Die “kritischen Intellektuellen” nennen Augsteins Äußerungen “an der Grenze zum Ressentiment, aber differenziert”. Ich las alle Stellungnahmen und frage mich, ob diese Leute dasselbe Zeug kiffen.Von Henryk M. Broder
Ende März 1983, also vor fast genau dreißig Jahren, gab das Sekretariat des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion die Gründung eines “Antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit” bekannt.
Man habe sich zu diesem Schritt entschlossen, da der Zionismus “eine gefährliche Abart der bürgerlichen Ideologie” sei, die mit dem Anspruch auf “nationale Exklusivität des auserwählten Volks” auftrete. Zudem sei deutlich geworden, dass der Zionismus “die Ideen und Methoden des Hitlerfaschismus” wiederbelebe.
Alle Sowjetbürger – “Arbeiter, Bauern, Vertreter der Intelligenz” – wurden aufgefordert, aktiv am Kampf gegen den Zionismus teilzunehmen, den “reaktionären Kern dieser Ideologie” freizulegen und den “aggressiven Charakter” seiner “politischen Praxis” zu entlarven.
Dem “Antizionistischen Komitee der sowjetischen Öffentlichkeit” gehörten nur dem sowjetischen System treu ergebene Juden an, darunter Yakov Fishman, der Oberrabbiner von Moskau, und David Dragunsky, Generaloberst der sowjetischen Armee und zweifacher “Held der Sowjetunion”.
Kampf gegen Zionismus, geführt von “kritischen Intellektuellen”
Damals schon hatte die Führung der Sowjetunion begriffen, dass “Israelkritik” einen besonders glaubwürdigen Klang hat, wenn sie von Juden vorgebracht wird. Deswegen wurde bereits bei der Gründung des Komitees betont, Kritik an der “zionistischen Ideologie” und der “aggressiven Politik” der in Israel herrschenden Kreise könnte keinesfalls als “antisemitisch” bezeichnet werden.
Das Komitee veranstaltete Pressekonferenzen, gab Erklärungen ab und tanzte brav nach der Pfeife des ZK, bis es 1987 aufgelöst wurde. Der Jude hatte seine Arbeit getan, der Jude konnte gehen.Damals schon hatte die Führung der Sowjetunion begriffen, dass “Israelkritik” einen besonders glaubwürdigen Klang hat, wenn sie von Juden vorgebracht wird. Deswegen wurde bereits bei der Gründung des Komitees betont, Kritik an der “zionistischen Ideologie” und der “aggressiven Politik” der in Israel herrschenden Kreise könnte keinesfalls als “antisemitisch” bezeichnet werden.
Inzwischen ist auch die Sowjetunion im Abgrund der Geschichte verschwunden, mit ihr das ZK der KPdSU und seine diversen Komitees. Aber der Kampf gegen den “aggressiven Charakter” und die “politische Praxis” des Zionismus, verkörpert im und durch den Staat Israel, geht weiter.
Er wird geführt von “kritischen Intellektuellen”, die sich “Israelkritiker” nennen; im Prinzip ein Beruf wie Eventmanager oder Insolvenzverwalter – nur besser angesehen. Vor allem seit vor ein paar Tagen der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Salomon Korn, einen besonders umtriebigen “Israelkritiker” vom Verdacht, ein verkappter Antisemit zu sein, freigesprochen und für koscher erklärt hat.
Brief an meinen Lieblings-Antisemiten Augstein
Kurz die Vorgeschichte: Am 6. Dezember letzten Jahres veröffentlichte ich in der Onlineausgabe der “Welt” einen offenen “Brief an meinen Lieblingsantisemiten (Jakob) Augstein”, Herausgeber der Wochenzeitung “Freitag” und Kolumnist bei “Spiegel online”. Dem offenen Brief vorausgegangen war ein Artikel in der “Welt” vom 27. November: “Was Antisemitismus und Körpergeruch verbindet”.
In beiden Texten ging es um Augsteins Kolumnen, in denen er sich auf eine – meiner Meinung nach – “obsessive” Weise mit Israel beschäftigt, die den Rahmen jeder Kritik sprengt. Augstein dämonisiert Israel, so wie früher der einzelne Jude dämonisiert wurde, als Gefahr für den Weltfrieden und Verursacher von vielerlei Übel; er stellt Verschwörungstheorien auf, in denen Israel als globaler Strippenzieher dargestellt wird; er erklärt Israel explizit zum Nutznießer und implizit zum Anstifter der Unruhen in den arabischen Ländern; kurzum, er lässt seinem tief sitzenden Hass auf eine “Großmacht” im Nahen Osten freien Lauf, während es nichts Vergleichbares aus seiner Feder zu den Zuständen im Iran, im Irak, in Syrien oder Saudi-Arabien gibt. Wenn das “kritischer Journalismus” ist, dann ist die “Allgemeine Fleischer Zeitung” das Zentralorgan des Bundes Deutscher Vegetarier.
“Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs”
Nachdem die beiden Artikel erschienen waren, passierte – nichts, wenn man von den Reaktionen der “Freitag”-Community in den Onlineforen absieht, deren Angehörige ihrem Guru zu Hilfe eilten. Augstein selbst hielt sich bedeckt, er nahm nicht einmal das Angebot an, mit mir zu diskutieren. Das änderte sich schlagartig, nachdem das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles Ende Dezember eine Liste mit den “Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs” für das Jahr 2012 veröffentlichte.
“Slur” heißt so viel wie “Beleidigung”, “Verleumdung”, im übertragenen Sinne auch “Schmiererei”. In der Top-Ten-Liste der antisemitischen und antiisraelischen Schmierereien des vergangenen Jahres landete Augstein auf dem vorletzten Platz, weit hinter dem Chef der ägyptischen Muslimbrüder und dem iranischen Präsidenten und einen Platz vor dem Schlusslicht, dem Nation-of-Islam-Prediger Louis Farrakhan.
Die Platzierung wurde mit fünf einschlägigen Zitaten aus seinen Kolumnen unterlegt, die auf “Spiegel online” erschienen waren. Darunter stand, in kursiver Kleinschrift, ein Zitat von mir: Augstein sei kein Salon-Antisemit, sondern ein lupenreiner Antisemit, der nur dank der Gnade der späten Geburt um die Chance gekommen ist, Karriere bei der Gestapo zu machen …
Gewiss keine Schmeichelei, aber dem Gegenstand der Betrachtung angemessen.
Nun gibt es auch in Los Angeles Menschen, die Deutsch können und den “Spiegel” und die “Welt” lesen. Ich hatte mit dem Simon Wiesenthal Center vor 20 Jahren zum ersten und letzten Mal Kontakt, als ich für den “Spiegel” eine Geschichte über die “Amerikanisierung des Holocaust” schrieb.
Weder hatte ich Augstein beim SWC “angezeigt”, noch hat sich irgendjemand vom SWC an mich gewandt und gefragt, wen ich auf der Top-Ten-Liste sehen möchte. Das SWC bedient sich aus öffentlichen, jedermann und jederfrau zugänglichen Quellen.
Salomon Korn, mitten in der deutschen Wirklichkeit
Der stellvertretende Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, der in den vergangenen Monaten vor allem durch öffentliches Schweigen aufgefallen war, während er sich der Pflege seiner Krawatten und Manschettenknöpfe widmete, wusste es freilich besser.
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte er, es sei “sicherlich nicht sehr klug vom Simon Wiesenthal Center” gewesen, “sich sozusagen in die Argumentation von Henryk Broder zu begeben”, das Center habe “offensichtlich nicht genügend recherchiert oder sich kundig gemacht, bevor es also das geäußert hat, und wahrscheinlich ist es hier doch ins Fahrwasser von Henryk Broder geraten und hat sich nicht seine eigene Meinung gebildet”.
Offensichtlich sei das SWC “ziemlich weit weg sozusagen von der deutschen Wirklichkeit”, während er, Salomon Korn, mitten in der deutschen Wirklichkeit daheim wäre. Deswegen glaube er, “dass das Simon Wiesenthal Center hier einfach Henryk Broder zu weit gefolgt ist, denn Henryk Broder schießt nun mal über das Ziel hinaus, er ist ein Polemiker, und er ist jemand, der stark überspitzt, dafür ist er auch bekannt”.
Und: “Man kann nicht immer alles wörtlich nehmen, was er sagt, und man kann auch nicht immer alles ernst nehmen, was er sagt. Es gehört sozusagen zu seinem Image, dass er das tut. Und das Simon Wiesenthal Center hätte besser daran getan, hier Broder nicht zu folgen oder zumindest sich selbst zu informieren, um sich dann ein Urteil zu bilden”.
Methoden des “Antizionistischen Komitees”
Mehr erschüttert als geschmeichelt nahm ich zur Kenntnis, dass das SWC auf mein Kommando hört, während nicht einmal meine eigene Familie das tut, was ich will. Weniger lustig war, dass Korn mich quasi für verrückt erklärte – eine Technik, derer sich auch das “Antizionistische Komitee der sowjetischen Öffentlichkeit” im Umgang mit seinen Kritikern bediente. Mit dem mir verbliebenen Rest an Zurechnungsfähigkeit fragte ich mich, warum sich Korn dermaßen ausgiebig an mir abarbeitet, wenn man das, was ich sage, nicht ernst nehmen muss.
Es war nicht die einzige Reaktion, die den Regeln der Logik zuwiderlief. Juliane Wetzel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung, erklärte in einem Interview mit dem Magazin “Cicero”: “Es ist sowieso immer problematisch, jemanden als Antisemiten zu bezeichnen. Man kann höchstens sagen: Der oder der bedient antisemitische Klischees, Ressentiments, Vorurteile.”
Wie nennt man jemanden, der antisemitische Klischees bedient?
Wie nennt man jemanden, der lügt? Einen Lügner. Wie nennt man jemanden, der trinkt? Einen Trinker. Wie nennt man jemanden, der klaut? Einen Dieb. Nur jemanden, der “antisemitische Klischees, Ressentiments, Vorurteile” bedient, darf man nicht einen Antisemiten nennen, zumindest nicht nach den strengen wissenschaftlichen Maßstäben des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, dessen ehemaliger Direktor, Wolfgang Benz, auch nach dem Anschlag von Toulouse, bei dem ein jüdischer Lehrer und drei jüdische Kinder von einem Salafisten erschossen wurden, “keine neue Dimension des Antisemitismus” erkennen konnte.
Es war ihm nicht einmal klar, “ob die Morde wirklich ein antisemitisches Motiv hatten oder die Opfer von einem Terroristen zufällig ausgewählt worden sind” – der einfach Bock auf etwas Gewalt hatte.
Der Vorsitzende des Deutschen Journalisten Verbandes, Michael Konken, stellte sich hinter Augstein und begründete dies mit der “besonderen Verantwortung aufgrund des Holocaust”: “Dieser Verantwortung kann aber nur gerecht werden, wer sich kritisch mit der Politik und den Entwicklungen im Nahen Osten auseinandersetzt.” Womit Konken einer Pointe des Schriftstellers Wolfgang Pohrt neues Leben einhauchte, der schon vor Jahren gelästert hatte, es sei die Pflicht der Deutschen, darauf zu achten, “dass die Juden nicht rückfällig werden”.
“Augstein argumentiert differenziert”
Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Micha Brumlik nahm Augstein ebenfalls in Schutz. Er sagte der “taz”: “Augstein manövriert zwar gelegentlich an der Grenze zum Ressentiment, aber er argumentiert differenziert.” Es war einer jener Augenblicke, da mir bewusst wurde, wie gut ich daran getan hatte, meine akademische Ausbildung rechtzeitig abzubrechen, um nicht in jener Ecke zu landen, wo man sich seiner Ressentiments nicht schämt, sondern sie “differenziert” artikuliert.
Brumliks Kollege, der Potsdamer Historiker Prof. Dr. Julius Schoeps, war ebenfalls um Differenzierung bemüht. In einem Interview mit dem RBB sagte er: “Wenn man sich die Formulierungen von Augstein ansieht, kann man sehr nachdenklich werden, wenn er sagt, das Feuer brennt in Libyen, in den arabischen Ländern, im Jemen und so weiter, und dann erklärt, aber die Brandstifter sitzen anderswo, nämlich in Washington und Jerusalem, da stimmt schon was nicht …” Zugleich aber riet er dazu, “sehr vorsichtig mit dem Begriff Antisemitismus umzugehen” und Augstein “nicht an die Wand zu stellen”.
Sich wegduckende Intellektuelle
Auffällig an dieser Debatte war, wie viele öffentliche Intellektuelle mit jüdischem Bildungshintergrund an ihr teilnahmen, um Augstein beizustehen, diesmal ganz freiwillig und ohne jeden Auftrag irgendeines ZK einer Partei. Von Korn bis Schoeps, von Friedman bis Wolffsohn, von Segev bis Seligmann.
Dennoch behauptete der Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland, Klaus Holz, “viele Intellektuelle” würden “sich bei solchen Debatten wegducken” und damit das Feld für “die Broders dieser Welt” räumen, wobei ihm mit der Formel “die Broders dieser Welt” ein extrem differenzierter Hinweis auf eine weltumspannende jüdische Kooperative gelang.
Ich las alle diese Stellungnahmen und fragte mich, ob alle diese Leute dasselbe Zeug kiffen würden. Es ging nicht um Augstein und seine Kommentare, die man alle im Netz nachlesen kann, es ging um mich – und wie ich es geschafft hatte, das SWC vor meinen Karren zu spannen.
Es hat einen von ihnen erwischt
Niemand sprach Augstein das Recht ab, Israel zu kritisieren, mir wurde aber das Recht abgesprochen, Augstein für seine “Kritik” an Israel zu kritisieren, wobei mir von einem Kollegen sogar nahegelegt wurde, etwas mehr Demut und Dankbarkeit an den Tag zu legen: “Es spricht für den deutschen Rechtsstaat, dass Henryk M. Broder bis heute frei herumläuft …” Ja, damit hat der deutsche Rechtsstaat seine schwerste Bewährungsprobe tadellos bestanden.
Was war es, fragte ich mich, das gebildete Menschen dermaßen aus der Fassung brachte, dass sie bei dem Versuch, meiner habhaft zu werden, argumentatives Harakiri begingen?
Ich glaube, es war die schiere Verzweiflung, dass es mit Jakob Augstein einen von ihnen erwischt hatte. Zwar sollen, “wissenschaftlichen” Erhebungen zufolge, etwa zwanzig Prozent der Deutschen antisemitische Einstellungen mit sich herumtragen, es soll sich aber um Angehörige von Randgruppen halten, also die weniger gebildeten Stände, die noch nie ein Gedicht von Günter Grass gelesen oder ein Klezmer-Konzert besucht haben.
Und wenn es mal heißt, der Antisemitismus sei “in der Mitte der Gesellschaft” angekommen, wird sorgfältig darauf geachtet, die M
itte nicht zu lokalisieren und keine Namen zu nennen, denn es könnte sich ja einer, mit dem man ab und zu auf demselben Panel sitzt, getroffen fühlen.
Der Antisemitismus geht mit der Zeit
Die Intellektuellen dieser Republik, die sonst jedem Zeitgeist auf der Spur sind, klammern sich an einen Begriff von Antisemitismus, der so alt und verstaubt ist wie eine mechanische Schreibmaschine aus den 30er-Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Antisemitismus – das ist die SA und die SS, die Endlösung und der Holocaust, Auschwitz und Nürnberg. Sie weigern sich einzusehen, dass auch der Antisemitismus mit der Zeit geht, dass er ein dynamisches und kein statisches Phänomen ist, dass er sich laufend ändert und vor allem: den Antisemitismusforschern immer um mindestens eine Nasenlänge voraus ist. Wie die Hacker den IT-Experten.
Kein Mensch stellt sich heute Bankräuber so vor, wie sie von Carl Barks gezeichnet wurden, mit Augenmasken, Stoppelbärten und Schiebermützen. Kein Bankräuber macht sich heute mit einem Schweißbrenner an einem Tresor zu schaffen. Die modernen Panzerknacker sitzen in Maßanzügen in ihren vollklimatisierten Büros oder ganz entspannt in einem Café und saugen anderer Leute Konten mithilfe eines Laptops ab.
Moderne Antisemiten argumentieren subtil
Das Gleiche gilt auch für Antisemiten. Die treten nicht mehr als SA-Männer auf und schmeißen keine Schaufenster jüdischer Geschäfte mehr ein. Moderne Antisemiten argumentieren subtil: Sie sagen, Israel sei die Weltgefahr Nummer eins, und hinter allem stecke die allmächtige “Israel-Lobby”. Und unterstellen damit: Gäbe es Israel nicht, dann wäre der Frieden auf Erden kein Problem. Das ist Antisemitismus pur. Das zu begreifen, überfordert die meisten Intellektuellen, die über “das Ende der Suhrkamp-Kultur” so bestürzt sind, dass sie darüber vergessen, dass das einzig Beständige im Leben der Wandel ist.
Natürlich gibt es hier und da noch den guten alten Antisemitismus, wie bei der NPD, aber der hat kulturell und politisch ausgedient. So finde ich es beinah tröstlich, dass sich auf Facebook eine Gruppe mit dem Namen “Schiebt Broder nach Israel ab!” gebildet hat.
Das ist endlich mal eine konstruktive Idee. Ich habe schon einen Flug gebucht. Denn in Tel Aviv scheint gerade die Sonne, während im deutschen Winter die Tage kurz und finster sind.
Quelle: Die Welt 8.1.2013