Gisela Diewald-Kerkmann: Frauen, Terrorismus und Justiz

Buchbesprechung von Peter Waldmann

Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit, die 2008 als historische Habilitationsschrift an der Universität Bielefeld angenommen wurde, stehen nicht die Terroristen und ihre Anschläge, sondern die Reaktionen darauf durch die Politik, die Medien und vor allem die Justiz. Es geht, wie die Verfasserin eingangs ausführt, um das Wechselverhältnis zwischen Politik, Justiz und RAF, wobei organisatorische Aspekte (Mesoebene) ebenso in die Betrachtung einbezogen werden wie Kleingruppendynamiken (Mikroebene) und das breite gesellschaftlich-politische Umfeld (Makroebene). Ursprünglich sollte ein Schwerpunkt der Untersuchung auf der Frauenfrage liegen, hierzu gab es auch bereits einige Vorhypothesen. Der Ansatz erwies sich jedoch als nicht sonderlich fruchtbar und wurde weitgehend fallen gelassen. Diewald-Kerkmann stellte lediglich fest, dass Frauen konsequenter – bis hin zur Selbstaufgabe – in ihrem revolutionären Engagement waren als die Männer, weniger bereit, ein Geständnis abzulegen und sich vom Weg der Gewalt loszusagen oder ihre Gefährten zu verraten.

Die Arbeit stützt sich primär auf die Analyse von Strafverfahren gegen Terroristinnen und Terroristen. Nach einigem Zögern wurde Frau Diewald-Kerkmann durch die zuständigen Behörden Einsicht in die Ermittlungs- und Prozessakten von insgesamt 113 Strafverfahren gestattet. Die Beschäftigung mit dieser Materie setzte eine gründliche Einarbeitung in die juristische Logik und Argumentationsweise voraus. Die Verfasserin blieb zwar ihrem Vorsatz treu, die Prozesse in den breiteren Kontext der Zeitgeschichte einzuordnen und sie daraus zu interpretieren. Manchmal macht sie sich aber selbst juristische, vor allem verfassungsrechtliche Prinzipien zu eigen, etwa wenn sie Zweifel daran äußert, ob die für Gerichte verbindliche Unschuldsvermutung noch das Handeln der Richter bestimmte, oder die Frage aufwirft, inwieweit die Unabhängigkeit des Gerichts in dem einen oder anderen Verfahren gewahrt blieb.

Solche Stellungnahmen sind jedoch selten und werden in behutsamer Form vorgetragen. Im Allgemeinen begnügt sich die Arbeit damit, die Reaktionen diverser Gruppen auf den Terrorismus nachzuzeichnen und den Umgang mit diesem in der bundesdeutschen Geschichte neuen Phänomen festzuhalten. Diewald-Kerkmann wertet nicht nur die Ermittlungs- und Prozessakten aus, sondern lässt auch zahlreiche Zeitzeugen aus unterschiedlichen politischen Lagern zu Wort kommen, die die Verfahren teils nur kritisch kommentierten, teils jedoch auch mehr oder weniger direkt zu beeinflussen suchten. Sie räumt den Zitaten viel Platz ein und lässt sie oft unkommentiert stehen, fühlt sich also nicht bemüßigt, sogleich zu erklären, für wen und was sie sprechen, sondern überlässt ihre Einordnung und Bewertung zunächst dem Leser. Außerdem vermeidet sie vorschnelle Kategorisierungen und pauschale Charakterisierungen. Auf diese Weise entsteht ein ebenso anschauliches wie glaubwürdiges Bild der Mischung aus Ratlosigkeit und Dezisionismus, verzweifelter Konsenssuche und faktischer Widersprüchlichkeit, welche die Reaktionen der Verantwortlichen und ihr Bemühen kennzeichnete, auf die Herausforderung angemessen zu antworten.

Der Ertrag der drei Hauptkapitel ist unterschiedlich. Im ersten über die Erklärungsmuster, welche die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte entwickelten, um das Abdriften von Kindern aus wohlsituierten bürgerlichen Familien in den Terrorismus nachvollziehen zu können, fällt er eher bescheiden aus. Die beiden dabei herausgestellten Faktoren (die studentische Protestbewegung und der Einfluss bereits radikalisierter Freunde und Partner) verkürzen zwar die wahren Kausalzusammenhänge beträchtlich, sind aber nicht offenkundig falsch oder spiegeln nur Vorurteile wider. Das zweite Hauptkapitel arbeitet die größten Schwierigkeiten heraus, vor die die Justiz durch die selbst ernannte revolutionäre Avantgarde gestellt wurde. Sollte man diese gemäß ihrem Selbstverständnis als “Staatsfeinde” oder als eine gewöhnliche Bande von Kriminellen behandeln? Wie konnte man den Status der Gerichte als unabhängige Instanz aufrechterhalten, wo doch das ganze Bestreben der Terroristen darauf abzielte, die öffentliche Meinung, einschließlich der Justiz, zu mobilisieren und zu polarisieren? Und welche Behandlung sollten Terroristen im Gefängnis erfahren? Sollte man sie den anderen Häftlingen gleichstellen oder einem besonderen Vollzugsregime unterwerfen? Hier gab es keine einheitlichen Antworten, je nach Zeitpunkt, Lageeinschätzung und Folgeabwägung, nach politischem Interesse und Grundorientierung gingen die Meinungen mehr in die eine oder andere Richtung. Die gleichen Probleme tauchen erneut im dritten Hauptkapitel auf, werden nunmehr jedoch in Bezug auf die Folgen der Prozesse für die Richter, die Verteidiger, die Kronzeugen und das Bundeskriminalamt sowie die Bundesanwaltschaft diskutiert. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass zwei Akteursgruppen in Bedrängnis gerieten, zwei andere aber von den Prozessen profitierten. Richter und Verteidiger sahen sich, teilweise nicht ohne eigenes Verschulden, durch die Prozesse vermehrtem Druck und zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Dagegen erlaubten die Gerichtsverfahren den Kronzeugen – meist Randfiguren der RAF und der Bewegung 2. Juni – sich durch ihre Informationsbereitschaft Straffreiheit zu erkaufen; zudem führten sie zu einer personellen Aufstockung des Bundeskriminalamts, das einen dauerhaften Machtzuwachs für sich verbuchen konnte.

Die Arbeit legt drei Schlussfolgerungen nahe. Erstens liefert sie einen erschreckend eindeutigen Beleg für die Rationalität und Erfolgsträchtigkeit des terroristischen Kalküls. In der Rückschau kann man sich nicht genug darüber wundern, welch bereitwillige Aufnahme die Selbststilisierung des verschwindend kleinen harten Kerns von Terroristen (nach Schätzungen allenfalls 40 bis 60 Personen) zu einer ernsthaften Bedrohung des Staates und der gesellschaftlich-politischen Grundordnung nicht nur in der sensationslüsternen Presse, sondern auch bei ernsthaften Politikern und Intellektuellen fand. Diese Bestätigung im Sinne einer Selffulfilling Prophecy erstreckte sich nicht nur auf die ersten, verständlicherweise eine Schockwirkung und übertriebene Gegenreaktionen auslösenden Anschläge, sondern auch auf den weiteren Verlauf der Ereignisse. Die verantwortlichen Strafverfolgungsbehörden und Politiker begriffen nicht, dass sie, indem sie sich auf die zunehmende Konflikteskalation und die Kriegsmetapher einließen, präzise dem Polarisierungsskript der RAF folgten. Erst die Schleyer-Entführung und der “heiße Herbst” 1977 machten schlagartig klar, dass von einer ernsthaften Staatsbedrohung durch “die Anarchisten” nicht die Rede sein konnte, sondern deren ursprüngliche revolutionären Pläne auf die Freipressung der angeblich widerrechtlich eingesperrten Gesinnungsgenossen geschrumpft waren.

Zweitens drängt sich der Eindruck auf, dass der Terrorismus als neues Phänomen den Justizapparat vor Probleme stellte, denen er nicht oder nur unzulänglich gewachsen war. Dabei mögen auch persönliche Schwächen einzelner Richter eine Rolle gespielt haben, doch die wesentlichen Probleme waren struktureller Natur: Angesichts des nach den terroristischen Anschlägen von einflussreichen Politikern erklärten “Staatsnotstands” erhöhte sich der Druck der Exekutive auf die Gerichte, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Noch stärker war der Druck der Massenmedien, die sich teilweise nicht scheuten, die angeklagten Terroristen bereits im Vorfeld des eigentlichen Strafprozesses schuldig zu sprechen. Überfordert waren die Richter oft auch durch den neuen Typus des Angeklagten aus gutbürgerlichem Hause, der – rhetorisch gewandt – die Konfrontation suchte, sich an keine Spielregeln hielt und das Gericht ständig provozierte und diffamierte. Einer zügigen Abwicklung der Verfahren stand auch die für Kollektivdelikte generell charakteristische Beweisnot im Wege, d.h. die Schwierigkeit, den Tätern individuell unrechtmäßiges, schuldhaftes Verhalten nachzuweisen.
Um Abhilfe bemüht, griffen Justiz und Exekutive zu rechtsstaatlich bedenklichen Mitteln wie der Kronzeugenregelung oder der Einführung zusätzlicher Straftatbestände, die dem Ansehen der Justiz schadeten. Schließlich sorgte auch eine nicht auszuräumende Ambivalenz der zur Diskussion stehenden Straftatbestände – die RAF war eben keine kriminelle Bande im üblichen Sinn – dafür, dass sich die Gerichte teilweise in Widersprüche verwickelten und zu keiner überzeugenden einheitlichen Linie fanden.

Drittens ist nochmals auf die Ausgangsfragestellung der Arbeit nach den geschlechtsspezifischen Deutungen und Behandlungsmodalitäten von Terroristen zurückzukommen. “Obwohl die Unterscheidung zwischen männlich und weiblich als fundamentaler, geradezu archetypischer Unterschied überhaupt” gilt (302) und rund die Hälfte der deutschen Terroristen Frauen waren, spielte die Geschlechterdifferenz sowohl in den Gerichtsverhandlungen als auch im Verhalten der Angeklagten selbst nur eine untergeordnete Rolle. Auch in diesem Befund liegt ein nicht zu unterschätzendes Ergebnis der Arbeit. Sie zeigt auf, wie weit die Erklärungs- und Deutungsrelevanz des Unterschieds zwischen den Geschlechtern reicht und wo diese endet.

Quelle: www.sehepunkte.de/2010/01/17183.html

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