Wie entscheidend für den islamistischen Terrorismus waren die Anschläge von Al Qaida im September 2001?
Der 11. September hat auf einen Schlag eine Menge Leute radikalisiert. Viele Menschen, die damals die USA als das Böse schlechthin sahen, fanden, Amerika habe nur bekommen, was es verdient. Für sie war es eine Genugtuung zu sehen, dass die USA verwundbar sind. Bei den ausländischen Kämpfern, die dann aus Saudi Arabien, Syrien oder Libyen in den Irakkrieg zogen, war es dasselbe: Diese Leute hegten einen echten Groll auf die Amerikaner und sahen die Möglichkeit, gegen die USA mitten im Nahen Osten zu kämpfen.
Existiert dieser 9/11-Effekt nach wie vor?
Bis zu einem gewissen Grad. Viele dieser extremistischen Bewegungen sind davon überzeugt, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt Gott und die Geschichte auf ihrer Seite stehen. Nach 9/11 war sich Al Qaida dann sicher, dass sie Amerika bald besiegen würde. Als aber klar wurde, dass die USA und ihre Verbündeten auch erfolgreich für ihre Sache kämpfen, war das für einige Al-Qaida-Sympathisanten ein Schock. Die Zahl der Al-Qaida-Sympathisanten jedenfalls ist mit der Zeit zurückgegangen.
Hängst das auch mit den Entwicklungen des arabischen Frühlings zusammen?
Eine Folge davon ist jedenfalls, dass sich der extremistische Islam von den sogenannten nicht-staatlichen Akteuren wegbewegt. Schauen Sie sich die Muslimbrüder in Ägypten an: Sie existieren nicht mehr außerhalb der staatlichen Strukturen, sondern sie gehören zum verfassungsmäßigen Mainstream, einer der ihren ist sogar Präsident. Sie haben sich von illegalen Parias zu integrierten Akteuren entwickelt. Ihre Unterstützer können über ihre Ideen jetzt offen sprechen und möglicherweise in demokratischen Konstellationen einbringen und müssen sich nicht mehr vor dem Staat verstecken.
Großbritannien hat in Europa mit am meisten unter dem islamistischen Terror gelitten. Was können andere Länder aus der britischen Erfahrung lernen?
Dass es hier keine Patentlösungen gibt. Schauen Sie sich die europäischen Staaten mit großer muslimischer Diaspora wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland oder Spanien an. In Großbritannien kommen die Menschen vor allem aus Pakistan, in Frankreich sind es Nordafrikaner, in Deutschland Türken, und diese muslimischen Gruppen sind in sich noch einmal völlig unterschiedlich strukturiert. Das einzige übergreifende Thema ist, wie man diese Menschen am besten integriert und ihnen das Gefühl gibt, zur Gesellschaft dazuzugehören. In der Regel greift jemand nur das an, wozu er sich nicht dazugehörig fühlt.
Es fällt dennoch auf, dass sich meist erst die zweite oder dritte Generation von Migranten radikalisiert.
Die erste Generation kam mit klaren wirtschaftlichen Zielen. Sie wollte im Westen Geld verdienen, um ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen. Ihren Kindern aber, beziehungsweise ihren Enkelkindern, die in Europa geboren wurden, stellen sich ganz andere Fragen: Wer bin ich, passe ich in diese Gesellschaft, gehöre ich in diese Kultur, was für eine Identität soll ich annehmen? Das Scheitern dieser Generationen, solche Fragen miteinander auszusöhnen, begünstigt Radikalisierung zu einem gewissen Grad.
Aber was macht gerade den radikalen Islam so attraktiv?
Wer sich damit auseinandersetzt, wer er ist – Türke, Araber, Brite, Deutscher, merkt vielleicht, dass er mit bestimmten Werten aus der Heimat seiner Eltern übereinstimmt, aber andere Vorstellungen in Großbritannien viel nachvollziehbarer findet. Sich exklusiv zu einer Identität zugehörig zu fühlen, ist so nicht mehr möglich. Und dann kommt der radikale Islam und sagt, du bist einfach ein Muslim, und das war’s. Diese Identität ist nicht an eine Staatsbürgerschaft, einen Ort oder eine Ethnie gebunden, und das hilft.
Linksradikale Ideologien sind auch nicht an Staatsbürgerschaft gebunden.
Der radikale Islam ist heute so etwas wie die Bewegung der Stunde; vielleicht wären einige dieser jungen Leute vor 30 Jahren glühende Kommunisten gewesen. Wer sich mit Fragen von Identität und Zugehörigkeit herumschlägt, stellt sich oft auch gegen das aktuelle politische System. Einen ,ausbeuterischen Kapitalismus’ kritisieren Links- und Rechtsextremisten genauso wie die Islamisten. Sie halten das übergeordnete System für korrupt, und machen seine Dekadenz für alle gesellschaftlichen Probleme verantwortlich. Worin sie sich unterscheiden, sind die Lösungsansätze.
Als Sie Student waren, waren Sie selbst Mitglied der islamistischen Hizb-ut-Tahrir. Warum sind Sie wieder ausgestiegen?
Weil ich nachgedacht habe. Am Anfang habe ich nur die islamische Revolution gesehen, die alle Probleme der Muslime weltweit lösen würde. Aber mit der Zeit habe ich immer mehr darüber reflektiert, wie das eigentlich aussehen soll, und dass so auch Menschen getötet werden. Irgendwann konnte ich nicht mehr anders, als auszusteigen. Ich wurde dann vom Helden zum Feind, und zwar über Nacht. Meine alten Freunde, meine Bekannten – niemand hat mehr ein Wort mit mir geredet. Das war ziemlich schwer auszuhalten. Aber es musste sein.
Shiraz Maher ist Terrorismusforscher
am International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) am Londoner King’s College. Als Student gehörte er ab 2001 für einige Jahre der islamistischen Hizb-ut-Tahrir an. Am ICSR beschäftigt er sich mit Fragen zur Radikalisierung und forscht zur Entwicklung der politischen Ideologie von Al Qaida.
Mit Shiraz Maher sprach Ruth Ciesinger.
Quelle: Tsp 1.7.2012