Ronald L. Haeberle, der Fotograf des Massakers von My Lai


Michael Marek



16. März 1968: Die Sonne geht gerade über dem Südchinesischen Meer auf, als Helikopter der US-Armee die kleine Ortschaft My Lai erreichen. Soldaten der «Charlie Company» umzingeln das kleine Dorf 540 Kilometer nordöstlich von Saigon. Ihr Auftrag: Aufspüren und Vernichten von Angehörigen des Vietcongs, der südvietnamesischen Kommunisten. Vier Stunden später sind 504 Bewohner tot. Das Kriegsverbrechen unter Führung von Lieutenant William Calley besiegelte den moralischen Zusammenbruch der Vereinigten Staaten in Indochina.

Plötzlich war überall Tod: Dorfbewohner von My Lai, auf der Flucht erschossen.


Schlachthaus My Lai


Das Massaker blieb vor allem wegen seiner Bilder in Erinnerung: brennende Hütten, Menschen mit aufgeschlitzten Leibern, entstellte Leichen, die zwischen Reisfeldern liegen. Ronald Haeberle erinnert sich 44 Jahre später an jedes Detail. «Wir waren mit unseren Helikoptern gelandet, da begannen unsere Leute auf alles zu feuern, was sich bewegte. Ich sah, wie einer alten Frau aus kürzester Entfernung in den Kopf geschossen wurde. Überall lagen Leichen.» Mit zwei Kameras (Farbe und Schwarz-Weiss) hielt der damals 27-jährige Armeefotograf fest, wie die Mitglieder der «Charlie Company» unschuldige Frauen, Kinder und Männer ermordeten, Tiere abschlachteten, Brunnen vergifteten, Häuser und Lebensmittelvorräte in Brand steckten.


«Es war alles total irreal, sogar Babys wurden massakriert», erzählt Haeberle, «ich fragte die Soldaten, warum sie das machten, warum sie Kindern und Säuglingen in den Kopf schiessen. Ich bekam keine Antwort, sie gingen weiter und feuerten mit ihren M16 um sich.» Immer wieder sexuelle Übergriffe gegen Frauen. Routine, Mordfieber und Lust sind nicht zu unterscheiden. Den Opfern werden mit Bajonetten und Messern Ohren und Köpfe abgetrennt, Kehlen aufgeschlitzt, Zungen herausgeschnitten und Skalps genommen. All das hat Haeberle detailliert festgehalten. «Es war ein Blutbad, alles unschuldige Menschen», so erinnert sich Haeberle. «Glückwünsche den Offizieren und Mannschaften zum ausgezeichneten Gefecht», telegrafiert später General William Westmoreland, Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Vietnam.


Nur einer wagt den bedrängten Dorfbewohnern zu helfen: der Helikopterpilot Hugh Thompson. Er landet zwischen den Soldaten und den Dorfbewohnern. Dann fordert er über Funk Hilfe für die verwundeten Zivilisten an: «13 Vietnamesen wurden ausgeflogen. Während der ganzen Aktion hielten Thompsons Bordschützen Glen Andreotta und Lawrence Colburn mit ihren MG die eigenen Kameraden in Schach.»


Zurück im Basiscamp der US-Armee, muss Haeberle seine Schwarz-Weiss-Kamera abgeben. Die Farbkamera versteckt er und behält sie für sich. «Meine Vorgesetzten haben nicht nach der Kamera gefragt.» Von dem Kriegsverbrechen erzählt Haeberle zunächst niemandem. Man hätte ihn in der Armee als Nestbeschmutzer beschimpft. «Und was wäre mit meinen Kollegen passiert, die als Reporter und Fotografen beim nächsten Einsatz raus mussten? Ihr Leben wäre nichts mehr wert gewesen, verstehen Sie, vielleicht hätte man sie hinterrücks erschossen.»


Dass er Armeefotograf wurde, war Zufall. «Als ich 1962 eingezogen wurde, kam ich nach Hawaii. Ich hatte meine Kamera dabei und machte Fotos vom militärischen Training», so Haeberle, «mein Vorgesetzter fand das gut. Und so wurde ich Fotojournalist in der Army.» Nach Vietnam wurde er nicht abkommandiert. «Ich wollte selber dorthin. Es interessierte mich, ich wollte mit eigenen Augen sehen, was dort los ist.» Als er nach My Lai mitflog, hiess es, der Ort sei «heiss», Vietcong würden sich dort verstecken. «Doch das stimmte nicht. Die US-Soldaten wurden weder angegriffen noch beschossen, noch wurden in dem Dorf Waffen und Mitglieder des Vietcongs gefunden.»


Ungläubiges Staunen


Im April 1968, noch vor der Veröffentlichung seiner Fotos, wird Haeberle «ehrenhaft» aus der US-Armee entlassen. Danach beendet er sein Studium und arbeitet zeitweise als Fotograf in Cleveland. In seiner Heimatstadt stellt Haeberle eine Diashow zusammen, die er auf öffentlichen Veranstaltungen zeigt, auch dem Rotarier-Klub. «Ich wollte wissen, wie die Leute darauf reagieren.» In die Mitte der Diaserie mit Aufnahmen aus seiner Dienstzeit placiert er die Bilder des Massakers von My Lai. Ungläubiges Staunen im Publikum, erinnert sich Haeberle, «die Leute konnten sich nicht vorstellen, dass US-Soldaten solche Verbrechen begangen haben. Eine Frau meinte, ich hätte mir eine Seifenoper für Hollywood ausgedacht.»


Haeberle liefert Aufnahmen, die später zur Aufklärung des Kriegsverbrechens beitragen. Zunächst gelingt es dem US-Militär, die Ermordung der Dorfbewohner zu vertuschen – bis im November 1969 Haeberles Fotos in verschiedenen US-Medien erscheinen, zuerst im «Cleveland Plain Dealer» und dann im renommierten «Life Magazine». Dafür erhält Haeberle im selben Jahr den «Dead Line Award» der New Yorker Journalistenvereinigung. Geehrt fühle er sich bis heute nicht, so Haeberle, «und es macht mich auch nicht stolz, über das Massaker berichtet zu haben. Aber mit meinen Bildern konnte das Kriegsverbrechen bewiesen werden.»


Die Vereinigten Staaten sind schockiert: Die eigenen Soldaten, Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie gegen den Kommunismus, entlarvt als eine Bande von Massenmördern. Die US-Armee setzt den Drei-Sterne-General William Peers als Sonderermittler ein. In seinem Abschlussbericht beschreibt Peers auf mehr als 20 000 Seiten das Bild einer maroden Militärführung. Und er belegt, dass die Geschehnisse in My Lai nicht die Ausnahme, sondern die Regel während des Vietnamkrieges waren.


Knapp ein halbes Jahrhundert später berichtet Ronald L. Haeberle mit ruhiger Stimme von den Geschehnissen. Dass er damals auf den Auslöser der Kamera drücken konnte, verwundert ihn bis heute. «Ich war total schockiert. Ich stand irgendwie neben mir, als wäre ich ganz weit weg. Wissen Sie, es war Krieg. Während des Mordens haben die Soldaten sogar Mittagspause gemacht. Ich habe auch das fotografiert, ich wollte diesen Wahnsinn dokumentieren.»


Als einen Robin Hood sieht er sich nicht, «aber mit meinen Bildern wollte ich den Leuten zeigen, dass wir Amerikaner nicht einfach nur die Guten waren». Kriegsfotograf habe er nach My Lai nie werden wollen, sagt Haeberle. Mit seiner Vorgeschichte wäre er immer als Denunziant abgestempelt worden. Seit dem ersten Golfkrieg sei es ohnehin undenkbar, dass Kriegsjournalisten nicht genehmigte Aufnahmen veröffentlichten, ganz zu schweigen, dass jemand seine Kamera sozusagen am US-Militär vorbei benutzen könne. Ob es richtig sei, dass die Medien Bilder der Gewalt veröffentlichen? Ja, resümiert Haeberle, mit einer Ausnahme: Die Erschiessung Usama bin Ladins hätte man nicht zeigen sollen.


Haeberle lebt heute 30 Kilometer südwestlich von Cleveland in einem schmucklosen Vorort: weiss gestrichene Einfamilienhäuser, Doppelgaragen, gepflegte Vorgärten, Mittelstand. Freundlich und ungezwungen geht es bei ihm zu Hause zu. An den Wänden hängen Miró-Drucke, auf dem Kaminsims stehen ein blaues Gefäss (Ashes for old lovers) und der «Dead Line Award», eine hässliche Plastik aus Bronze. Haeberles grosse Leidenschaft sind Fahrräder. Er sammelt Bikes. Sein ganzer Stolz ist die neueste «Rennmaschine» aus Kohlefaser. Haeberle ist mittlerweile 71, Rentner und noch immer sportlich. Zweimal ist er nach Vietnam als Tourist zurückgekehrt, zuletzt 2011. «Ich habe eine Fahrradtour von Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt (ehemals Saigon) unternommen.» Auch in My Lai war er («Das war eine innere Verpflichtung»), die Gedenkstätte hat er ebenfalls besucht: «Das war für mich eine Geste der Ehrerbietung an die Opfer.»


Begegnung mit einem Überlebenden


Ronald L. Haeberle ist ein rationaler Mensch, keine Gefühlsausbrüche, wenn er über das Morden von damals spricht. Bis heute hat er keine Albträume. Er spricht gelassen und mit wenigen Gesten, stets zuvorkommend und freundlich, im grauen T-Shirt (I love Laos), in verwaschener Bluejeans und mit schütterem Haar. Grossgewachsen ist er, mit wachem Blick und eleganter Designerbrille. Nur im letzten Jahr sei er den Tränen nahe gewesen, sagt Haeberle, als er einen Überlebenden getroffen habe. «1968 hatte ich eine sterbende Mutter fotografiert, die im Todeskampf ihr Baby und ihren kleinen Sohn zu schützen versuchte.»


Auf Haeberles Fotos sind die schweren Verletzungen der Mutter zu sehen. In den Medien wird dieses Bild nur selten gezeigt – es ist zu grausam, zu schockierend. Der 6-jährige Knabe von damals lebt mittlerweile in Deutschland. Duc Tran Van, 51, und der Fotograf von My Lai sind Freunde geworden. Haeberle ist innerlich bewegt: «Ich habe Duc die Kamera gezeigt, mit der ich die Bilder von ihm und seiner sterbenden Mutter aufgenommen habe. Die Kamera und die Bilder sind ein starkes Band zwischen uns!» Heute befindet sich Ronald L. Haeberles Kamera von 1968 bei Duc Tran Van in Remscheid. Sie steht auf einem kleinen Altar vor dem Bild seiner ermordeten Mutter. Haeberle hatte sie ihm geschenkt.

Duc Tran Van und sein Brüderchen haben das Massaker überlebt. Ronald L. Haeberle hat auch ihre ermordete Mutter fotografiert – ein Bild weit jenseits des Erträglichen.


Bis heute haben die USA keine Entschädigung an die überlebenden Opfer gezahlt. Haeberle hält von solchen Wiedergutmachungsleistungen überhaupt nichts. «Und wissen Sie warum? Das Geld würde diejenigen, die es brauchten, nie erreichen. Die US-Regierung sollte vielmehr alles dafür tun, damit Vietnam von den Resten des hochgiftigen Entlaubungsmittels Agent Orange gereinigt wird. Im ganzen Land steckt das gefährliche Zeug noch im Boden und vergiftet alles. Das würde den Menschen wirklich helfen!»


Quelle: NZZ, 12.9.2012