Der Querulant: Philipp Auerbach kämpft wie kein zweiter für die Entschädigung von Opfern des Nazi-Regimes. Vielen Deutschen ist er damit ein Dorn im Auge. Auch die Politik wendet sich bald von ihm ab, besonders Bayerns Justizminister Josef Müller bekämpft ihn rücksichtslos. 1952 wird Auerbach in einem umstrittenenen Prozess zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Kurz darauf nimmt er sich das Leben.
Philipp Auerbach war kein sympathischer Mensch. Selbst Leute, die es gut mit ihm meinten, bezeichneten ihn als cholerisch, machtgierig, selbstherrlich. Aber andererseits auch als hilfsbereit, gutmütig und selbstlos. Viele Deutsche verachteten ihn schlicht: Denn in den ersten Nachkriegsjahren war Auerbach der Stachel im Fleisch der jungen Republik. Während die meisten Deutschen die Verbrechen während der zwölfjährigen Nazi-Diktatur einfach nur vergessen wollten, drängte er wie kein zweiter auf eine Wiedergutmachung für die NS-Opfer und eine rücksichtslose Verfolgung der Täter.
Auerbach gehörte als Jude selbst zu denen, die unter den Nazis eingesperrt waren und jahrelang in Todesangst auf ihre Freilassung hoffen mussten. Er überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald. Doch nach seiner Befreiung 1945 wurde Auerbach nicht wie erhofft mit Jubelrufen, sondern bestenfalls mit Gleichgültigkeit, oft auch mit Hass empfangen. Denn er vertrat all jene, die jeden Tag die Deutschen an ihre Mitschuld an den Verbrechen des Nazi-Regimes erinnerten.
Seine Mission: Wiedergutmachung für die Opfer des NS-Regimes und die juristische Verfolgung von Alt-Nazis. Dieses Ziel vertrat er in verschiedenen Ämtern, zuletzt als bayerischer Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte und als Präsident des Landesentschädigungsamtes in München.
Auerbach war kein Mann der Kompromisse, kein Versöhner, manchmal handelte er am Rande der Legalität. Er verlangte nicht nur Entschädigung für jüdische NS-Opfer, sondern ausdrücklich auch für die im Nachkriegsdeutschland noch immer diskriminierten Homosexuellen sowie für Sinti und Roma. Mit dieser Haltung machte er sich auch bei jüdischen Interessengruppen Feinde.
Viele Deutsche hatten kein Verständnis für Auerbach
Auerbach forderte für jeden ehemaligen KZ-Häftling eine Entschädigung von zehn Mark pro erlittenem Hafttag. Dafür sollte das Raubgut der Nazis unter den Opfern des “Dritten Reiches” verteilt werden. Daraufhin erhielt er zahlreiche antisemitische Schmähbriefe, in denen den Überlebenden des Nazi-Regimes pauschal Gier und Rachsucht vorgeworfen wurden.
Denn in den ersten Nachkriegsjahren, als viele deutsche Städte in Trümmern lagen und die Not groß war, sahen fast alle Deutsche sich selbst als Opfer der Nazi-Zeit. Sie mussten mit den Folgen der Kriegsniederlage leben. Für Auerbachs Haltung fehlte ihnen fast jedes Verständnis.
In der deutschen Presse erschienen inzwischen wieder offen antisemitische Leserbriefe wie dieser von einem “Adolf Bleibtreu”, der im August 1949 in der “Süddeutschen Zeitung” schrieb: “Geht doch nach Amerika, aber dort können sie Euch auch nicht gebrauchen, sie haben genug von diesen Blutsaugern”, pöbelte der Mann. Und fuhr fort, er sei “beim Ami beschäftigt”, und habe d
ort gehört, dass sie den Deutschen alles verziehen, außer dass sie nicht alle Juden vergast hätten. Denn nun würden sie Amerika beglücken.
Häme für den “Cäsar der Wiedergutmachung”
Auch seine Jagd nach Alt-Nazis brachte Auerbach Ärger ein: Die junge Bundesrepublik benötigte ehemalige Vertreter des NS-Regimes für den Aufbau ihres Verwaltungsapparats, und auch die US-Militärbehörde zeigte kein wirkliches Interesse an einer Aufarbeitung des Unrechts während der Nazi-Zeit. Sie brauchte stabile deutsche Institutionen angesichts des aufziehenden Kalten Krieges und der Konfrontation mit dem neuen Feind Kommunismus. Schnell wurde klar: Der unbequeme Nazi-Jäger musste weg.
Bereits 1949 stellte der CSU-Gründer und bayerische Justizminister Josef Müller einen Staatsanwalt eigens dafür ab, belastendes Material gegen Auerbach zu sammeln. Im Januar 1951 durchsuchte die Polizei das von Auerbach geleitete Landesentschädigungsamt. Zehn Wochen lang besetzte die Beamten die Münchener Behörde, Entschädigungsanträge wurden in dieser Zeit kaum noch bearbeitet. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Das Amt sollte mit Hilfe gefälschter Dokumente mehrere 100.000 Mark an Wiedergutmachungsgeldern erschlichen haben. Viele Deutsche fühlten sich dadurch in ihrem antisemitischen Vorurteil bestätigt, dass Juden zu ihrem eigenen finanziellen Vorteil lügen und betrügen.
Journalisten und Politiker bedienten diese Vorurteile. Manche ganz offen, bei anderen schlichen sich weit verbreitete Ressentiments in Nebensätzen ein. So erwähnte etwa der SPIEGEL im Februar 1951 in einem Artikel über Auerbachs Tätigkeit als Präsident des bayerischen Landes-Entschädigungsamtes ganz nebenbei “Juden, denen KZ-Haft und Tod zahlloser Angehörigen den Maßstab gesetzlicher Notwendigkeit getrübt hatten”. Bayerns Justizminister Müller, der mehr und mehr zu Auerbachs erbittertstem Gegenspieler wurde, geht noch einen Schritt weiter. Er sagte, er könne nicht zusehen, dass Bayern von einem jüdischen „König“ regiert werde. Außerdem machte er Auerbachs Verhalten für den wachsenden Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland verantwortlich.
Am 10. März hatte die Staatsanwaltschaft offenbar genügend belastendes Material gesammelt: Die bayerische Polizei nahm Auerbach auf der Autobahn fest, als dieser von einer Dienstreise aus Bonn zurückkehrte. Nach 13 Monaten in Untersuchungshaft begann im April 1952 der Prozess gegen ihn und drei Mitangeklagte, darunter den bayerischen Landesrabbiner Aaron Ohrenstein. Die Anklageschrift war Ausdruck der pedantischen Ermittlungsarbeit. Sie warf Auerbach Erpressung, Untreue, Betrug, Bestechung, Abgabenüberhebung, Amtsunterschlagung, Angabe falscher Versicherung an Eides statt und die unbefugte Führung eines akademischen Grades vor.
Keine Chance auf einen fairen Prozess
Schon vor dem Prozess erreichten die Behörden zahllose antisemitische Briefe. So schrieb ein anonymer Absender: “Ehrliche Arbeit scheut der Jude.” Und hetzte weiter: Das Deutsche Volk habe seit Jahren in Erfahrung bringen müssen, dass bei Staatlichen- und Kommunalen-Behörden, wo Unterschlagungen und Betrügereien vorgekommen sind, stets Juden an den maßgebenden Stellen die Betrüger waren. Am Ende seiner Tirade foderte er gar: “Raus mit den Juden aus Deutschland!”
Prozess: Am 16. April 1952 beginnt am Landgericht München das Verfahren gegen Auerbach (mit Verteidiger Josef Klibansky und dem Mitangeklagten Berthold Konirsch, v.r.n.l.) Die Angeklagten haben keine Chance auf ein faires Verfahren, denn Richter, Staatanwalt und Sachverständige sind ehemalige Nazis.
Als der Angeklagte am 16. April 1952 erstmals auf der Anklagebank Platz nahm, saß ihm eine Riege ehemaliger NS-Juristen gegenüber: Richter Josef Mulzer war nicht nur ein ehemaliger Kanzleikollege von Auerbachs Gegenspieler Müller; er war auch Oberkriegsgerichtsrat im “Dritten Reich”. Ein Beisitzer war Ex-SA-Mitglied, ein weiterer Beisitzer, die Staatsanwälte und der psychiatrische Sachverständige waren Mitglieder der NSDAP. Ganz unbefangen erwähnte der Richter, dass Auerbach “eine arische Ehefrau habe”, und als der Verteidiger daran erinnerte, dass sein Mandant Jahre im KZ interniert war, entgegnete Mulzer lapidar, dass er selbst auch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gesessen hatte.
Unstrittig war, dass Auerbach unberechtigterweise einen Doktortitel führte. Doch weit schwerer wiegende Anklagepunkte brachen in sich zusammen, weil Zeugen Auerbach entlasteten und Belastungszeugen frühere Aussagen zurücknahmen. Wegen seines angeschlagenen Gesundheitszustands wurde der 45-Jährige aus der Untersuchungshaft entlassen und durfte zur Behandlung in ein Sanatorium. Justizminister Müller musste noch während des Prozesses zurücktreten, weil er eigenmächtig einen Staatsanwalt jahrelang gegen Auerbach ermitteln ließ.
Dennoch verurteilte das Gericht Auerbach am 14. August 1952 zu zweieinhalb Jahren Haft und 2700 Mark Geldstrafe. Seine Vergehen: unberechtigtes Führen eines akademischen Grades, zwei falsche eidesstattliche Erklärungen, ein Erpressungsversuch, Bestechung in drei und Untreue in vier Fällen. Den Hauptanklagepunkt – die angebliche Veruntreuung von Entschädigungsgeldern – hatten die Richter fallengelassen.
Abschiedsbrief: Auf der Rückseite seiner Gerichtsvorladung hinterlässt Auerbach vor seinem Selbstmord seine letzten Worte:
Nicht aus Feigheit, nicht aus einem Schuldbekenntnis heraus handle ich, sondern weil ein Glaube an das Recht für mich nicht mehr besteht und ich meinen Freunden und meiner Familie nicht weiter zur Last fallen will. Ich bin unschuldig verurteilt in Falle Diekow und in den Fällen Hönig/Ohnsorg. Auch im Fall Lehrer hat man mir unrecht getan. Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann dieses entehrende Urteil nicht weiter ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft, es war umsonst. Ich danke meinen Verteidigern Dr. Panholzer und Rechtsanwalt Klibansky. Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen. Dr. Auerbach, 14.8.52
Proteste bei der Beerdigung
Doch der Urteilsspruch und die antisemitische Hetzkampagne hatten Auerbach gebrochen: Zwei Tage später nahm er sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann das entehrende Urteil nicht weiterhin ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft – umsonst … Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen.“
Bei der Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof in München am 18. August 1952 folgten Tausende dem Sarg des Verstorbenen. Am Rande des Trauerzugs kam es zu Tumulten, als Demonstranten ein Transparent mit dem Schriftzug enthüllten: „Bist Du nun zufrieden, Josef Müller?“ Die Polizei setzte Wasserwerfer ein.
Doch es war nur eine Minderheit, die auf Seiten Auerbachs stand: Die bayerische Landpolizei schrieb in einem Bericht über die Beisetzung: “Das Urteil im Auerbach-Prozess wird im Volke allgemein als gerecht, vielfach aber auch (…) als zu milde empfunden. Der Selbstmord Auerbachs sei zwar mit Überraschung, aber ohne besondere Erschütterung zur Kenntnis genommen und als Schuldbekenntnis gewertet worden.”
Zwei Jahre später wurde Auerbach von einem Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags vollständig rehabilitiert. Auf seinem Grabstein steht heute: “Helfer
der Armen, Opfer seiner Pflicht”.
Tumulte: Am Rande von Auerbachs Beerdigung kommt es zu Unruhen. Die Demonstranten machen Justizminister Müller für das Gerichtsurteil und den Selbstmord des Verurteilten verantwortlich. Die Polizei setzt Wasserwerfer ein.