Wolfgang Kraushaar: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus

Buchbesprechung von Anne Rohstock

Der 9. November gilt als “Schicksalsdatum” in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Novemberrevolution, Hitlerputsch, Reichspogromnacht und Mauerfall nehmen in der Erinnerungskultur der Deutschen einen festen Platz ein. Aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend verschwunden ist dagegen das Ereignis des 9. November 1969. An diesem Tag sollte während einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der NS-Verfolgung im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin eine Bombe explodieren. Glücklicherweise kam es nicht zur Detonation.

Seit rund 35 Jahren ranken sich allerhand Gerüchte um das nie aufgeklärte Attentat. Dem Hamburger Politologen Wolfgang Kraushaar ist es nun gelungen, die Hintermänner und Verantwortlichen des geplanten Anschlags ausfindig zu machen. Er kann sich dazu auf neue Quellen wie Zeugenaussagen, Akten des Sozialistischen Anwaltskollektivs und Verhörprotokolle der Staatssicherheit der DDR stützen. Überwiegend auf publiziertem Material basiert hingegen seine penible Rekonstruktion der Ereignisse um das Attentat selbst, die den Leser tief in die linke Berliner Untergrundszene der ausgehenden 1960er-Jahre hineinführt. Um den Situationisten, Ex-Schwabinger Bohemien und selbst ernannten “Obermufti des Chaos” Dieter Kunzelmann hatte sich im Jahr 1969 in Berlin die erste bundesdeutsche Stadtguerilla nach lateinamerikanischem Vorbild konstituiert: Bereits im Jahr vor der Gründung der RAF überzogen die aus den “Umherschweifenden Haschrebellen” hervorgegangenen “Tupamaros West-Berlin” die Stadt mit einer ganzen Anschlagsserie. Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus war das erste von ihnen geplante Attentat. Damit geht ein antisemitischer Anschlag auf das Konto von Angehörigen der linken Berliner Subkultur.

Doch Kraushaar deckt noch mehr auf: Die Bombe selbst stammte aus den Arsenalen des Westberliner Landesamts für Verfassungsschutz. Der gelernte Klempner und agent provocateur, Peter Urbach, agierte seit 1967 als dessen V-Mann und belieferte militante Kreise der APO mit Waffen und Drogen aller Art. Dass die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus – ebenso wie einige andere – nicht zündete, spricht nach Kraushaar dafür, dass der Staat funktionsuntüchtige Brandsätze lieferte, um die APO in der Öffentlichkeit kriminalisieren, im Fall “einer Aufdeckung der eigenen Machenschaften” (177) zumindest aber darauf hinweisen zu können, dass keine Gefahr bestanden habe, weil ja nur “bombenähnliche Körper” (181) in Umlauf gewesen seien.

Der Verfassungsschutz hat damit die Entstehung des deutschen Terrorismus zumindest begünstigt. Das war bislang nur vermutet worden. Trotzdem ist zu diesem dunklen Kapitel der bundesdeutschen Geschichte noch lange nicht alles gesagt. Ungeklärt bleibt weiterhin, wie weit die Unterwanderung der linken Szene durch den Verfassungsschutz tatsächlich ging. Hat Kraushaar hier nur die Spitze des Eisbergs entdeckt? Darauf lässt zumindest eine Andeutung Peter Urbachs schließen, der heute in den USA lebt und nicht aussagen darf oder kann. Gegenüber dem Kommunarden Rainer Langhans äußerte er – auf die Rolle des Verfassungsschutzes angesprochen – vieldeutig: “Rainer, wenn Du wüsstest.” (178) Ganz in den Bereich des Spekulativen hingegen fällt die Behauptung Kraushaars, die eigentlichen Auftraggeber des Anschlags seien möglicherweise unter den militärischen Ausbildern des jordanischen Trainingscamps zu suchen, in dem sich Kunzelmann und seine Mitstreiter kurz vor dem Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus paramilitärisch hatten schulen lassen. Demnach hätte die militante palästinensische Al-Fatah eine jüdische Einrichtung als Anschlagsziel vorgegeben. Ein Kreuz im Tagebuch Kunzelmanns ist aber selbst als Indiz für eine durchaus mögliche deutsch-palästinensische Verschwörung mehr als dürftig.

Der Bombenleger hingegen ist gefunden: Albert Fichter, Bruder des langjährigen SDS-Mitglieds Tilmann Fichter, legt in Kraushaars Buch erstmals ein umfassendes Geständnis ab. In seinem auf über 20 Seiten im Wortlaut wiedergegebenen Bekenntnis geriert sich der Täter in mehrerer Hinsicht als Opfer. Als Erklärung für seine Tat müssen Drogenkonsum, ein angeblich prägendes Erlebnis in einem Kibbuz und der unkritische Philosemitismus der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft herhalten. Die größte Verantwortung trägt Fichter zufolge aber der Spiritus Rector der Tupamaros, Dieter Kunzelmann, selbst. Dieser habe das Attentat geplant und Fichter schließlich zur Ausführung gezwungen. Nach Jahren im Untergrund – Bruder Tilmann verhalf ihm zur Flucht – ist Fichters Tat heute verjährt.

Kraushaars Studie ist in mehrfacher Hinsicht verdienstvoll. Zum einen hat er die wissenschaftliche Forschung über Antizionismus und Antisemitismus innerhalb der Neuen Linken um mehr als ein Detail bereichert. Er liefert den Nachweis für die bislang wenig beachtete Tatsache, dass sich das gestörte Verhältnis von Teilen der APO zum Staat Israel nicht nur ideologisch manifestierte, sondern darüber hinaus in offen antisemitische Handlungen umschlagen konnte. Damit leistet Kraushaar zum anderen einen Beitrag zur Terrorismusforschung: Das Konstituens der bundesdeutschen Stadtguerilla war ein antisemitischer Akt, der sich, wie Kraushaar im Hinblick auf die Geschichte der RAF feststellt, als “kontinuitätsstiftend erwiesen hat” (294). Daran ändert auch die grundlegend andere Einschätzung der damaligen Akteure nichts. Sie waren “in grotesker Selbstverblendung davon überzeugt, als Antiimperialisten und Antifaschisten” zu handeln. [1] Diese Überzeugung hat Kraushaar zufolge dazu beigetragen, dass “die radikale wie die liberale Linke auf dem Ohr der Judenfeindschaft” über Jahrzehnte hinweg “völlig taub” gewesen ist. (233) Offenbar galt in Teilen der deutschen Linken in abgeschwächter Form noch immer, was Gerhard Zwerenz in den 1970er-Jahren kategorisch formuliert hatte: “Linke Antisemiten gibt es nicht!”

Das hier besprochene Buch hat in der bundesdeutschen Öffentlichkeit eine Debatte darüber ausgelöst, wie weit der Antisemitismus in der Neuen Linken tatsächlich ging. Durch die Verengung der Studie auf den Protagonisten der Tupamaros vermag Kraushaar zur Klärung dieser Frage aber wenig beizutragen. Hier hätte das Buch mehr leisten können, wie es überhaupt wünschenswert gewesen wäre, eine klare Fragestellung zu Grunde zu legen. Dies wäre auch dem Aufbau der Studie zugute gekommen, der schlicht miserabel ist. Nicht nur geht der rote Faden an mehr als einer Stelle verloren; einige Kapitel sind einfach überflüssig: Was beispielsweise die sattsam bekannten Ereignisse während des Knast-Camps in Ebrach mit der Bombe im Jüdischen Gemeindehaus zu tun haben sollen, ist vollkommen unergründlich. Schwerer wiegt noch, dass das Buch nur zum Teil wissenschaftlichen Standards gerecht wird: Literatur- und Quellenverzeichnis fehlen ebenso wie eine besonders im Hinblick auf Fichters Geständnis unverzichtbare Quellenkritik.

Insgesamt ist Kraushaar aber ein lesenswertes Buch gelungen, das wohl noch für die eine oder andere Kontroverse sorgen wird.

Anmerkung:

[1] Ulrich Enzensberger: Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967-1969, Köln 2004, 368.

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