Vor allem drei Merkmale zeichnet die europäische Kultur aus. Erstens der Republikanismus: Die politischen Gemeinschaften sind gegründet auf die Partizipation der Bürger; diese nehmen mittels institutionalisierter Verfahren an den Entscheidungen und Beschlüssen teil. Zweitens der menschenrechtliche Universalismus: Ihm verdanken wir die Menschenrechte und die weltweite Abschaffung der Sklaverei. Drittens die Wissenschaftlichkeit: Alle Fragen nach „richtig“ oder „falsch“, die nicht moralischer oder religiöser Art sind, sind zu beantworten im Medium des wissenschaftlichen Forschens. Von diesen Besonderheiten stammen die erste und die dritte aus der griechischen Antike, die zweite ist im christlich-evangelikalen Kontext entstanden. Das Gerede von „unserer jüdischchristlichen Kultur“ bezeugt da-rum eine ähnliche Ignoranz wie die Behauptung von Herrn Mazyek, Europa stehe auch auf islamischmorgenländischen Beinen. Denn was dem islamischen Kulturraum knappe 500 Jahre lang einen Vorsprung vor dem europäischen verschaffte, seine Überlegenheit in Wissenschaft und Technik, entstammt der griechischen Kultur. Den Gelehrten der persisch-arabischen Welt gebührt Ehre dafür, dass sie die griechische Philosophie, Mathematik, Astronomie, Geografie, Kartografie, Mechanik, Medizin und teilweise Technologie bewahrt und tradiert haben. Aber die Fortschritte, die das „islamische Morgenland“ in einem halben Jahrtausend auf diesen Gebieten machte, nehmen sich bescheiden aus gegenüber dem gewaltigen wissenschaftlichen Kapital, das es aus der hellenistischen Kultur erbte. Und die großartige republikanische und demokratische Tradition der Griechen fand in der islamischen Kultur überhaupt keine Fortsetzung. Die theokratische Durchdringung des Politischen ließ für republikanische Gemeinwesen, in welchen die Bürger sich frei ihre Gesetze und ihre Verfassungen geben, nicht den mindesten Spielraum. Wo hat es je unter islamischer Herrschaft sich selbst verwaltende Bürgerschaften gegeben, wo beschließende Volksversammlungen, wo Parlamente? Nirgendwo finden wir reguläre Wahlen, nirgendwo Abstimmungen, nirgendwo städtische Verfassungen, nirgendwo ein Rathaus. Nichts von jener politischen Kultur, welche in West- und Mitteleuropa sich seit dem Mittelalter in Hunderten von Städten allmählich heranbildete. Darum hielt es Jacob Burckhardt für „ein Glück, daß Europa sich im ganzen des Islams erwehrte“.
Manche Wissenschaftler versuchen, die Trennlinie zwischen diesen politischen Kulturen zu verwischen. Aber welchen wissenschaftlichen Wert hat die Behauptung, einen Gottesstaat könne man ebenfalls Republik nennen, wenn die betreffende Islamwissenschaftlerin auf einer internationalen Konferenz im Herbst 2010 sich kleinlaut in der Runde erkundigen muss, ob das Dreiklassenwahlrecht Preußens demokratisch sei oder nicht?
Benjamin Constant nannte die politische Freiheit das größte Geschenk, das der Himmel uns gegeben hat. Er irrte. Nicht dem Himmel, sondern der griechischen Klassik verdanken wir sie. Geschenke der kulturellen Tradition sind bitter erkämpfte Errungenschaften. Sie gehen schnell verloren. Aber sie können auch angenommen werden. Als Cem Özdemir einwarf, „es kann keinen Zweifel daran geben, dass der Islam, der Teil unseres Landes ist, unter dem Dach unseres Grundgesetzes gelebt werden muss“, hat er das Entscheidende getroffen: Ein Islam unter dem Dach des Grundgesetzes kann gewiss Teil unseres Landes sein, kann Teil der europäischen Kultur werden und diese bereichern. Der Abgeordnete Mehmet Kilic hat kürzlich in Pforzheim Exemplare des Grundgesetzes verteilt als Antwort auf die Koran-Verteilung jener Islamisten, die in Bonn auf bürgerkriegsähnliche Art 29 Polizisten verwundeten. Es ist eine Ehre für einen Staat, wenn Bürger muslimischen Glaubens so für seine Verfassung einstehen. Und es ist eine würdevolle Bereicherung unserer politischen Kultur.
Source: Focus,
Montag, 25.06.2012