feilschte mit den Nazis nicht nur um Menschenleben, er genoss auch Privilegien, beispielsweise durfte er den Dienstwagen des SS-Standartenführers Kurt Becher benutzen. Wo verläuft in Ihren Augen die Grenze zwischen Kompromiss und Kollaboration?
Löb: Von einem moralischen Standpunkt aus betrachtet darf man sich natürlich nicht mit Bestien einlassen. Doch wenn es um Menschenleben geht, muss man eben Kompromisse eingehen.
einestages: Kasztner machte nicht nur Kompromisse, er verschwieg den Ungarn auch Eichmanns Vernichtungspläne, obwohl er genau wusste, was in Auschwitz geschah. Warum tat er das?
Löb: Kasztner hängte sein Wissen zwar nicht an die große Glocke, schickte jedoch Boten in die Ghettos, um die Juden zu warnen. Aber die Menschen wollten das nicht hören. Sie verschlossen die Augen, weil es etwas so Schreckliches wie die Vernichtungslager in ihren Augen einfach nicht geben durfte. Selbst wenn Kasztner Alarm geschlagen hätte: Die meisten Juden waren so demoralisiert, dass sie wohl kaum rebelliert hätten. Die Leute ließen sich nach Auschwitz schleppen – mein Vater nicht.
einestages: Nach dem Krieg sagte Kasztner in Nürnberg zugunsten des SS-Mannes Becher aus. Warum deckte er als Jude einen Kriegsverbrecher?
Löb: Monatelang hatten Kasztner und Becher fast täglich miteinander verhandelt – da ist eine gewisse Freundschaft psychologisch verständlich. Zudem glaubte Kasztner, dass Becher ihn durchschaut, aber dennoch bei Himmler ein gutes Wort für ihn und den “Palästina-Transport” eingelegt habe. Schließlich fuhr Kasztner im Januar 1945 mit Becher nach Berlin, um Juden zu retten. Kasztner war der Ansicht, Becher habe Himmler überzeugt, die Juden in einigen Konzentrationslagern, darunter Bergen-Belsen, zu verschonen.
einestages: Im Jahr 1954 wurde Kasztner in Israel verurteilt, obwohl er Hunderte Menschenleben gerettet hatte. Wieso ging man so hart mit Kasztner ins Gericht?
Löb: Zum einen war es ein politischer Prozess, in dem Kasztner dem Konflikt zwischen der sozialdemokratischen israelischen Mapai-Partei und den Revisionisten zum Opfer fiel. Kasztners Gegnern ging es darum, Mapai durch Diffamierung ihres Stellvertreters Kasztner zu schwächen. Zum anderen trieb viele Juden in Israel das schlechte Gewissen um, dem Holocaust nicht Einhalt geboten zu haben. Sie brauchten Rezsö Kasztner als Sündenbock. Indem man ihn verurteilte
, wusch man sich selbst rein.
einestages: Wie veränderte die Kasztner-Affäre die israelische Politik?
Löb: Unmittelbar nach Ende des Prozesses stürzte die sozialdemokratische Regierung. 20 Jahre später gab es keine Mapai mehr, sondern nur noch den konservativen Likud. Ein verhängnisvoller Rechtsrutsch brach sich Bahn – der bis heute das Geschehen im Nahen Osten beeinflusst.
Das Interview führte Katja Iken.
“Seine Seele dem Teufel verkauft”: Nach dem Krieg wanderte Rezsö Kasztner (Foto von 1947) nach Israel aus und arbeitete für die sozialdemokratische Mapai-Partei, unter anderem als Sprecher des Versorgungsministeriums. Nachdem ein Rechtsextremist ihn der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt hatte, strengte Kasztner einen Verleumdungsprozess an, der sich jedoch gegen ihn wendete: Er habe “seine Seele dem Teufel verkauft”, urteilte damals der Richter. Am 3. März 1957 wurde Kasztner von einem jüdischen Fanatiker vor seiner Wohnung erschossen – seine Teilrehabilitierung erlebte er nicht mehr.
Zum Weiterlesen:
Ladislaus Löb: Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Bericht eines Überlebenden, Böhlau Verlag 2010, 24,90 Euro.