Am 20. Dezember 1978 lag auf dem Schreibtisch des DDR-Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, eine „Information“ der Stasi-Abteilung XXII mit dem Aufdruck „Streng geheim“. Die Abteilung unter Oberst Harry Dahl war wenige Jahre zuvor zur „Abwehr, Kontrolle und Bearbeitung terroristischer Gefahren“ aufgebaut worden. Im Herbst 1978 hieß das in der Praxis: Dahls Leute hielten Kontakt zur linksextremistischen Szene der Bundesrepublik, zu den Terroristen der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) sowie der „Bewegung 2. Juni“.
Ende Dezember 1978 aber hatte es den Anschein, als sei dieser Kontakt zeitweise gestört. Der Terror der RAF hatte im Jahr zuvor mit den Morden an Generalbundesanwalt Siegfried Buback, dem Bankier Jürgen Ponto und dem Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer sowie der Entführung des Lufthansa-Flugzeuges „Landshut“ seinen blutigen Höhepunkt erreicht. 1978 dagegen befanden sich die Terroristen in der Defensive. Am 11. Mai waren vier RAF-Mitglieder – Brigitte Mohnhaupt, Sieglinde Hoffmann, Peter-Jürgen Boock und Rolf-Clemens Wagner – in Jugoslawien verhaftet worden. Der Diktator Tito weigerte sich aber, sie nach Westdeutschland auszuliefern, nachdem die Bundesrepublik sich nicht bereit erklärt hatte, im Gegenzug acht kroatische Dissidenten an Jugoslawien zu überstellen.
Der Westen wusste wohl Bescheid
Seit November 1978 nun fehlte aus Sicht der Stasi von den vieren jede Spur – bis zum 20. Dezember, als jenes geheime Papier auf Mielkes Tisch lag. In dieser „Information“, die der F.A.Z. vorliegt, vermeldete Dahl, der Terrorspezialist des Ministeriums in der verquasten Sprache der Stasi, seiner Abteilung lägen „vorgangsbezogene Hinweise“ vor, laut denen Mohnhaupt, Hoffmann, Boock und Wagner nach ihrer jugoslawischen Episode im sozialistischen Bruderland Polen Unterschlupf gefunden hätten. Man habe erfahren, dass ein „polnischer Bürger“ die Botschaft der Bundesrepublik in Warschau darüber in Kenntnis gesetzt habe. Dieser „Verräter“ habe den westdeutschen Diplomaten dabei wertvolles Material angeboten.
Bei diesem Material soll es sich um Aufzeichnungen von Gesprächen der RAF-Leute mit Gesinnungsgenossen in Jugoslawien, Fotos der Flüchtigen und ihrer Diplomatenpässe, Bilder angeblicher „Funkstationen“ in Westdeutschland, mit denen sie mit der Szene daheim Verbindung hielten, sowie ein Schreiben mit „Anweisungen“ Brigitte Mohnhaupts an die Unterstützer in Deutschland gehandelt haben. Außerdem soll der polnische Informant Hinweise auf geplante Anschläge geliefert haben. „Durch die BRD Botschaft in Warschau“, berichtet Dahl schließlich, „wurden die zuständigen Bonner Regierungsstellen von diesem Sachverhalt benachrichtigt.“
Das Dokument, das die polnischen Fernsehjournalisten Jacek Daciow, Witold Gadowski und Przemyslaw Wojciechowski bei der Berliner Birthler-Behörde aufgespürt haben, könnte geeignet sein, die Geschichte der RAF zumindest punktuell umzuschreiben. Bisher galt es als sicher, dass die vier in Jugoslawien festgesetzten Terroristen im November 1978 nach Südjemen weitergereist seien. Dass eine „polnische Episode“ dazwischen gelegen haben könnte, war bislang nicht bekannt. Besondere Brisanz erhält der Bericht der Stasi aber noch durch einen anderen Aspekt: Die genaue Kenntnis der Stasi über Vorgänge in „Bonner Regierungsstellen“ führt zur Frage, ob die DDR damals einen „Maulwurf“ in den zuständigen Behörden hatte, etwa im Auswärtigen Amt oder in der deutschen Botschaft in Warschau.
Hinweis auf DDR-Spion in der Bundesregierung
In der Berliner Birthler-Behörde sieht man den Wert des neu aufgetauchten Papiers allerdings mit gewisser Skepsis. Tobias Wunschik, der Fachmann des Hauses für Kontakte zwischen RAF und Stasi, weist darauf hin, dass Form und Sprache der geheimen „Information“, die Oberst Dahl damals dem „Genossen Minister“ Mielke vorlegte, darauf hindeuten, dass er selbst von der Zuverlässigkeit seiner Quellen nicht überzeugt war. So spricht er etwa von „vorgangsbezogenen Ersthinweisen“ auf einen „möglichen“ Aufenthalt von Personen in Polen, die mit den gesuchten vier Terroristen „identisch sein sollen“. Auch fehlt in dem Schreiben jeder Hinweis auf eine Quelle – einen Stasi-Spion in den westdeutschen Apparaten etwa oder eine technische Abhörstelle. Dies deutet nach Wunschiks Einschätzung ebenfalls darauf hin, dass die Stasi hier keine aus ihrer Sicht völlig sicheren Quellen besaß. „Diese Formulierungen heißen: Da hat uns jemand etwas gesteckt, was wir nicht prüfen konnten“, sagt Wunschik. Zudem enthielten die Informationen des mutmaßlichen polnischen Überläufers einige Ungereimtheiten – so sei praktisch ausgeschlossen, dass die RAF Ende 1978 in der Bundesrepublik tatsächlich „Funkstationen“ unterhalten habe.
Das polnische Fernsehteam, welches das Dokument aufgespürt hat, kommt allerdings zu anderen Folgerungen. Zwar hat Boock, der heute in Süddeutschland lebt, den Journalisten (nach ihren Angaben gegen eine Entschädigung von 500 Euro) ein Interview gegeben und den Aufenthalt in Polen bestritten. Andererseits aber haben Daciow, Gadowski und Wojciechowski einen ehemaligen Offizier der polnischen Spionageabwehr ausfindig gemacht, der, wie sie berichten, unter dem Schutz der Anonymität bestätigt habe, dass Hofmann, Mohnhaupt, Boock und Wagner tatsächlich damals für etwa sechs Wochen in Polen gewesen seien – in einem geheimen Geheimdienststützpunkt in einem Wald bei Nowy Zyzdroj (Neu Sysdroy) im ehemals deutschen Masuren. Was die vier damals in Polen konkret getan haben, ist jedoch auch diesem anonymen Zeugen unbekannt. Da allerdings in jenen Jahren Untergrundkämpfer aller Art (unter anderem der Terrorist Carlos und Mitglieder der Leibgarde Jassir Arafats) in Polen ein- und ausgingen, um sich von polnischen Geheimdienstleuten im Untergrundkampf ausbilden zu lassen sowie um sich mit Waffen zu versorgen, könnte nach den Recherchen des polnischen Fernsehteams vermutet werden, dass auch die vier Deutschen Schulungen in Konspiration und Waffenbedienung durchlaufen haben könnten.
Offen bleibt bis heute die Frage des möglichen DDR-Spions in der deutschen Botschaft in Warschau oder an anderen Stellen in den „zuständigen Bonner Regierungsstellen“. Oberst Dahl von der Stasi hatte offenbar detaillierte Kenntnisse aus dem Inneren der westdeutschen Apparate, doch sein Bericht an Mielke lässt offen, was die Quelle dieses Wissens war. Das Auswärtige Amt hat sich am Freitag dazu nicht geäußert. Ein Sprecher teilte zwar mit, man habe in Bonn schon vor der vorübergehenden Festsetzung der vier Terroristen in Jugoslawien „Hinweise“ erhalten, dass RAF-Mitglieder sich in Polen aufhalten könnten. Ob aber die deutsche Botschaft in Warschau nach der Jugoslawien-Episode der RAF, also im November und Dezember 1978, konkret über die mutmaßliche Polen-Reise der vier Gesuchten berichtet habe, ließ der Sprecher offen. Auch die Frage, ob es Hinweise auf einen Stasi-Agenten in den Apparaten der Bundesrepublik gegeben habe, der diese Information nach Ost-Berlin weiterleitete, ließ das Auswärtige Amt unbeantwortet.
Zwei Jahre nach diesem Fund ist noch immer nichts Neues zu dieser Geschichte aufgetaucht.