Stuttgart – Was haben die ägyptischen Muslimbrüder, das iranische Regime und der deutsche Verleger Jakob Augstein gemeinsam? Nach Ansicht des Simon-Wiesenthal-Zentrums zählen sie zu den schlimmsten Antisemiten der Welt. Augstein wehrt sich – Henryk M. Broder kontert im Interview.
Herr Broder, wie oft haben Sie als Kind in der Ecke gestanden, weil sie sich mit Klassenkameraden gekloppt haben?
Ich war als Kind extrem gefügig und extrem anpassungsbereit. Erst in den letzten Schuljahren wurden meine Eltern zunehmend in die Schule gerufen. Nicht, weil ich schlechte Noten hatte. Sondern weil ich auf die Teilnahme am Unterricht keinen Wert mehr legte. Aber warum fragen Sie?
Sie keilen seit Dezember kräftig gegen den Journalisten Jakob Augstein …
Nein, ich keile auch nicht gegen Augstein. Ich mache das, was er macht: Ich mache von meinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch. Augstein fragt immer: Ja, darf man denn nicht mehr Israel kritisieren? Ich stelle die Frage: Ja, darf man denn nicht mehr Jakob Augstein kritisieren?
Kritisieren sicher – aber so? Der jüdische Professor Micha Brumlik widerspricht Ihnen.
Brumlik hat gesagt: „Augstein manövriert zwar gelegentlich an der Grenze zum Ressentiment, aber er argumentiert differenziert.“ Also bei so einer Aussage muss man an der Gemütsverfassung eines deutschen Gelehrten zweifeln.
Geht es etwas konkreter?
Hinter der ganzen Debatte steckt doch etwas ganz anderes: Augstein und seine Verteidiger segeln unter der Fahne Israelkritik. Und ich wiederhole wieder und wieder: Das hat mit Israelkritik nichts zu tun. Kritik muss auch nicht fair, sachlich oder ausgewogen sein. Sie muss nur etwas mit dem Gegenstand zu tun haben, den sie kritisiert. Es ist nicht Kritik, wenn Augstein und Grass sagen, Israel bedrohe den Weltfrieden. Es ist nicht Kritik, wenn Augstein sich bei Grass dafür bedankt, dass der ihn aus dem Schatten der Deutschen Geschichte geführt habe.
Was ist es denn dann?
Mentale Probleme. Mentale Probleme, die Augstein mit sich selbst und mit der deutschen Geschichte hat. Er wartet nur auf jeden Anlass, von der Schuld, die er auf seinen Schultern spürt, befreit zu werden. Und dafür ist Israel der ideale Sündenbock.
Salomon Korn sieht das anders. Der Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland sagt, er habe nie den Eindruck gehabt, Augsteins Texte seien antisemitisch …
Ich fürchte, er hat sie nicht einmal gelesen. Der Zentralrat hat sich immer als Weichspüler verstanden. Als Instrument der Anpassung, des Appeasements. Und wann immer ich mit Leuten des Zentralrats zusammenkomme – und das lässt sich nicht immer vermeiden – dann werde ich abgemahnt, ich soll nicht so offensiv auftreten. Ich würde den Antisemitismus damit nur befördern. Der Zentralrat will vor allem eines: nicht provozieren. Ruhe in der Etappe.
Und Augstein will kommentieren – immerhin seine Pflicht als Journalist.
Augstein kommentiert nicht, er verarbeit seine Ressentiments zu Lektüre. Das einzige, was ich als mildernden Umstand zubilligen könnte, wäre: Er tut es mit unschuldigem Herzen. Aber auch das lasse ich als Entschuldigung nicht gelten. Antisemitismus ist eine Krankheit: Alkoholiker würden sich selbst nie als Alkoholiker bezeichnen. Die glauben immer, sie könnten jederzeit damit aufhören. Männer, die ihre Frauen prügeln, glauben, nicht gewalttätig zu sein. Sie glauben, nur zu erziehen. Und in diese Kategorie gehören auch die Antisemiten: Sie sind nicht in der Lage, ihr Verhalten zu reflektieren.
Verprügeln Sie da nicht den Boten für seine Botschaften? Die israelische Siedlungspolitik ist kritikwürdig, Augsteins Haltung zu den Palästinensern kann man diskutieren. Aber das ist lange noch kein Antisemitismus.
Auf keinen Fall. Sie können sagen, Israels Regierung besteht aus lauter Vollidioten. Sie können sagen, die behandeln die Palästinenser falsch. Die Siedlungspolitik ist falsch. Das alles ist zulässig. Das alles ist richtig…
… und wo ist dann Ihr Problem?
Sie können nicht sagen, Israel sei die Bedrohung für den Weltfrieden angesichts der Tatsache, dass der Iran nicht müde wird zu erklären, Israel habe von der Landkarte zu verschwinden. Wobei die deutsche Sichtweise die ist, ob Ahmadinedschad gesagt hat: Wir werden dafür sorgen, dass Israel verschwindet – oder: Israel wird verschwinden. Das scheint für deutsche Sprachexegeten der wesentliche Unterschied zu sein. Sie können auch nicht sagen, Gaza ist ein „Lager“ und damit auf ein KZ anspielen. Wenn Gaza ein Lager ist, dann sind nicht die Israelis die Wächter, sonder die Leute der Hamas.
Wo ist die Grenze zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus?
Die Grenze verläuft dort, wo ein Vernichtungswille hinter der Äußerung steckt. Wenn sogar gegen die Lieferung von Defensivwaffen wie den Patriot-Raketen präludiert wird, wie kürzlich von den Grünen. Dann ist es keine Kritik mehr. Dann ist es der Versuch, den Lauf der Geschichte so zu manipulieren, dass es auf den nächsten Holocaust hinausläuft. Ahmadinedschad, die Muslimbrüder, sind natürlich eine andere Spielklasse als Augstein. Aber das ist nur eine Form der Arbeitsteilung: Der Iraner leugnet den Holocaust, Augstein bereitet propagandistisch die nächste Endlösung der Judenfrage vor – diesmal in Palästina. Die Juden, die Israelis, so legt Augstein nahe, sind das größte Problem, das dem Frieden in der Welt im Weg steht.
Also, Augstein in einem Atemzug mit der Endlösung zu nennen, das ist schon …
… starker Tobak, ich weiß. Aber ich kann es begründen. Fast alle, die sich an der Debatte beteiligen, haben ein statisches Bild vom Antisemitismus. Dieses Bild wird natürlich bestimmt aus der Erfahrung des Dritten Reiches. Das ist der deutsche Inbegriff von Antisemitismus: Auschwitz, Holocaust, Endlösung, sechs Millionen. Was unterhalb dieser Schwelle ist dann kein Antisemitismus mehr, sondern eine Bagatelle.
Geht es konkreter?
Gerne. Niemand würde sich Bankräuber so vorstellen wie bei Dagobert Duck: Als Panzerknacker im roten Shirt und schwarzer Augenbinde. Der moderne Bankräuber sieht aus wie sie und ich. Er sitzt am Rechner und saugt die Konten mit Hilfe von Computerprogrammen leer. Er steht nicht mehr mit dem Schweißbrenner vor dem Tresor. So ist es auch mit dem Antisemiten: Der tritt nicht als SA-Mann auf. Der schmeißt keine Schaufenster jüdischer Geschäfte mehr ein. Der moderne Antisemit argumentiert subtil: Er sagt, dass Israel die Weltgefahr Nummer eins sei, hinter allem die „Israel-Lobby“ steckt“. Und unterstellt damit: Gäbe es Israel nicht, wäre der Frieden auf Erden kein Problem. Das ist Antisemitismus pur.
Quelle: Schwarzwälder Bote, 7.1.2013