Londonistan Is Burning



Land ohne Herz
, so lautete der Titel eines Bestsellers der Nazizeit, Maßloser Kontinent ein anderer unter vielen, die nur eines im Sinn hatten: Die angelsächsischen Länder als Pfuhl des Egoismus, als Heimstatt verdorbener Seelen, als Hölle aus sozialen Konflikten und rücksichtsloser Brutalität zu malen. Es klingt gerade im August 2011 vertraut, wie die Nazi-Autoren die USA, aber auch England (1)denunzierten: Als Länder mit riesigen sozialen Problemen, in denen eine verantwortungslose, raffgierige Oligarchie sich eine ebenso verderbte Unterklasse geschaffen hätte, deren Kulturlosigkeit durch den Rassenmischmasch auf die Spitze getrieben würde. Hitler selbst urteilte bündig über das von einer „englisch versippten Plutokratie“ beherrschte städtische Amerika: „Es ist ein innerlich faules Land mit Rassen­problemen und sozialer Ungleichheit, ein Land ohne Ideen […] Meine Gefühle für Amerika sind voller Hass und Wider­willen; halb verjudet, halb vernegert und alles auf dem Dollar beruhend.“ (2)

„Verjudet“ ist als Invektive aus der publizistischen Sprache nach 1945 verschwunden und doch haben sich die deutschen Ansichten über die herzlosen Länder im Westen ansonsten wenig geändert. Die Kommentare zu den Riots, die nach der Erschießung von Mark Duggan durch Polizisten am 4. August und einem Protestmarsch im Londoner Stadtteil Tottenham am 6. August in nahezu allen ärmeren Vierteln englischer Großstädte ausbrachen (3), belegten dies mehr als deutlich: Kaum ein Journalist verkniff es sich, die Bilder von Ladenplünderungen, Straßenraub, Brandstiftung, Nötigung und Körperverletzung in hergebrachter Weise zu deuten. Die Rede war stets davon, dass eine Gesellschaft, die dem Mammon so huldige wie die britische, sich nicht wundern dürfe, wenn sich die Unterklasse genauso „materialistisch“ benähme, wie es ihr eine kaltschnäuzige Oberschicht vormache. (4) Am deutlichsten zeichnete die Süddeutsche Zeitung (10.8.2011) das hergebrachte Bild vom perfiden Albion: „Anderswo mögen Hausbesitzer ihre Hypotheken nicht mehr bedienen können, doch die Preise für Penthouse-Apartments in Knightsbridge oder Kensington ziehen weiter kräftig an. Die Diamantenhändler in Hatton Garden, die Herrenausstatter in der Jermyn Street und die Nobellimousinen-Verkäufer an der Park Lane klagen nicht über schwindende Nachfrage. Und derweil Schatzkanzler George Osborne mit der einen Hand Sozialleistungen kürzt, lockt er mit der anderen Reiche aus aller Welt mit Konditionen ins Land, die den Finanzdirektor eines Schweizer Niedrigsteuer-Kantons vor Neid erblassen ließen. Dies ist der Hintergrund, vor dem man die Ausschreitungen quer durch die Elendsviertel der britischen Hauptstadt und in anderen Landesteilen betrachten muss.“ Und so fährt der SZ-Kommentator Wolfgang Koydl denn auch fort: „Das macht aus den Unruhestiftern von Tottenham und Peckham keine soziale oder gar revolutionäre Bewegung. Wer Supermärkte abfackelt, Handy-Shops plündert und Polizisten mit Spitzhacken attackiert, handelt kriminell und muss wie ein Krimineller behandelt werden. Dennoch sind die Unruhen ein Indiz für eine breitere, tiefer sitzende Malaise […] Diese Nation aber zerbricht an ihren Widersprüchen und ihrer Ungerechtigkeit. In keinem anderen europäischen Staat ist die Ungleichheit derart zementiert wie im Königreich.“ Dass dieses Faktum tatsächlich aber nur einen graduellen und keinen wesentlichen Unterschied zur Lage in anderen europäischen Staaten beschreibt, das tut in so einer Suada nichts zur Sache, denn die statistisch messbaren Unterschiede in Lebensqualität und auch Lebenserwartung zwischen München-Grünwald und Berlin-Wedding dürften wohl nur unwesentlich geringer ausfallen als die zwischen London-Mayfair und Liverpool-Toxteth. Der gesellschaftliche Unterschied zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland liegt auf jeden Fall nicht darin, dass insbesondere die U-30-Population verarmter Immigranten-Stadtbezirke aus der gesellschaftlichen Partizipation qua klassischer Lohnarbeit nahezu ausgeschlossen ist. Das nämlich trifft auf beide Länder ebenso zu, wie es auch für Frankreich oder Italien stimmt.

Und so nimmt es nicht wunder, dass keiner der unzähligen deutschsprachigen Kommentatoren eine Erklärung für die landesweite Synchronizität der Riots, für die offenbar gleichartigen sozialen Strukturen und mentalen Dispositionen an über fünfzig verschiedenen Orten des Landes liefert, die über ein autoritäres Lamento mit mehr oder weniger traditioneller anti-englischer Ausrichtung hinausginge. Mehr Disziplin an den Schulen verlangt beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 19.8.2011 und kritisiert, „eine kindzentrierte Pädagogik, die in Großbritannien selbst auf jene Institutionen übergegriffen hat, die noch für Disziplin und ein klares Wertesystem einstehen“; nüchterner bleibt da das Handelsblatt und titelt am 9.8.2011: „Der Sparzwang schürt die Gewalt“. Und dagegen helfe nur mehr Staatsknete (wie das früher im Autonomensprech hieß) für alles und jeden, folgert Günter Lachenmann in der Welt am 11.8.2011 und analysiert: „Was die westliche Welt derzeit erlebt, ist das Verschwinden verantwortlicher Politik. Längst ist die Macht dort, wo das Geld ist. Die Politik hat sie ohne Not hergegeben und sich selbst in einen bitterbösen Wahn geflüchtet, der nur durch das Aussperren der Realität zu erhalten ist.“

Käfighaltung in Tottenham

In dieser Perspektive etatistischer Nostalgie verkommen häufig auch richtige Beobachtungen wie die, dass es gerade in vormals industriell geprägten Städten und Stadtteilen abertausende Familien gibt, die bereits in dritter Generation von Sozialhilfe leben. Schlagzeilen wie „Aufruhr der Abgehängten“ (SZ), „Aufstand der Frustrierten“ (Spiegel) oder „Der Aufstand der Verlierer“ (FAZ) zeigen nämlich keine kritische Einsicht in das Wesen sozialpolitischer Segregation, sondern nur die den Kommentator gruseln machende Aussicht darauf, dass die Einhegung der gesellschaftlichen Problemzonen scheitert und zwar so, dass die dortige Gewalt und Panik vielleicht nicht mehr nur die Insassen jener Viertel und damit deren Schulen und Ämter alltäglich trifft.

Die links sich gebende Vorstellung jedenfalls, dass die im Frühjahr von der britischen Regierung beschlossenen Etat-Kürzungen der stillschweigende Auslöser für die August-Riots gewesen wären, impliziert zugleich, dass es keine Ausschreitungen gäbe, flösse nur etwas mehr Sozialhilfe, gäbe es ein etwas weniger schlechtes Gesundheitssystem oder ein paar mehr Sozialarbeiter und erzieherische Institutionen. Das wiederum bedeutet aber in der Konsequenz, die Lebenssituation, die Rizwana Hamid, eine eloquente Bewohnerin Tottenhams, der BBC gegenüber trefflich als „Käfighaltung“ (www.bbc.co.uk/news/uk-14443866., 8.8.2011) beschrieben hatte, für erträglich und angemessen zu erklären, sofern dieser Käfig nur hinlänglich ausstaffiert bleibt – in anderen Worten: die Unterklasse als ewig passiven Transferempfänger und damit als Beschäftigungsmilieu für die ureigene Pädagogen-Klientel zu konservieren.

 

 

 

II.

Blackberries sind ein Hilfsmittel, ihre Verfügbarkeit aber keineswegs der Grund für die Synchronizität der Gewaltausbrüche im August. Für die sorgte vielmehr die Gleichheit der Lebensbedingungen in den betroffenen Vierteln: Im kommunitaristischen England werden die Einwohner missliebiger Stadtgebiete dort unter Verschluss gehalten, wo sie bereits seit Jahrzehnten zu wohnen gezwungen sind. Fast automatisch kommt einem dabei John Carpenters dystopische Zukunftsvision in den Sinn, die er in seinem Film „Die Klapperschlange“ 1981 entwarf: Manhattan ist hier ein abgeriegeltes Freiluftgefängnis, das von außen ernährt wird, aber sich selbst regiert und deshalb in einen urtümlich anmutenden Zustand des Bandenkriegs zurückfällt.

Nun wird Tottenham nicht wie Carpenters Film-Manhattan durch hohe Mauern und gesprengte Brücken vom restlichen Land getrennt, und doch trifft das Bild Rizwana Hamids vom Käfig zu: Sie meint damit das Leben in von der Politik erzwungenen „Communities“, in die die Einzelnen tatsächlich gesperrt sind, solange es ihnen nicht gelingt, so viel zu verdienen, dass sie wegziehen könnten. Ansonsten bleiben sie „wie gefangene Tiere“ (Hamid) an ihr Ursprungsmilieu gekettet, weil das ganze sozialpolitische Instrumentarium auf die „Community“ zugeschnitten ist und von lokalen Trägern (in staatlichem Auftrag) verwaltet wird, ob es sich nun um Wohngeld, Sozialhilfe, Gesundheitsdienste oder sogar Polizeibefugnisse (5) handelt.

Diese Entwicklung ist weder naturwüchsig eingetreten noch still und leise vorangetrieben worden; nein, Radikal-Kommunitarismus war die ausposaunte Agenda von New Labour, mit der die Partei Blairs und Browns die Wahlen 1997 gewonnen hatte. „Das Recht, Mitglied einer funktionierenden Gemeinschaft zu sein, gehört zu den wichtigsten Rechten des Individuums. Der zentrale gesellschaftliche Wert ist Inklusion, viel mehr als die Gleichheit, nach der die Alte Linke strebte, oder die individuelle Autonomie der Neuen Rechten“, betonte Blair in einer Wahlkampfrede damals (6) und machte sich als frisch gebackener Regierungschef auch gleich ans Werk: Ein kompliziertes Geflecht aus freien Wohlfahrtsträgern, staatlichen Koordinationsstellen, örtlichen Beiräten und so genannten „community leaders“ entstand insbesondere in „low income neighbourhoods“; ein Netzwerk lokalerpartnerships, in der sich der Wohlfahrtsstaat vorhandener (oder auch nur eingebildeter) kommunitä­rer Strukturen bediente, um die notorische Finanzierungskrise der Sozialpolitik mittels „Kultur“ zu beheben (govern by culture ist ein mittlerweile gängiger sozialwissenschaftlicher Terminus, um die New-Labour-Sozialpolitik zu beschreiben): Health Action ZonesEducation Action Zones und Employment Zonesumschließen und definieren seit 1998 genau die Stadtteile, in denen in diesem Sommer die Flammen loderten. (7) Denn Blairs new deal for communities war alles andere als ein bloßer Papiertiger, sondern strebte sein Ziel konsequent an, nämlich die möglichst kostengünstige Delegation vormals zentralstaatlicher Sozialaufgaben: Vor allem die Onkelökonomie der pakistanisch (und auch westindisch) geprägten Viertel konnte nun mit offizieller Billigung die andernorts nahezu unverkäufliche Arbeitskraft junger Menschen absorbieren und diese auch ansonsten wieder unter soziale Nahkontrolle stellen; wie und was dabei vonstatten geht, wie die finanziell und organisatorisch unterstütz­te und gestärkte Community in ihrem Inneren tatsächlich beschaffen ist – all das soll den beflissentlich multikulturellen ­Staat dann nicht mehr interessieren müssen. Im Gegenteil: Konsequent definierte der damalige New Labour-Schatzkanzler und spätere Premierminister Gordon Brown bei den Millenniumsfeiern 2000 die moderne britische Nation als eine „Community von Communities“. (8)

Ebenso offenherzig spricht auch die britische Politikberatung über Vor- und Nachteile
des Regierens mittels Kommunalisierung. „Die Neuerfindung der Communities“ betitelt John Clark sein Resümee der Blairschen Wende hin zum „Regieren über soziale Nahräume“: „Den ‚Communities‘ wird die Autorität, die Leistungsfähigkeit und die Effektivität zugesprochen – gedacht als politisch-moralische Akteure. Communities bedürfen der Aufmerksamkeit, des Respekts und des Interesses der Regierungsapparate und deren Personals: Konsultations-, Partizipations- und ‚Co-Governing‘-Prozesse bilden wesentliche Elemente New Labours zur Modernisierung des Regierens. Zugleich stellen die Communities Lagerstätten von Werten, Übereinkünften, Ressourcen und Kapazitäten dar, die im Prozess des Co-Governing ‚aktiviert‘ werden können. Eine solche Aktivierung kann unter anderem den zusätzlichen Effekt haben, die Kosten öffentlicher Wohlfahrtsproduktion zu senken […] An bestimmten Stellen werden diese durch das Konzept einer ‚Identitätsgemeinschaft‘ ergänzt. An diesen Stellen befinden sich die multikulturellen und unverwechselbar urbanen Areale, die als Orte von Minderheiten ethnisiert und kommunalisiert werden.“ (9)

Regulation durch Tradition

„Unverwechselbar“ sind diese „urbanen Areale“ beispielsweise durch gelbe Klebezettel und Plakate gekennzeichnet, die den Durchreisenden darauf aufmerksam machen, dass er sich in einer sharia law zone befände und dass dort der Verzicht auf Alkohol, Sex, Musik und Glückspiel durchgesetzt würde (Daily Mail, 28.7.2011) – ein durchaus konsequenter Ton, der da angeschlagen wird, sehen sich die Vollbartträger doch durch staatliche Machtdelegation ermächtigt.

Kenntlich waren diese Viertel natürlich auch schon vor der Machtübernahme Tony Blairs, jedoch nicht in so selbstbewusster Weise. Die konservativen Vorgängerregierungen hatten zwar ebenfalls ein „back to the basics“ in der Sozialpolitik verfolgt, das den bedürftigen Bürger zuallererst auf seine eigenen Ressourcen verwies und damit in der Konsequenz Immigrantennachkommen auf ihre hergebrachten Clan- und Sippenstrukturen zurückwarf. Das war aber nicht auch zugleich der ideologische Leitbegriff konservativer Sozialpolitik: Setzte diese ein in der Praxis natürlich meist ohnmächtiges Individuum in die Leerstellen staatlicher Sozialpolitik, so ließ New Labour den ideologischen Rückbezug auf den einzelnen Bürger gleich ganz fallen und erhob die in den ehemals industriellen Ballungsräumen entstandenen partikularen Kleinststaaten, Parallelgesellschaften und Ganglands zu offiziellen Territorien der Sozialpolitik und die sehr zweifelhaften leaders dieser Territorien damit zu semioffiziellen Polit-Akteuren.

Deregulierung wäre genau der falsche Begriff, um diesen Prozess zu charakterisieren; vielmehr bringt solche Territorialisierung ein deutliches Mehr an Regulation: Die Regeln der Rackets sind strenger und engmaschiger als die jeder klassischen Verwaltung; deshalb wird Horkheimers Alptraum einer völlig verwalteten Welt ohne jegliche Freizügigkeit in der Kleinstaaterei der Communities erst so recht real: „Wenn Banden sich immer und überall bilden und ihre Reviere Gebietskartellen gleichen, entsteht die verwaltete Welt“, hielt Wolfgang Pohrt deshalb zurecht fest. (10) Das London des durch und durch antisemitischen New Labour-Bürgermeisters Ken Livingstone verwandelte sich so in dessen Amtszeit (2000 bis 2008) zu einer sozialdemokratisch-multikulturalistischen Reprise des Chicago der 1920er Jahre, einer islamischen Farce auf die legendäre Kooperation von Gangstertum und Administration, in der sich das arme slumtown und das administrative racketville ergänzt hatten. (11) Wie in den 1920er Jahren dort korrupte Gewerkschaften und ethnisch-großfamiliär organisierte Stadtviertel das System Al Capone entstehen ließen und so darüber bestimmten, wer gewählt wurde und wer nicht, so entschieden im vergangenen Jahrzehnt in London Ethno-Clans und Großfamilien mit meist islamischem Background über Erfolg und Nicht-Erfolg von New Labour: Was 1920 in ChicagoSlumtown hieß, ist Briten unter dem bezeichnenden Namen Londonistan geläufig, deren Verhältnis zu Parlament und Rathaus eine Studie der (kaum Labour-kritischen) Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2006 so beschrieb: „In der Tat ist interessant zu sehen, wie sehr gerade Labour-Administrationen auf lokaler und nationaler Ebene sich der Logik einer essentiell religiösen Definition der Identität von Immi­grantengruppen unterworfen haben und diese mit ihrer Politik selbst verstärken. Labour hat sich von Anfang an stark auf traditionelle und religiöse Führer innerhalb der Zuwanderergemeinden gestützt und damit deren Rolle massiv gestärkt […] Diese Politik hat zu paradoxen Allianzen geführt, wo sich prinzipiell sehr verschiedene Weltanschauungen in einer kaum mehr auflösbaren wechselseitigen Abhängigkeit befinden. Heute ist Labour in vielen Wahlkreisen in den Großstädten Englands strategisch auf die Wählerstimmen der muslimischen Zuwanderer angewiesen, welche sich im Rahmen der patriarchalisch-autoritären Sozial- und Familienstrukturen der islamischen Parallelgesellschaft auch relativ effizient mobilisieren lassen.“ (12)

 

 

 

III.

Dass Bandenbildung dort irgendwann die einzig effektive Organisationsform wird, wo der Staat selbst die Bande zum Organisationsprinzip seiner Sozialpolitik gemacht hat und der ehemalige Premier – wenn auch in gesetzten Worten – die alte Autonomen-Parole „Bildet Banden“ propagiert, ist unvermeidlich. Ebenso unvermeidlich aber ist, dass diese Banden getreu ihrem eigenen Organisationsprinzip keine stabile Herrschaftsform abgeben, sondern dass der ewig währende Kampf um Territorien und Beute, das brutalisierte Aufbegehren gegen Enge, Langeweile und die alten Kapos (13) stete Unruhe schaffen. Der New Labour-Wahn, mit Familie, Nachbarschaft und Religion die Unterschichten ruhig stellen zu können, indem man so insbesondere ihren islamischen Kern isoliert und sich selbst überlässt, ist im August vor den Augen der Weltöffentlichkeit gescheitert; denn gerade in den selbsternannten Scharia-Zonen erhielt der in deren Inneren ohnehin permanent geführte Bandenkrieg plötzlich eine neue, einigende Front. Die staatlich anerkannten Platzhirsche, die „community leaders“, konnten die Jüngeren nicht mehr im Zaum halten, ja, deren Destruktions­wille richtete sich diesmal sogar explizit nicht nur wie üblich und alltäglich gegen Schwächere und Nicht-Mitmacher, sondern auch und gerade gegen die Väter und Onkel samt ihrer ökonomischen Infrastruktur aus Läden, Klitschen und Imbissen. Iain Duncan Smith, der konservative Arbeitsminister und Mitglied des Parlamentsausschusses zum Bandenwesen, bestätigt diese ungewöhnliche Vereinheitlichung: Die etwa 200 „postcode gangs“, die sich nach behördlichen Erkenntnissen die Territorien der ärmeren Stadtteile Londons aufteilen, hätten für die Tage des Aufruhrs kooperiert: „Normalerweise bekriegt jede postcode-gang die andere. Jetzt gibt es Anhaltspunkte dafür, dass alle Gangs während der Riots einen Waffenstillstand einhielten und untereinander Informationen austauschten“, sagte der Minister (Spectator, 17.8.2011).

Natürlich handelte es sich dabei nicht um einen formal abgesprochenen Pakt, sondern um eine spontan einheitliche Reaktion auf die Verletzung der informellen Souveränität der Gangterritorien. Was allen kleinen Gangs nämlich gemein ist: die Ablehnung der großen Gang, als die der Zentralstaat allein noch in die Perspektive dieser Jugendlichen gerät. Der kommunitär unsichtbar gewordene Souverän, der das Gros der Sozialtransfers in die Hände der so genannten „local councils“ gelegt hat, ist mit der Tötung Mark Duggans unvermittelt als Eindringling und Aggressor aufgetreten; ein Eindringen, das mit einer regelrechten Brandschatzungs- und Plünderungswelle quasi vergolten wurde. Die Gangs knackten die Shops und diejenigen, die irgendwie beim Tumult auch mitmischen wollten, klauten danach (und wurden natürlich zahlreich erwischt). (14) Den Gangs selber ging es weniger um Beute als um den Beweis, wer in Tottenham und anderswo über Eigentum und körperliche Unversehrtheit bestimmt, mit wem man rechnen muss – den Gangs – und auf wen kein Verlass ist – die Cops.

Dabei birgt der Angriff der Jungen auf das Eigentum der Väter und Onkel in keiner Weise irgendein Hoffnungs- oder Veränderungspotential, im Gegenteil: jegliche In­frastruktur erscheint den Plünderern rein nur noch als potentielle Beute. Und wenn die denn einmal tatsächlich zu machen ist, wie in den Augusttagen, sieht man das Erbeuten als verdienten Zuschlag auf’s und Entschädigung für’s alternativlose Vegetieren mit Stütze oder mit Einkommen, die nicht einmal dazu reichen, endlich bei den Eltern oder Verwandten ausziehen zu können.

Vom inneren Orient

Was in dieser Perspektive überhaupt nicht mehr in Sicht gerät, ist der vertraglich regulierte Verkauf von Arbeitskraft als alternative Zugangsmöglichkeit zur „ungeheuren Warensammlung“, als die der gesellschaftliche Reichtum erscheint (MEW 13, 15) – die Jungen erkennen ihre tatsächliche Überflüssigkeit auf dem offiziellen Arbeitsmarkt hart, aber realistisch an. Und was für sie akut gilt, gilt potentiell für alle; denn an der Richtigkeit der Diagnose, die Horkheimer am Ende der liberalen Ära stellte, hat sich im seither vergangenen Dreivierteljahrhundert nichts Grundlegendes geändert: Statt „Kontraktpartner“ zu sein, stünden die Massen nur noch vor der Wahl „Bettler, Objekte der Fürsorge“ zu sein oder „unmittelbar Objekte der Herrschaft“. (15) Auch Wolfgang Pohrt hat die Scheinhaftigkeit von Arbeit und Lohn, die doch tatsächlich nur Zuweisung und Gratifikation sind, klar herausgestellt: „Die Menschen werden Rentner und Zwangsarbeiter in einem. Ihre materielle Existenz leitet sich nicht aus einem unverbrüchlichen Rechtsanspruch auf das Entgelt für ihre Arbeitskraft her, und sie wird als Gnadenerweis, als jederzeit widerrufbare Gratifikation empfunden.“ (16)

Der plündernde Prekäre spitzt diese allgemeine Prekarität zu, indem er die für ihn tatsächlich unzutreffende Fiktion des Tausches auch praktisch aufhebt und die ohnehin herrschenden Gewaltverhältnisse nachbildet: Markt war gestern, Beute ist heute; was den oben herrschenden Rackets recht ist, ist den unten herrschen wollenden Gangs billig: „Die Formel vom großen Kuchen, den es zu verteilen gelte, drückt das veränderte Bewusstsein aus. Selbst zu dem, was sie selber produzieren, verhalten sich die Menschen wie zu geraubtem Gut. Weil sie die Welt als Beute betrachten, organisieren sie sich in Banden. Und weil das alle tun, verschwimmen die Grenzen zwischen Einflussnahme, Nötigung und offener Gewalt.“ (17) So sind die Mitglieder jener „am meisten besorgniserregenden 120.000 Familien“, die Premierminister Cameron als Kern der Riots identifizierte (Welt, 7.9.2011), lediglich die zur vollen Kenntlichkeit entstellten Charaktermasken des Spätkapitalismus, die traurige Avantgarde der Überflüssigkeit.

Als ideologischer Niederschlag dieses Zustandes drängt sich wiederum der Islam förmlich auf, und das nicht nur allein deswegen, weil er bei einem
Großteil dieser Familien zu deren hergebrachten Selbstverständnis gehört, stammen sie doch aus Pakistan und Bangladesch (das bis 1971 Ostpakistan hieß). Es sind andere Qualitäten, die den Islam weit über die Frage bloßer Religionszugehörigkeit der Bewohner hinaus zum kulturellen Kernbestand der britischen Ganglands machen. Diese anderen Qualitäten, die die traditionelle Religion einer spätantiken Handels-, Sklavenhalter- und Raubökonomie mühelos in ein postmodernes Konglomerat aus Hassbotschaften verwandeln lassen, durchkreuzen auch die kommunitaristische Einhegungsstrategie. Dabei war es gerade sie, die diese Mutation gefördert hat: Ganz bewusst päppelte New Labour den Islam als Kern und Rollenmodell der Kommunitarisierung der Unterschichten. (18) Kenan Malik beschrieb diesen Prozess ganz empirisch am Beispiel Bradfords, der Stadt mit dem höchsten pakista­nischstämmigen Be­völkerungsanteil Großbritanniens und seit 1989 berüchtigt wegen einer öffentlichen Salman-Rushdie-Bücherverbrennung: Die Islamisierung der asiatischen Jugendlichen „wurde verstärkt durch die neue Bezie­hung zwischen lokalen Behörden und Mo­scheen. 1981 gründete und finanzierte der Stadtrat dasBradford Council Of Mosques und betrachtet dieses Gremium seither als Stimme der Community. Das marginalisierte die säkularen Radikalen – die Vereinigung Asian Youth Movement löste sich auf – und gab religiösen Wortführern neue Macht. Die säkulare Tradition wurde regelrecht ausgelöscht und der militante Islam zum Sprachrohr unzufriedener Jugendlicher. Dieser Multikulturalismus schuf nicht den militanten Islam, schuf ihm aber einen Entfaltungsraum in den britischen Moslem-Communities, die er vorher nicht besaß. Er förderte eine tribalisierte Nation und untergrub fortschrittliche Bestrebungen in den Communities.“ (Born in Bradford, in: Prospect, Ausgabe 11/ 2005).

Die ökonomische und sozialpolitische Segregation schuf, gepaart mit bewusst oder fahrlässig vorangetriebener Islamisierung, in Bradford und anderswo im urbanen Großbritannien Gebilde, die als inneren Orient zu beschreiben sicherlich nicht fehlgeht. Die politische wie ideelle Aufwertung des Islams als Entree-Ticket asiatischer Zuwanderer und ihres Nachwuchses in ein England der Gemeinschaften förderte eine Art von Separatismus, der nicht nur von weitem an die Ideologie der amerikanischen „Black Muslims“ erinnert, eine Ideologie, in der der Wunsch nach territorial-rassischer Segregation mit Versatzstücken aus dem Koran verschmilzt. Mehr aber als in den Vereinigten Staaten, wo der schwarze Islam als synthetische Esoterik aus zweiter und dritter Hand daherkommt und der demzufolge in der islamischen Welt auch als blanke Blasphemie gilt, wird der Islam den pakistanischen Jugendlichen aus erster Hand verabreicht: So markieren die Community-Grenzen denn auch nicht nur schlichte Territoriumsgrenzen für postcode-gangs und Sozialpolitiker gleichermaßen, sondern bilden häufig auch eine Front, an der der imperiale Anspruch des Islams gestärkt mit seiner ganzen inhärenten Aggressivität und seinem Größenwahn sich an der weltlich-westlichen Staatsautorität reibt – wenn sie denn einmal als solche manifest wird.

Gangsta statt Gangster

Daran ändert nichts, dass der Gangland-Islamismus auf ideologische Geschlossenheit verzichtet; man kann den Koran zitieren, man muss es aber nicht können; man sollte nicht gegen die Alkohol- und Drogenvorschriften verstoßen, was viele der gangstas aber nicht hindert es zu tun. Gerade weil er aus der Religion kaum mehr als die ansprüchlich-narzisstische Selbsterhöhung des „Gläubigen“ übernimmt und diese mit allerlei kruden Hass- und Machtfantasien kombiniert, ist dieser Pseudo-Islamismus attraktiv: Die weißen und schwarzen Unterschichten sind so förmlich zur Adaption, Koalition und Mimikry herausgefordert. Der Siegeszug des Hip-Hop als Musik und Life-Style im weitesten Sinne fußte genau auf diesem Phänomen; seine Texte und Sitten reflektieren es überdeutlich. Deshalb ist es auch absurd, aus der vermeintlich überproportionalen Beteiligung schwarzer Briten an den Riots schließen zu wollen, dass das Ganze nichts mit dem Islam zu tun habe. (19)

Statt dass also, wie Labour hoffte, der Glaube zur sozialkonservativen Sistierung in den Armenvierteln beitragen würde, bildete sich eine Art Ghetto-Islam, der dessen aggressive Elemente übernimmt, ohne sich deshalb ins hergebrachte Vater-Onkel-Patriarchat zu integrieren. Die über Generationen hinweg erlernte Überflüssigkeit der Jungen befördert vielmehr ein übersteigertes Selbstbild, ein tatsächlich nur noch auf Gesten reduziertes und deshalb in der Einbildung mächtiges Super-Ego, dessen radical chic sich aus islamischen Stilzitaten bedient. Dass sich der Islam von allen Bekenntnissen am besten zur postmodernen Ausgegrenzten-Religion eignet, hat wiederum mit seiner vorfeudalen Konstitution zu tun: Der Islam als Ideologie einer spätantiken Rentiers- und Raubökonomie (mit der dazugehörigen traditionellen Verachtung der Arbeit) erwacht runderneuert aber im Kern unverändert dort, wo Sozialtransfer kombiniert mit krimineller Aneignung zum Lebensunterhalt beiträgt (und traditionelle Lohnarbeit fern wie der Mond ist).

Das Halskettchen mit dem arabischen Krummschwert hat so die ideologisch neutralen Klunker der klassischen Capone-Gangster abgelöst. Der gangsta hat auch wirklich nicht mehr viel mit dem historischen Typus gemeinsam, den James Cagney oder Edward G. Robinson auf der Leinwand verkörperten. Besetzten diese Gang­ster einst echte Nischen, die der ethisch aufgeladene Produktionskapitalismus beließ, namentlich das Geschäft mit dem Glückspiel oder den Handel mit Alkohol, sind die Nachfahren im diffusen Spätkapitalismus auf die administrativ geschaffenen Schutzräume und Aufbewahrungsareale für die Überflüssigen verwiesen. Und so nimmt es nicht wunder, dass der radical chic der Abgehängten nicht englischen Communities und amerikanischenhoods vorbehalten ist, sondern bei den Eckenstehern aufgegebener Stadtteile in Frankreich ebenso dominiert wie in sozialpädagogischen Institutionen und sozialdemokratischen Gesamtschulen deutscher Großstädte. Auch die Konflikte, die sich in diesen doch so verschiedenen Aufbewahrungsarealen abspielen, ähneln sich in ihrer Struktur: Die Schein-Souveränität des Gang-Territoriums speist sich in allen
genannten Fällen daraus, dass der offizielle Souverän diese Territorien zwar unterhält, deren Insassen aber nicht mehr benötigt und sich deshalb auch nicht mehr darum schert, wie diese Insassen sich benehmen. Eine Gleichgültigkeit, die anerkennende Sozialarbeit, Respekt-Initiativen und Antirassismus nur fadenscheinig bemänteln.

Wo der Einzelne sich kaum mehr mit in der Restgesellschaft geltenden Gesetzen und Normen auseinandersetzen muss, wo Fehlverhalten keinerlei ernsthafte Konsequenz nach sich zieht (wie etwa den Verlust einer ökonomischen Perspektive, die es als lohnende ja ohnehin nicht gibt), steuert die Devianz mit Notwendigkeit auf den Zusammenstoß mit dem Eigentum zu; als einzig noch verbliebene Möglichkeit, überhaupt eine Grenze zu erfahren, an der das eigene Handeln etwas anderes als verständnisvolles Desinteresse zeitigt. Bis es soweit aber kommt, dass wie im englischen August die Polizei einrückt, um wenigstens die Gebäude vor Brandstiftung und die Lager gegen Plünderung zu schützen, haben unzählige Insassen dieser Areale einen Alltag erlitten, in dem sie tyrannisiert, gedemütigt, geschlagen und beraubt wurden und werden. Überflüssigkeit, insbesondere dann, wenn deren Kränkungen mit Islamismus kompensiert werden, zerstört lange vor den Stadtteilen die Moralentwicklung ihrer Bewohner.

 

 

 

IV.

Seit Jahren hat Indymedia nicht mehr so viel Staub aufgewirbelt, so viele empörte Reaktionen in Netz und Presse provoziert wie mit diesen Zeilen, die ein gewisser „riot“ am 9. August um 9 Uhr 27 postete: „Ultimative Riots in London! Fighter-Groups kontrollieren weite Teile der Stadt und lassen die Insignien des Kapitalismus und der rassistischen Ausbeutung in Flammen aufgehen! Jetzt ist kämpferische Solidarität mit den Londoner Genoss_innen gefragt! Schon seit Wochen versuchen (noch) vereinzelte Kämpfer_innen auch in Berlin flammende Zeichen des Aufstandes und der Revolution zu setzen. Fast jede Nacht werden auch in Berlin die kapitalistischen Wohlstandsburgen der saturierten rassistischen ‚Mehrheitsgesellschaft‘ mit Feuer und Flamme angegriffen. Flammende Vorzeichen in Hausfluren, Kellern und auf Dachböden in den zur Yuppiesierung anstehenden Innenstadtbezirken werfen erste Schlaglichter auf den kommenden Aufstand der rassistisch und sozial unterdrückten Massen auch in Berlin!“

Solche Auslassungen sind zwar komplett verrückt, es liegt aber auch eine fatale ideologiegeschichtliche Konsequenz in ihnen. Denn hier schreiben die legitimen Kinder der Autonomia einfach immer so weiter, wie es die operaistischen Radikalen der 1970er einstmals vorgemacht hatten. Und gerade weil das Ergebnis so absurd ist, gibt diese Absurdität unfreiwillig auch die Herkunft der immer noch eingeschliffenen Vorstellungen von Delinquenz als Revolutionsersatz der Kritik preis.

Dieser Ersatz wurde fällig, als in den Krisen der 1970er Jahre berechtigte Zweifel am bis dahin geltenden linksradikalen Credo sich meldeten: Daran nämlich, ob der so genannte „Massenarbeiter“ weiterhin im Fokus revolutionärer Agitation und Hoffnung stehen solle und ob die letzte Schlacht tatsächlich noch an den Fließbändern der großen Automobilwerke zu schlagen wäre. Die „Zentralität der Arbeiterklasse“ (Mario Tronti), die ursprünglich ein politisches Gegenkonzept zum Reformismus der Arbeiterparteien meinte, stand zur Disposition. Antonio Negri und andere glaubten schließlich in den Hausbesetzungen und Stadtteilinitiativen der späten Siebziger eine revolutionäre Antwort auf den unvermeidlichen „Abschied vom Proletariat“ (André Gorz) gefunden zu haben: Die Antagonisten der Zukunft sollten nicht mehr Arbeiterklasse und Kapital heißen, sondern „Massenautonomie“ und „Planstaat“; ihre Kampfarena sollte die „verstreute Fabrik“ (20) sein, ein Machtgebilde, das letztlich die ganze Stadt umfasste.

Mit dieser Wendung wurde urbane Delinquenz zum revolutionären Selbstschöpfungsakt eines diffusen Ersatz-Subjekts, das in der ebenso diffusen Fabrik die Stelle einnehmen sollte, die der militante Arbeiter vergangener Epochen innehatte: Der „proletarische Einkauf“, Diebstahl und Plünderung galten nun als wilder Streik der Stadt, ja als Vorwegnahme des Kommunismus: „Der Inhalt des Projekts der Arbeiterorganisation bestimmt sich […] durch das Programm der direkten Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums. Die Aneignung durch die Arbeiter ist das praktische Erkennen […], dass ein neues revolutionäres geschichtliches Subjekt sich heute selbst die Aufgaben stellen kann, auf dem eigenen Kampf, auf den Merkmalen der eigenen Existenz den Kommunismus aufblühen zu lassen“ (21), jubilierte Antonio Negri vor jetzt bald vierzig Jahren.

Gesellschaft der Kämpfer

Mit anderen Worten: Die Welt als Beute! Revolutionäre Theorie kopierte und überhöhte zugleich den Kapitalismus der nachliberalen Ära, der in bloße Rackets zerfällt, weil er sich auf seiner eigenen ökonomischen Grundlage sozial aufgehoben hat. Diesem Zustand korrespondiert das im Kern vitalistische Ideal Negris: Nur was sich zusammenrottet, existiert überhaupt. So ersetzt schließlich Fichte Marx, der Klassenkampf löst sich in freie Tathandlungen auf: Rein aus der praktisch zu beweisenden Fähigkeit zum Handeln leitet sich eine absolute Subjektivität her, die nicht mehr irgendwelchen Beschränkungen des Verstandes und der Objektivität unterliegt; Gesellschaft erscheint so in der Autonomen-Tradition konsequent als eine Summe von „Kämpfen“, deren Träger und Inhalte stets immer noch beliebiger werden. Die städtebaulichen Folgen praktisch gewordener Theorie kann man übrigens an der Berliner U-Bahnstation „Görlitzer Bahnhof“ in Augenschein nehmen; dort erhebt sich auf dem Fundament eines durch „proletarischen Einkauf“ 1987 zerstörten Supermarkts nun die monströse Omar-Ibn-Al-Khattab-Moschee.

Nein, wenn man angesichts der Riots des August 2011 aus irgendetwas Hoffnung schöpfen möchte, dann sicherlich nicht aus der Tatkraft irgendeines der Akteure, sondern eher aus der raschen Erschöpfung der „Kämpfe“: Soziologische Befunde, die im allgemeinen eher nostalgisch-nörgelnd konstatieren, dass soziale Milieus ihre Bindungskraft verlieren, oder dass Individuen die Einstellungen ihrer peer-groups immer seltener fest verinnerlichen, scheinen sich zu bewahrheiten. So wie Gewerkschaften und Gesangsvereinen die Mitglieder schwinden, wirkt auch der Bandenzusammenhalt weiter unten in der Gesellschaft loser denn je: Die Ausschreitungen haben sich nach vier Tagen buchstäblich in nichts aufgelöst; deshalb wird die parlamentarische Untersuchungskommission zum Bandenwesen kaum etwas auch nur annähernd Vergleichbares finden, was Martin Scorseses filmisches Historiendrama Gangs Of New York (2002) thematisierte: Wie nämlich Bandenzugehörigkeiten dort einst – ähnlich primitiven Stammeszugehörigkeiten – alle Lebensbereiche der Mitglieder determinierten.

Vielmehr trifft wohl auch auf England das zu, was Wolfgang Pohrt vor jetzt bald 15 Jahren in seiner Bandenstudie am Beispiel Chicagos resümierte: „Inzwischen sind die Banden so hohl, dass empirische Forschungen nichts mehr finden […] Mit der Befähigung zur Bandenbildung geht die zur Herrschaft generell zurück, weil Staatsmann und Gangsterboss von den gleichen Grundqualifikationen zehren […] Dort wie hier scheint die Kraft zu fehlen, welche nötig ist, wenn man die Einzelnen fürs Kollektiv begeistern will“. Hoffentlich behält Pohrt mit dieser Prognose Recht, denn das würde heißen, dass der allgemeine Überdruss sogar die Begeisterung für die Barbarei verleiden könnte.

Uli Krug (Bahamas 63/2012)

Anmerkungen:

 1) Dan Diner analysiert solche Traktate der 30er und 40er Jahre in: Feindbild Amerika, München 2002,108 ff. Wie sehr unter dem Begriff „Plutokratie“ England und die städtischen USA zusammengedacht werden, kann man diesen Schriften deutlich entnehmen. Aber auch unabhängig von den USA wird die liberale Klassengesellschaft Englands als Antipode zur Volksgemeinschaft thematisiert, siehe beispielsweise: Schulz, F.: Das ist England!, Berlin, 1940/42. Dessen zentrale These lautet: „Der liberale Handelsmoloch verschlingt Männer, Frauen und Kinder“.

 2) zitiert nach Diner: 100

 3) Die vorläufige Bilanz laut britischem Wikipedia-Artikel (der sich auf eine akribische Statistik des Guardianstützt; www.guardian.co.uk/news/datablog/interactive/2011/aug/09/uk-riots-incdent-map ) sieht so aus: Hauptsächlich betroffen waren die Regionen London, Manchester, Liverpool, Bristol und Birmingham; es gab fünf Tote, 186 verletzte Polizisten, 3.100 Festnahmen, über 1.000 Anklagen und einen Sachschaden von etwa 200 Millionen Pfund.

 4) Auch Justizminister Kenneth Clarke hatte beispielsweise beklagt, dass die bekannt gewordenen „Wiederholungstäter aus einer verwilderten Unterschicht (stammten), die nichts mehr mit dem Mainstream teilt, außer dessen Materialismus“ (Welt, 7.9.2011). Anders als deutsche Kommentatoren reduziert er natürlich den britischen „Mainstream“ nicht auf „Materialismus“.

 5) Daniel Gilling untersucht in seinem Aufsatz: Territorialisierung und Community, Sicherheitspolitik in Großbritannien den 1998 unter New Labour in Kraft getretenen „Crime And Disorder Act“: Lokal verantwortliche Behörden und Vertreter der „Community“ – nach denen die New Labour-Administration manche Areale regelrecht durchkämmt habe, wie es häufig heißt – bilden demnach so genannte Partnerschaftsräte (CDRP), die als Mediatoren und Grenzträger der Macht auftreten sollen. (in: Kessl, F./Otto, H.-U. (Hg.): Soziale Arbeit und Soziales Kapital. Zur Kritik lokaler Gemeinschaftlichkeit, Wiesbaden 2004, 17
1 ff.)

 6) Zitiert nach: Joan Smith: The ideology of ,family and community‘: New Labour abandons the welfare state, in:The Socialist Register, 1997, 186 (Übersetzung, U.K.)

 7) Einen Überblick über die Entwicklung ab 1998 gibt John Mohan in seinem Aufsatz: Sozialer Wandel, räumliche Spaltung und Sozialpolitik: New Labour und der britische Wohlfahrtsstaat, in: Kessl, F./Otto, H.-U. (Hg.): Soziale Arbeit und Soziales Kapital. Zur Kritik lokaler Gemeinschaftlichkeit, Wiesbaden 2004, 97–112

 8) zitiert nach John Clark: Die Neuerfindung der Communities, in: Kessl, F./ Otto, H.-U. (Hg.): Territorialisierung des Sozialen: Regieren über soziale Nahräume, Opladen 2007, 66

 9) ebda., 68 f; Hrvb. v. mir

 10) Wolfgang Pohrt: Brothers In Crime, Die Menschen im Zeitalter ihrer Überflüssigkeit, Berlin 1997, 46

 11) Diese treffenden Begriffe prägte der Chicagoer Soziologe Irving Spergel in seiner Gang-Studie „Racketville, Slumtown, Haulburg. An Exploratory Study of Delinquency Subcultures“, Chikago 1964.

 12) Ernst Hillebrand: Dicke Luft in Londonistan, library.fes.de/pdf-files/bueros/london/03686.pdf, S. 5

 13) Das bestätigte der britische Journalist Kenan Malik im Interview der Jungle World (18.08.2011) nolens volens: „Ich würde fast nur von einem Generationenkonflikt sprechen. Es ist beeindruckend, wie wenig sich die Randalierer um ihre Communities zu sorgen scheinen […] Mehrfach habe ich darauf hingewiesen, dass das, was wir heute unter ‚community‘ verstehen, keine richtigen Communities sind. Und diejenigen, die sich community leaders nennen, vertreten niemand von den Menschen, die in diesen Communities leben, sondern haben ihre Rolle aufgrund ihrer Beziehung zum Staat.“

 14) Die Jungle World (25.8.2011) veröffentlichte folgende Zahlen: Knapp 2.000 Menschen seien während der Riots verhaftet worden; überdurchschnittlich viele Fälle wurden an höhere Instanzen zur Erreichung höherer Strafen überwiesen; mit 86.000 sei die Zahl der Gefängnisinsassen in England und Wales auf einen „historischen Höchststand“ gestiegen.

 15) Max Horkheimer: Die Juden und Europa (1938), in: Ders. u. a.: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt 1984, 36

 16) Wolfgang Pohrt: Theorie des Gebrauchswerts, Berlin 1995, 21 f.

 17) Ders.: Brothers In Crime, a.a.O., S.198 f.

 18) Diese Politik befindet sich übrigens durchaus im Einklang mit den theoretischen Postulaten führender Theoretiker des Kommunitarismus: In seinem neuen Buch Laizität und Gewissensfreiheit (Frankfurt, 2011) fordert Charles Taylor das Aufgeben der säkularen „Scheinneutralität“ des Staates und die Preisgabe des öffentlichen Raumes an die Religionen.

 19) So wie der Rassenkundler Jürgen Elsässer, der messerscharf folgerte: „Man muss doch nur den Fernseher anmachen: Die plündernde und brandschatzende Meute besteht fast durchgängig aus Schwarzen. Und die Opfer sind Weiße und die anständige Mehrheit der Immigranten […] Die Schwarzen kommen zu einem Gutteil aus Westindien, das sind keine Moslems. Bei den Schwarzen aus Afrika dürften sich Moslems, Christen und Anhänger von Naturreligionen die Waage halten. Also hört auf mit der Hetze gegen Muslime! Es geht um einen Stopp der unverantwortlichen Einwanderungspolitik (in GB und bei uns), nicht um einen Kampf gegen den Islam.“(http://juergenelsaesser.wordpress.com/2011/08/10/rassenkrawalle-in-uk-der-mob-ist-die-bestie/; vom 10.8.2011).

 20) „Auf der einen Seite werden die an Fabriken gebundenen Arbeitskräfte zahlenmäßig verringert […], auf der anderen Seite wird eine große zahl von Arbeitskräften, besonders Jugendliche und Frauen in eine Arbeitsform eingebunden, die als verstreute Fabrik (‚fabbrica diffusa‘) fungiert“. Antonio Negri: „Dall’ operaio massa all’ operaio sociale“, Mailand 1979, deutsch, in: Arbeiter/innenmacht gegen die Arbeit, Berlin 1986, 125

 21) Antonio Negri: Krise des Plan-Staats, Kommunismus und revolutionäre Organisation, Berlin 1973, 29


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