Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus

Buchbesprechung von Johannes Hürter

Quelle


Der umfangreiche Sammelband des Hamburger Instituts für Sozialforschung ist die wichtigste wissenschaftliche Publikation über den Linksterrorismus in der Bundesrepublik seit den vierbändigen “Analysen zum Terrorismus”, die Anfang der 1980er-Jahre vom Bundesministerium des Innern herausgegeben wurden. [1] Diese beeindruckende Leistung ist vor allem Wolfgang Kraushaar zu verdanken. Der Hamburger Politologe hat in den beiden Teilbänden 62 Aufsätze von 47 Autoren sowie zwei aufschlussreiche Interviews mit dem ehemaligen BKA-Präsidenten Horst Herold und dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger zusammengetragen und geordnet. Nicht nur die instruktive Einleitung, sondern neun Beiträge stammen aus seiner eigenen Feder, gleichmäßig verteilt auf beide Bände, sodass die Handschrift des Herausgebers nicht nur in der Anlage, sondern auch im Inhalt zu erkennen ist. Wie die “Analysen zum Terrorismus”, die das Ziel hatten, “die individuellen, gruppenspezifischen, gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen für Terrorismus zu untersuchen” und “die öffentliche Diskussion zu versachlichen” [2], strebt auch das Projekt Kraushaars eine systematische und interdisziplinäre Aufarbeitung an, die von der Notwendigkeit multikausaler Erklärungen für den bundesdeutschen Terrorismus ausgeht. Die Interdisziplinarität wird durch die Beteiligung von Vertretern vieler verschiedener Fächer gewährleistet, wobei allerdings die Politikwissenschaftler, Historiker und Soziologen deutlich überwiegen und im Wettstreit dieser drei Disziplinen wiederum der politologische Ansatz das klare Übergewicht besitzt – genauso wie im früheren Bonner Projekt die sozialwissenschaftliche Sichtweise eindeutig dominierte.

Im Mittelpunkt der Analyse stehen die Rote Armee Fraktion und die drei wichtigsten anderen Terrorgruppen in der Bundesrepublik, die Tupamaros West-Berlin, die Bewegung 2. Juli und die Revolutionären Zellen. Kraushaar hat zehn “Aufsatzfelder” gebildet. Sie umfassen erstens ganz allgemein die Begriffsbestimmung von Terrorismus, zweitens die ideologischen und theoretischen Wurzeln des Linksterrorismus (Konzept “Stadtguerilla”), drittens Porträts und Psychogramme führender RAF-Mitglieder, viertens die anderen linksterroristischen Gruppierungen, fünftens verschiedene Faktoren und Dimensionen des RAF-Terrorismus (Avantgardeanspruch, Protestantismus, Katalysator Vietnamkrieg, Antisemitismus etc.), sechstens die internationalen Netzwerke und Parallelorganisationen, siebtens die staatlichen Reaktionen, achtens das Wechselspiel von Terrorismus und Medien, neuntens die RAF als Mythos und Ikone sowie zehntens einige generalisierende Hypothesen, vor allem aus historisch-vergleichender, psychoanalytischer und soziologischer Sicht. Nicht alle diese Felder werden gleich dicht und überzeugend besetzt, doch insgesamt handelt es sich um eine Bestandsaufnahme und Bilanz der Forschung, die jedem, der sich mit dem “alten Terrorismus” in der Bundesrepublik beschäftigen will, als Einstieg und Grundlage dienen kann.

Der Erkenntnisgewinn des Bandes liegt vor allem darin, dass die internationale Debatte um den “neuen Terrorismus” nach dem 11. September 2001 die Perspektive auf die RAF als historisches Phänomen erheblich erweitert hat. Der Herausgeber fordert in seiner Einleitung, den deutschen Linksterrorismus nicht nur als endogenes Produkt der bundesrepublikanischen Geschichte zu analysieren und nicht allein aus der Binnenperspektive bzw. aus wenigen Einzelbiographien heraus zu rekonstruieren, sondern mehr als bisher in die internationalen Zusammenhänge und Forschungsergebnisse einzubinden. Diesem Anspruch kommen am besten die Beiträge von Thomas Skelton Robinson und Christopher Daase nach, in denen die Kooperation der deutschen Terroristen mit auswärtigen Partnern, vor allem mit der Palästinenserbewegung und arabischen Staaten, aber auch mit sozialrevolutionären Terroristen anderer Länder und mit Staaten des Ostblocks, etwa der DDR (dazu auch der Beitrag von Martin Jander), thematisiert wird. Ohne diese internationale Vernetzung hätte besonders die RAF nicht als solch gefährliche und langlebige Gruppierung entstehen und bestehen können.

So wichtig die Weiterung des geopolitischen Rahmens ist, so sehr birgt die rückschauende Perspektive von “9/11” aus natürlich auch Gefahren. Die Historisierung des Phänomens Linksterrorismus in der Bundesrepublik, die nicht nur Kraushaar für notwendig hält, droht durch ein teleologisches Geschichtsbild entscheidend behindert zu werden. Gerade in dieser Hinsicht weist der Band einige Schwächen auf, die allerdings nur die Defizite der Terrorismusforschung insgesamt zeigen. Die Bedeutung des historischen Kontextes wird immer wieder beschworen, ohne dass daraus die Konsequenzen einer stärker kontextualisierenden und quellengestützten Vorgehensweise gezogen würden. So verweist Kraushaar etwa darauf, dass die RAF “auch ein exogenes Produkt” gewesen sei, “das aus Friktionen hervorgegangen ist, die mit allgemeinen Umbrüchen und ihren soziokulturellen Folgen in den Industrienationen westlichen Typs zu tun haben” (56), doch die Analyse dieser Rahmenbedingungen bleibt auf den folgenden 1400 Seiten in den Ansätzen stecken. Auch die Frage, wie der bundesdeutsche Linksterrorismus und seine Bekämpfung in die politischen und sozialökonomischen Entwicklungen der 1970er- und 1980er-Jahre einzuordnen sind, wird kaum zu beantworten versucht.

Zu einer Historisierung der Epoche nach 1968 sind vor allem die Zeithistoriker aufgerufen. An sie in erster Linie geht auch der Hinweis von Kraushaar, dass “sich die Möglichkeiten einer Quelleneinsichtnahme zum Teil auch bei staatlichen Behörden in den letzten Jahren verbessert” haben (28). In seinem großen Sammelwerk ist davon freilich noch nichts zu spüren. Wenn in den Beiträgen neues Quellenmaterial herangezogen wird, dann nahezu ausschließlich aus der Sammlung des Hamburger Instituts für Sozialforschung und der Birthler-Behörde, nicht hingegen aus den Überlieferungen von bundesdeutschen Institutionen, Parteien und Politikern. So bringt der Band für die Grundlagenforschung wenig Neues. Besonders auffällig wird das dort, wo es um die staatlichen Maßnahmen gegen den Terrorismus geht. Das entsprechende “Aufsatzfeld” ist besonders schwach beackert, beschränkt sich auf Teilaspekte und Bekanntes. Welchen Forschungsbedarf und welche Möglichkeiten der Quellenerschließung es im zentralen, aber bisher vernachlässigten Segment der Konfliktgeschichte von Staat und Terrorismus gibt, zeigen schon jetzt vereinzelte Beiträge außerhalb des Hamburger Projekts. [3] Alles in allem aber hinken die Historiker den Politologen und Soziologen noch beträchtlich hinterher. Die empirischen Fortschritte, die in den letzten Jahren hinsichtlich der Entstehungsgeschichte des Linksterrorismus aus der Protestbewegung von “1968” (Wolfgang Kraushaar) sowie der zweiten und dritten Generation der RAF erzielt wurden (Tobias Wunschik, Alexander Straßner), sind das Verdienst von Politikwissenschaftlern. Doch nunmehr scheint es dringend notwendig, dass endlich auch die Geschichtswissenschaft mit ihren Methoden und Fragestellungen zum Zuge kommt.

Noch etwas anderes fällt auf, was der nüchternen, historisierenden Analyse eher hinderlich sein dürfte. Manche Beiträge, besonders die von Kraushaar, Gerd Koenen und Jan Philipp Reemtsma, wirken teilweise wie mit Vitriol geschrieben. Die scharfen Wendungen nicht nur gegen die Terroristen, ihren Irrsinn und ihre Untaten, sondern auch gegen alle Tendenzen, denen man ein gewisses Verständnis für dieses Phänomen unterstellen könnte, lassen nicht immer die nötige Distanz zum Thema erkennen. Wenn es beispielsweise um die Haftbedingungen oder um die Strafverfahren geht, kommen im selben Band der Historiker Martin Jander und
der Rechtswissenschaftler Uwe Wesel zu differenzierteren Ergebnissen, da sie nicht nur die Selbstinszenierung der RAF-Täter, sondern auch das Verhalten der staatlichen Institutionen hinterfragen. Und schon die erwähnte Publikation des Bundesinnenministeriums vor über zwanzig Jahren war um eine distanzierte, sachliche Darstellung bemüht, die im vorliegenden Band nicht immer gewahrt wird. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Kontroverse, die vor kurzem von jenen beiden Persönlichkeiten ausgetragen wurde, die hinter diesen beiden Großprojekten standen. Als Jan Philipp Reemtsma, Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die Motive der RAF-Terroristen auf die psychologischen Dispositionen “Größenwahn, Machtgier und Lust an der Gewalt” reduzierte, erntete er Widerspruch vom ehemaligen Bundesinnenminister Gerhard Baum, der vor einer Entpolitisierung und Enthistorisierung der RAF warnte. [4] Baum fügte hinzu: “Die Gesellschaft – so scheint es – hat insgesamt noch keinen historischen Abstand gewonnen und ist heute weiter von der Verarbeitung des RAF-Terrors entfernt als Ende der Siebzigerjahre. Wir müssen uns schon mehr Mühe geben, um die komplexe Situation der damaligen Zeit zu begreifen.”

Die kritischen Bemerkungen sollen die große Bedeutung des von Wolfgang Kraushaar vorgelegten Sammelbands nicht schmälern. Zu einer Bestandsaufnahme der aktuellen Forschung gehört freilich auch, dass durch sie die Defizite und Desiderate deutlich werden. Das in jeder Hinsicht gewichtige Werk kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die historische Terrorismusforschung in der Bundesrepublik noch ganz am Anfang steht.

Anmerkungen:

[1] Analysen zum Terrorismus, hrsg. v. Bundesminister des Innern, Bd. 1-4, Opladen 1981-1984.

[2] Ebd., Bd. 1, 5 (Vorwort des Herausgebers, des Bundesinnenministers Gerhard Baum).

[3] Vgl. Stephan Scheiper: Der Wandel staatlicher Herrschaft in den 1960er/70er Jahren, in: Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, hrsg. von Klaus Weinhauer / Jörg Requate / Heinz-Gerhard Haupt, Frankfurt a.M. 2006, 188-216; Matthias Dahlke: Der Anschlag auf Olympia ’72. Die politischen Reaktionen auf den internationalen Terrorismus in Deutschland, München 2006. Vgl. demnächst auch den Aufsatz von Matthias Dahlke über die staatliche Reaktion auf die Lorenz-Entführung von 1975 im Oktoberheft der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007). Hingewiesen sei außerdem auf das neue Forschungsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte über die Anti-Terrorismus-Politik in der Bundesrepublik (Johannes Hürter) und in Italien (Tobias Hof) in den 1970er- und 1980er- Jahren.

[4] Jan Philipp Reemtsma: Lust an Gewalt, in: DIE ZEIT, Nr. 11 vom 8.3.2007, 45f.; Gerhard Baum: Dämonisierung des Terrors, in: DIE ZEIT, Nr. 12 vom 15.3.2007, 52.