Erst wurde er verhört, dann organisierte er den Exodus: Vor 60 Jahren verhalf der SED-Volkskammerabgeordnete Julius Meyer Hunderten Juden zur Flucht nach West-Berlin. Er hatte sich in der DDR vor Verfolgung sicher gefühlt – ein Trugschluss. Von Wolfgang Brenner
Die Häftlingsnummer: 1943 war Julius Meyer von den Nazis verhaftet und ins KZ gebracht worden. Nach seiner Zeit in Auschwitz und Ravensbrück hatte er auf ein besseres Leben in der DDR gehofft. Doch es kam anders.
Viele von denen, die Nationalsozialismus und Krieg überlebt hatten, hielten die DDR für das bessere Deutschland. Ein antifaschistischer Staat, gegründet unter anderem von Menschen, die unter Hitler im KZ gesessen hatten. Ein solcher Staat musste ein guter Ort sein. Erst recht für Juden.
So ähnlich wohl dachte der Jude Julius Meyer. Die Nazis hatten ihn 1943 verhaftet, sie hatten ihn erst nach Auschwitz und dann nach Ravensbrück geschickt. Dem Holocaust entronnen, glaubte er an einen Neuanfang auf deutschem Boden. In Ost-Berlin übernahm er den Vorsitz der sich langsam wieder formierenden jüdischen Gemeinde, nach der Gründung der DDR wurde er dort Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden und saß für die SED in der Volkskammer.
Dass es nach dem Tod von Millionen Juden je wieder antisemitische Kampagnen in einem deutschen Staat geben könnte, konnte sich Julius Meyer nicht vorstellen. Erst recht nicht auf dem Territorium der DDR. Ein fataler Trugschluss.
Es sollte nicht lange dauern, da wusste Julius Meyer, dass er in Ostdeutschland nicht mehr sicher war. Er nicht, und auch nicht die wenigen hundert Glaubensbrüder und -schwestern, die dort noch lebten.
Verdächtig: Julius Meyer (2. von links) hatte etliche internationale Kontakte. Die Aufnahme zeigt ihn 1951 mit einer israelischen Gewerkschaftsdelegation in Ost-Berlin. Die stalinistische DDR-Führung sah darin ein Indiz dafür, dass Meyer vom Ausland gesteuert sein könnte.
Verhör durch die eigene Partei
Anfang 1953 wurde der Volkskammerabgeordnete Meyer von der SED vor die Zentrale Parteikontrollkommission bestellt. Wirklich überraschen konnte ihn das nicht. In der Partei hatte er sich über die Jahre Feinde gemacht, weil er mit Nachdruck für ein Gesetz eingetreten war, das den Opfern des Faschismus eine Wiedergutmachung sichern sollte.
Ein Anliegen, das er etwa mit dem SED-Funktionär Paul Merker teilte, das die Parteiführung um Walter Ulbricht aber ablehnte, weil sie auf der Position beharrte, dass die Kommunisten nicht schuld am Nationalsozialismus gewesen seien und deshalb auch nicht dessen Erbe zu tragen hätten. Dafür, dass sich die Genossen eigentlich dem Antifaschismus verschrieben hatten, gebrauchten sie in ihrer diesbezüglichen Stellungnahme 1952 allerdings eine bemerkenswerte Formulierung: “Von jüdischen Kapitalisten zusammengeraubte Kapitalien” seien kein Gegenstand der Wiedergutmachung.
Meyers Befragung dauerte mehrere Stunden. Was ihn dabei am meisten verunsicherte, waren die bohrenden Fragen nach seinen Verbindungen zu einer amerikanischen Hilfsorganisation, dem American Jewish Joint Distribution Comittee, kurz: Joint. Gegründet 1914, um im Krieg bedrohte Glaubensbrüder in Europa zu unterstützen, hatte sich Joint während der Nazi-Zeit um verfolgte Juden gekümmert, Ausreisemöglichkeiten sondiert und sogar Pakete nach Theresienstadt geschickt. Nach dem Krieg war sie die wichtigste Hilfsorganisation für die Überlebenden des Holocaust in Europa und schickte Care-Pakete in die DDR.
Als Meyer nach der Befragung endlich gehen durfte, wartete
ein sowjetischer Offizier auf ihn. Auch er wollte von Meyer mehr über dessen Verbindungen zu Joint erfahren. Der Offizier ging dabei offenbar einem konkreten Verdacht nach: Er mutmaßte, dass die jüdischen Gemeinden im Ostblock über die Hilfsorganisation politische Anweisungen aus den USA bekämen.
Hilfe im Westen: Heinz Galinski, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Berlin, unterstützte vom Westteil der Stadt aus die Flucht der Juden aus der DDR. Mit ihm zusammen hatte Julius Meyer einen Evakuierungsplan entworfen. Das Foto zeigt Galinski im Februar 1953 mit jüdischen Flüchtlingen aus der DDR in seinem Büro.
Ärzteverschwörung in Moskau
Ernsthaft besorgt war Meyer schließlich, als er am 13. Januar 1953 von einer ungewöhnlichen Meldung erfuhr, die die sowjetische Nachrichtenagentur TASS verbreitete: Sowjetische Behörden hatten eine Verschwörung einflussreicher Ärzte des Kreml-Krankenhauses aufgedeckt und die Rädelsführer verhaftet. Diese Mediziner hätten ihre exponierte Position dazu genutzt, kommunistische Funktionäre durch falsche Behandlungsmethoden zu ermorden. TASS veröffentlichte sogar die Namen zweier prominenter Opfer der angeblichen Ärztebande: der bei sowjetischen Künstlern gefürchtete Stalin-Vertraute Andrej Schdanow und Politbüromitglied Alexander Schtscherbakow. Beide waren schon seit einigen Jahren tot.
Von den sieben inhaftierten Ärzten waren vier Juden, die drei anderen wurden als “verkappte Juden” bezeichnet. Angeblich hatten sie Verbindungen zu Joint. Deren Unterorganisation in der Sowjetunion hatte Stalin schon 1938 verboten, die Helfer aus dem Land geworfen, nachdem sich diese enteigneten jüdischen Händlern angenommen hatten. Nun, 1953, beschuldigte Stalin die Hilfsorganisation offen der Spionage.
Die verhafteten Professoren, so verlautete alsbald, hätten zugegeben, die Ermordung Stalins und seiner Helfer geplant zu haben. Eine landesweite Kampagne machte Stimmung gegen Juden. In der gesamten Sowjetunion weigerten sich die Menschen, sich von jüdischen Ärzten behandeln zu lassen. Vereinzelt kam es zu Übergriffen. Der Prozess wegen der sogenannten Ärzteverschwörung war für März anberaumt.
Kränze für die Toten, Diffamierungen für die Lebenden: Offiziell gab sich die DDR als antifaschistisch und nach dem Terror des Nationalsozialismus als der “bessere deutsche Staat”. Wie etwa bei der Enthüllung dieses Mahnmals am 23. April 1950 für die von den Nazis ermordeten jüdischen Menschen auf dem Friedhof in Berlin-Weißensee. Unter den Vertretern des Staates war damals auch Staatssekretär Leo Zuckermann. Im Dezember 1952 musste er aufgrund falscher Anschuldigungen erst nach Westdeutschland und schließlich nach Mexiko flüchten.
“Großmutter im Sterben”
So lange wollte Julius Meyer nicht warten. Er fürchtete, dass er bald nicht mehr auf freiem Fuß sein würde. Um Zeit zu gewinnen, ging er zum Schein auf die Forderungen der Staatssicherheit ein. Er fertigte Spitzelberichte an, hütete sich aber davor, Namen von Juden zu nennen, die Care-Pakete empfangen hatten.
Parallel traf er Verabredungen mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in West-Berlin, Heinz Galinski. Sie entwarfen einen Evakuierungsplan für die Juden in der DDR und vereinbarten eine Parole: “Großmutter im Sterben” lautete das Signal. Sobald sie diese Nachricht erreichte, sollten sich alle ausreisewilligen Juden mit ihren Angehörigen auf den Weg nach Berlin machen. Einige holte Meyer persönlich mit dem Auto in die Hauptstadt. Erstaunlicherweise ging nichts schief. Über Ost-Berlin erreichten alle Beteiligten im Februar 1953 den Westen.
Dass eine solche landesweite Aktion über die Bühne gehen konnte, ohne dass die Staatssicherheit Wind davon bekam, ist schwer vorstellbar. Zu vermuten ist eher, dass es die Politführung angesichts der historischen Belastung Deutschlands als klüger ansah, die jüdischen Mitbürger auf diese Art entkommen zu lassen, als ihnen auf Druck aus Moskau hin einen peinlichen Schauprozess machen zu müssen.
Gefährliche Position: Julius Meyer – hier während einer Protestkundgebung in der Synagoge Rykestraße in Berlin am 3. Mai 1949 – bekam Anfang 1953 erste Repressionen zu spüren. Vor der Zentralen Parteikommission musste er sich stundenlangen Befragungen stellen.
Exodus endgültig
Dazu allerdings wäre es schon aus einem anderen Grund nicht gekommen: Stalins Tod am 5. März 1953 änderte die Dinge grundsätzlich. Die Ärzte wurden rehabilitiert und konnten dem verstörten Sowjetvolk mitteilen, dass ihre Aussagen durch Folter erzwungen worden waren.
Die Flucht der Juden aus der DDR indes war endgültig. Mehr als 500 von ihnen waren Julius Meyer 1953 in den Westen gefolgt. Unter ihnen Vorsitzende und Beisitzer der jüdischen Gemeinden von Leipzig, Dresden, Halle und Erfurt. Aus Berlin-Niederschönhausen floh das gesamte jüdische Kinderheim gemeinsam mit seinen Betreuern. Auch den Ost-Berliner Kammergerichtspräsidenten Heinz Freund und Heinz Fried, den Direktor der Wasserbetriebe, zog es nach West-Berlin.
Was diese Abwanderungsbewegung für die jüdischen Gemeinden bedeutete, zeigt eine Statistik des Zentralrats der Juden in Deutschland: 1989, im Jahr der Wende, lebten in der DDR nur noch 400 Mitglieder der jüdischen Gemeinden, allein 250 davon in Ost-Berlin.
Julius Meyer hatte sich nach seiner Flucht in den Westen noch bis Mitte der siebziger Jahre einen Kampf mit bundesdeutschen Gerichten geliefert, die seinen Anspruch auf Entschädigung nicht anerkennen wollten. Als der westdeutsche Staat ihm auch noch den Status eines politischen Flüchtlings verweigerte, wanderte er mit seiner Familie nach Brasilien aus. Dort starb er 1979.
Opfer der Antifaschisten: Der Kommunist Paul Merker, hier in einer Aufnahme von November 1946, war Mitglied des Zentralkomitees der SED und hatte sich in der DDR für die Verabschiedung eines Wiedergutmachungsgesetzes für die Opfer des Faschismus eingesetzt – entgegen der offiziellen Parteilinie. Seine abweichende Haltung wurde ihm zum Verhängnis. 1952 wurde er wegen angeblichem Zionismus verhaftet.
Unter Zionismus-Verdacht: Dass man in der DDR nicht jüdisch sein musste, um unter Antisemitismus zu leiden, erlebte auch SED-Funktionär Franz Dahlem (hier in einer Aufnahme von April 1946). Dahlem wurde 1952 in Ost-Berlin verhaftet. Der Vorwurf: Zionismus. Der Leiter des Büros für “Parteiaufklärung” galt als Rivale Ulbrichts. Nach dem Tod Stalins fand der geplante Prozess gegen ihn und Paul Merker jedoch nicht mehr statt.
Zum Weiterlesen:
Annette Leo: Die ‘Verschwörung der Weißen Kittel’. Antisemitismus in der Sowjetunion, in: Jan Foitzik (Hrsg.): Das Jahr 1953. Ereignisse und Auswirkungen, Potsdam 2004
Quelle: einestages, spiegel 15.2.2013