Bis zum Kölner Beschneidungsurteil war ich wie fast jeder der Überzeugung, dass die weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) eine schwere Menschenrechtsverletzung sei, die männliche „Beschneidung“ (Male Genital Mutilation, MGM) jedoch eigentlich kein Problem darstelle. Die Debatte der letzten Wochen und die Flut an Informationen über männliche „Beschneidung“ haben das gründlich geändert. Informationen im Übrigen, die für alle frei zugänglich sind. Die Tabuisierung jeglichen Vergleichs von männlicher mit weiblicher Genitalverstümmelung ist der große Skandal der Debatte. In beiden Fällen wird der empfindsamste und erogenste Teil des menschlichen Körpers amputiert oder schwer beschädigt. In beiden Fällen geht es in erster Linie um die Beschneidung menschlicher Sexualität. Der Intaktivist und erklärte Feminist Travis Wisdom spricht sich in seinem Artikel Questioning Circumcisionism dafür aus, auch die männliche Genitalverstümmelung als feministisches Anliegen zu begreifen, insofern der Feminismus keine Bewegung gegen Männer, sondern eine Menschenrechtsbewegung gegen Sexismus ist. Die Ungleichbehandlung von Kindern allein aufgrund des Geschlechts ist ein klarer Fall von Sexismus. Er definiert „Circumcisionism“ als herrschenden Diskurs, der systematisch und erfolgreich eine Realität konstruiert, in der Kinder mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen, der chirurgisch zu beheben sei. In den jüdisch-christlich geprägten USA trifft es Jungen, in anderen Kulturen Mädchen. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass es gegen FGM weltweit Gesetze gibt, sogar in den Staaten, in denen die Tradition verbreitet ist, während MGM gesellschaftlich akzeptierte Praxis ist. Travis Wisdom erinnert daran, dass gerade feministische Aktivistinnen sehr viel Erfahrung mit struktureller Gewalt haben, die durch herrschende Diskurse konstruiert, banalisiert und verfestigt wird, und dass gerade sie die nötige Sensibilität haben sollten, um gegen gesellschaftlich akzeptierte und bagatellisierte Diskriminierungen und sexistische Ungerechtigkeiten aktiv zu werden. Die sexuelle Lust wird durch die Beschneidung nicht gemindert, sofern alles richtig gemacht wurde und gut verheilt ist. (Für eine Widerlegung siehe meinen vorhergehenden Artikel, insbesondere dieses Video.) Wer Miriam Pollack zuhört – und vor allem ihr dabei zusieht, wie sie über ihren Schmerz und ihre Schuldgefühle spricht – der versteht vielleicht besser, warum auch Frauen zu Opfern der Tradition der männlichen „Beschneidung“ werden. Wir erwarten normalerweise, dass die Frontlinie des Feminismus zwischen den Geschlechtern verläuft. Aber in diesem Fall ist der Mann ein Säugling oder ein Kind, und er ist kein Feind. In diesem Fall verläuft die Frontlinie zwischen den Verfechtern einer vormodernen, von Göttern diktierten Moral, und den Anhängern einer modernen, von Menschen vereinbarten Moral. Die Frontlinie verläuft zwischen denjenigen, die in den Menschenrechten eine ärgerliche und zu überwindende Ablenkung vom göttlichen Gesetz sehen, und denjenigen, die eben genau in diesen Menschenrechten die epochale Überwindung eines jahrtausendealten Kollektivismus sehen, die Befreiung des Individuums vom Zwang durch Kollektiv, Volk, Sippe und Religion. Die hanebüchenste Begründung dafür, beide Formen der Genitalverstümmelung unterschiedlich zu behandeln, habe ich in einer Erklärung des Zentralrats der Juden gelesen: Es sollte nicht übersehen werden, dass die Beschneidung einer Frau nicht auf religiösen Gründen basiert, sondern auf kulturellen Traditionen und Mythen. Die Implikation dieser nackten Unverschämtheit anderen „kulturellen Traditionen und Mythen“ gegenüber dürfte den Kämpfern gegen die FGM kaum gefallen: Wären die Traditionen keine bloß „kulturellen“, sondern ebenfalls „religiöse“, so wäre die Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsteile genauso in Ordnung wie die der männlichen! Wer also FGM verbieten und MGM zulassen möchte, muss zusammen mit den orthodoxen Juden dafür argumentieren, dass Religion etwas anderes ist als eine Sammlung „kultureller Traditionen und Mythen“. Ein sehr dünner Faden, an dem ein Verbot weiblicher Genitalverstümmelung dann hinge. Auch Leonard B. Glick schreibt in seinem Buch Marked in your Flesh, dass die Praxis der MGM vor allem von der Ignoranz der Menschen lebt, und von ihrer Bereitschaft, eine gesellschaftliche Norm einfach zu akzeptieren, ohne sie zu hinterfragen. Das gilt vor allem für die Beschneidung als religiöse Norm. Es ist mir fast schon peinlich, das überhaupt hinschreiben zu müssen, aber offenbar versteht es sich nicht von selbst (und auch Glick sieht sich genötigt, auf seine historisch-kritische Perspektive explizit hinzuweisen): Die Beschneidung wurde den Juden nicht wirklich von Gott abverlangt. Das ist ein „kultureller Mythos“. Die Juden haben dieses Ritual von benachbarten Völkern übernommen und sich die Geschichte vom abrahamitischen Bund ausgedacht. Durch die Beschneidung wurden die männlichen Kinder veredelt, sie wurden durch Beschneidung – in einer semantischen Perversion, wie sie für Religionen typisch ist – erst vollkommen. Frauen hatten niemals die Chance, auf diese Weise vollkommen zu werden. Die Juden biblischer Zeiten kannten zwei Arten von Blut. Das männliche Blut, als Inbegriff einer heiligen Substanz, und das weibliche Blut, als Inbegriff der Unreinheit (siehe Levitikus 12). Durch Menstruation werden Frauen unrein. Sie müssen sich dann durch rituelle Tieropfer erst wieder reinigen. Auch die Geburt macht Frauen unrein. Auch danach muss eine rituelle Reinigung erfolgen. Allerdings ist auch das männliche Kind durch den Kontakt mit dem weiblichen Blut zunächst unrein, und zwar sieben Tage lang. Am achten Tag ist das Kind lange genug nicht mehr in Kontakt mit dem weiblichen Blut, jetzt kann es durch das Vergießen seines eigenen Blutes veredelt werden. Die rituelle Vorschrift, dass Jungen am achten Tag beschnitten werden sollen, hat also nicht etwa irgendetwas mit einer Rücksicht auf die Schwäche der Säuglinge zu tun, mit der Sorge etwa, dass sie die Folter vorher nicht durchstehen könnten, nein, es hat alles nur mit den religiösen Wahnvorstellungen von reinem und unreinem Blut zu tun! Die Religion schafft es also tatsächlich, selbst aus der rituellen Folterung männlicher Kinder einen frauenverachtenden Akt zu machen. Respekt! Es gibt noch ein pragmatisches Argument dafür, sich als FGM-Aktivist nicht allzu lautstark gegen männliche Beschneidung einzusetzen. Sami Aldeeb erzählt in seiner Rezension zu Glicks Buch folgende Anekdote: January 12, 1992, I paid a visit to the World Health Organisation (WHO) in Geneva, where I met Dr. Leila Mehra. […] I asked her: “Why the WHO is concerned only with female circumcision and doesn’t consider male circumcision?” She responded: “Male circumcision is mentioned in the Bible. Do you want to create problems for us with the Jews?” „Wollen Sie, dass wir Probleme mit den Juden bekommen?“ Das ist vielleicht ein pragmatisch gültiges Argument, und es ist selbst nicht sexistisch, aber dafür ist es antisemitisch. Es baut die „einflussreichen jüdischen Kreise“ vor uns auf, die selbst der WHO im Handumdrehen den Geldhahn abdrehen könnten. Dabei dürfte die Erwähnung der Beschneidung in der Bibel aber nur orthodoxe Juden interessieren. Unterschlagen werden dabei die ganzen innerjüdischen Bestrebungen, jetzt endlich diesen barbarischen Atavismus der eigenen Kultur zu überwinden. Die Chancen standen noch nie so gut. Frühere Beschneidungsgegner waren tatsächlich meist Antisemiten, und die Kinder waren ihnen egal. Das ist jetzt anders. Jetzt geht es nur um die Kinder und um ihre Rechte, um ihre Menschenrechte. Jetzt geht es eigentlich überhaupt nicht um Juden. Die aktuelle Opposition gegen die Beschneidung ist nicht antisemitisch. Zwei klare Indizien sprechen dafür: Allen Kämpfern gegen FGM, die sich zweifellos für das Gute engagieren möchten, sei versichert: Es wird nicht funktionieren, die beiden Formen der Genitalverstümmelung gegeneinander auszuspielen! Menschenrechte gelten individuell, sie gelten universell und sie sind unteilbar. Dazu noch einmal Sami Aldeeb: Western intellectuals, activists and politicians do not hesitate to attack the Africans without any restraint or respect for their feelings, probably to show their “moral” superiority. Instead of attacking female circumcision, they should first clean their own house by abolishing male circumcision. They forget one important principle: without abolishing male circumcision, it is impossible to abolish female circumcision. Quelle, 11.9.2012
Der größte Erfolg dieses Beschneidungsdiskurses in unserer Kultur ist wohl, dass die Meinung vorherrscht, eine Vorhaut schade vielleicht nicht, aber sie nütze auch nichts. Daher habe ein Mann ohne Vorhaut im Grunde nichts verloren. Diese Ansicht ist so weit verbreitet, dass sie sich sogar in dem hochgelobten Aufklärungsbuch der Sexologin Ann-Marlene Henning findet:
Dieser Satz in einem – ansonsten hervorragenden – sexuellen Aufklärungsbuch macht aber noch etwas anderes deutlich: Der Beschneidungsdiskurs ist in erster Linie ein Diskurs der Desinformation. Die Ignoranz in Bezug auf die männliche sexuelle Anatomie ist der Normalfall. Viele Aktivistinnen in der Bewegung gegen männliche Beschneidung in den USA sind traumatisierte Mütter, die an ihrer Ignoranz verzweifeln, weil sie erst nach der Routinebeschneidung ihrer Söhne auf die entscheidenden Informationen stießen (Dazu zählt auch Marylin Faire Milos, die Gründerin von NoCirc.) Oft sagen sie: „Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, dann hätte ich niemals zugestimmt.“ Daher ist gerade bei diesem Thema Information eine wirksame Waffe. Und daher auch der Slogan: Beschneidung. Je mehr Du weißt, desto mehr bist Du dagegen.
Glick beschreibt die Entstehung des bizarren Rituals der Vorhautamputation in Gesellschaften, in denen Frauen nichts weiter waren als männlicher Besitz. Entweder sie gehörten ihrem Vater oder ihrem Ehemann. Emblematisch für den Status der Frau in bronzezeitlichen Gesellschaften ist das 10. Gebot aus der Bibel geworden: „Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.“