Umstrittener Judenretter: Bertold Storfer

Wohltäter oder Kollaborateur? Im Auftrag der Nazis brachte der österreichische Jude Berthold Storfer Flüchtlinge nach Palästina und bewahrte nach eigenen Angaben mehr als 9000 Menschen vor dem Tod. Eine Biografie zeichnet nun das Bild eines umstrittenen Helden – der schließlich selbst in Auschwitz starb. Von Katja Iken

Aufenthalt in Karlsbad
Verkannt? Berthold Storfer 1937 im tschechoslowakischen Kurort Karlsbad. 1880 in Czernowitz (Bukowina) als Spross einer jüdischen Familie geboren, konvertierte Storfer in der Zwischenkriegszeit kurzfristig zum Protestantismus, beschrieb sich später jedoch wieder als “mosaisch”. Vor dem “Anschluss” Österreichs besaß Storfer eine erfolgreiche Privatbank – die 1938 liquidiert wurde. 

Durch seinen direkten und indirekten Einsatz konnten insgesamt 9096 jüdische Flüchtlinge das Deutsche Reich in Richtung Palästina verlassen. Der polnische Jude und Historiker Arno Lustiger bezeichnete Storfer als “Helden”, dessen tausendfache Rettungstaten bis heute totgeschwiegen würden – und spricht sich dafür aus, ihn als Gerechten in Jad Vaschem zu ehren.

Der jovial-unbekümmerte Ton, den Adolf Eichmann dem Todgeweihten gegenüber anschlug, war an Zynismus kaum zu überbieten: “Ja, mein lieber guter Storfer, was haben wir denn da für ein Pech gehabt?”, rief der Holocaust-Organisator dem verzweifelten KZ-Häftling zu, als er ihn im Herbst 1944 in Auschwitz besuchte. Ganz so, als habe sich dieser den kleinen Zeh angeknackst. “Schauen Sie, ich kann Ihnen wirklich gar nicht helfen, denn auf Befehl des Reichsführers kann keiner Sie herausnehmen”, so Eichmann weiter. 

Sechs Wochen später war Berthold Storfer tot. Ermordet von den Schergen jener NS-Elite, der er jahrelang treu zu Diensten gewesen war. Denn seit 1939 hatte der Jude Storfer im Auftrag Eichmanns den Transport jüdischer Flüchtlinge nach Palästina organisiert. Hatte mit Reedern verhandelt, Schiffe bestellt, Matrosen angeheuert – und so nach Eigenaussagen exakt 9096 Menschen vor dem Tod bewahrt. 

War Storfer nun ein skrupelloser Kollaborateur der Nationalsozialisten, ein eiskalter Geschäftsmann und Verräter, wie ihn manche zionistischen Aktivisten brandmarkten? Oder ein Wohltäter, der nur notgedrungen gemeinsame Sache mit den Nazis machte, um so möglichst vielen Juden die Deportation und Ermordung zu ersparen? 

Die österreichische Historikerin Gabriele Anderl hat nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Entstanden ist dabei die allererste Biografie über Berthold Storfer, der, so Anderl, fast achtmal so viele Juden rettete, wie es der weltberühmte Oskar Schindler vermochte – und dennoch nahezu unbekannt ist. 

Auf Knien die Straßen schrubben 

Bis zum Einmarsch der Deutschen in der Alpenrepublik führte Storfer ein weitgehend ungestörtes Leben. 1880 als Spross einer jüdischen Familie in der Bukowina geboren, betrieb der im Ersten Weltkrieg mehrfach dekorierte Kommerzialrat in Wien eine gut laufende Bankgesellschaft, die an der Börse notiert war und zu Hochzeiten 85 Mitarbeiter beschäftigte. 

Mit dem “Anschluss” Österreichs im März 1938 begann auch dort die systematische Entrechtung und Terrorisierung der Juden. Viele von ihnen wurden gezwungen, kniend die Straßen Wiens zu säubern. Storfers Bank wurde liquidiert, das Gebäude am Schottenring, in dem das Geldinstitu
t seinen Sitz hatte, von bewaffneten NS-Männern gestürmt und geplündert. Anstatt selbst ebenfalls zu flüchten, diente sich Bertold Storfer den Nationalsozialisten genau in jenem Moment an, in dem es für ihn als Juden in Österreich gefährlich wurde. 

Panikartig begannen die Juden, Österreich zu verlassen, im französischen Evian-les-Bains beraumte US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Juli 1938 eine internationale Flüchtlingskonferenz an. Dritter Mann der jüdischen Delegation, die aus Wien nach Evian reiste, war Berthold Storfer. Schon einen Monat nach dem “Anschluss” hatte er sich darum bemüht, eine Hilfsorganisation zur Förderung der jüdischen Emigration zu gründen. 


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Nun, nach seiner Rückkehr aus Evian, machte Storfer sich dafür stark, eine zentrale Behörde für die Flüchtlinge nach Palästina zu etablieren. Mit Erfolg: Anfang 1939 betraute Eichmann ihn mit der Leitung eines “Ausschusses für jüdische Überseetransporte” in Wien. Ein Jahr später übertrug ihm der SS-Obersturmbannführer gar die Leitung der Transporte auch aus dem sogenannten Altreich und dem Protektorat: Berthold Storfer war zu einer zentralen Figur für die Auswanderung der Juden aus dem gesamten Deutschen Reich geworden. 

Eine heikle Aufgabe, war diese forcierte “Auswanderung” doch in Wahrheit eine Vertreibung mit vorangehendem Raub: Wer Deutschland verließ, durfte nur zehn Mark mitnehmen, den Rest des Vermögens behielt der NS-Staat ein und finanzierte damit seine wahnwitzige Aufrüstung. 

Storfer war gezwungen, eng mit den Nationalsozialisten zu kooperieren, bisweilen kam er ihnen gefährlich weit entgegen. So etwa im Oktober 1939 bei den ersten Deportationen von Wien nach Nisko am San in Südostpolen – dem, so Historikerin Anderl, “wohl irritierendsten Kapitel” von Storfers Aktivitäten. Storfer, der im sogenannten Generalgouvernement gemeinsam mit anderen jüdischen Funktionären eine Selbstverwaltung aufbauen sollte, bot der SS aus eigener Initiative Hilfe beim Aufbau einer Art jüdischen “Reservats” an. 

Seine heikle Mittlerrolle zwischen NS-Bürokratie und jüdischen Emigranten machte ihn zur Hassfigur zionistischer Aktivisten, die ebenfalls jüdische Flüchtlingstransporte organisierten. Sie beschimpften Storfer als “Kollaborateur”, der “im Bunde mit dem Teufel” sei und sich nur persönlich bereichern wolle: ein Vorwurf, der laut den Recherchen von Gabriele Anderl aber jeglicher Grundlage entbehrt. 

“Über die Donau oder in die Donau” 

Angefeindet von vielen Seiten, massiv unter Druck gesetzt von Eichmann, der den Juden drohte: “Entweder ihr verschwindet über die Donau oder in der Donau!”, organisierte Storfer ab 1939 den bis dato größten illegalen Schiffstransport jüdischer Flüchtlinge nach Palästina. “Illegal” deshalb, weil Großbritannien, seit 1922 Mandatsmacht in Palästina, in seinem berüchtigten Weißbuch just 1939 die Einwanderung von Juden ins Gelobte Land drastisch einschränkte und kaum noch Flüchtlinge aufnahm. 

Da es offiziell verboten war, Juden nach Palästina zu bringen, war Storfer der Willkür unseriöser Geschäftspartner ausgeliefert, die bislang nicht Menschen, sondern vornehmlich Alkohol oder Waffen geschmuggelt hatten. Kaum einer hielt Wort, die völlig überteuerten Dampfer, die jene Mittelsmänner Storfer zur Verfügung stellten, waren meist altersschwach oder gar schrottreif. 

Nach monatelangem Warten traten am 3. und 4. September 1940 von Wien und Bratislawa aus insgesamt über 3500 jüdische Flüchtlinge, darunter Hunderte freigelassene Häftlinge aus Dachau und Buchenwald, die riskante Reise an. Die Bedingungen auf den überfüllten Schiffen waren erbärmlich: Auf der “Pazifik” gab es kaum Trinkwasser und viel zu wenige Schlafplätze, an Bord der “Atlantik” brach eine Typhusepidemie aus, 15 Menschen starben. Nach insgesamt sechs Wochen Fahrt kamen die Schiffe schließlich in der Hafenstadt Haifa an. 

Kaltblütig abserviert 

Als Storfer Anfang 1941 den NS-Behörden seine Bilanz vorlegte, verwies er stolz auf 9096 Flüchtlinge, die durch seine Vermittlung das Land verlassen konnten. Doch am 23. Oktober 1941 war es damit vorbei: Heinrich Himmler verfügte an jenem Tag, dass die jüdische Emigration sofort zu stoppen sei. Statt die Juden aus dem Land zu jagen, schwenkten die Nationalsozialisten auf die Strategie der Vernichtung um. 

Spätestens mit der Auflösung der Wiener “Zentralstelle für jüdische Auswanderung” im Frühjahr 1943 hatte Storfer, der Judenretter und NS-Mitarbeiter, seine Aufgabe erfüllt und wurde nicht mehr gebraucht. Kaltblütig ließen die Nationalsozialisten ihn fallen. Als Storfer im Sommer 1943 erfuhr, dass er ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert werden sollte, reagierte er mit Panik. 

In einem drei Seiten langen Brief an Adolf Eichmann versuchte Storfer, den Holocaust-Organisator von seiner Unabkömmlichkeit zu überzeugen. Er hob dringende Geschäfte hervor, die noch zu Ende gebracht werden müssten. Und stellte sogar in Aussicht, Gelder, die im Zusammenhang mit der jüdischen Auswanderung geflossen waren, in die Kassen der SS umzuleiten. 

Telegramm aus Auschwitz 

Doch der SS-Obersturmbannführer unterließ es, seine schützende Hand über Storfer zu halten. Am 2. September 1943 tauchte Storfer in Wien unter, er versteckte sich am Stadtrand im Häuschen seiner Freundin, der nichtjüdischen Ärztin Katharina Müller. Fünf Tage später wurde er festgenommen – Ende November landete Storfer in Auschwitz. 

Noch immer hielt Storfer es nicht für möglich, dass man ihn so gnadenlos abservieren würde. Er beauftragte den Lager-Kommandanten Rudolf Höß, Eichmann ein Telegramm zu schicken und ihn nach Auschwitz zu bitten. Eichmann reiste tatsächlich zum Vernichtungslager, wie aus den 1961 in Israel aufgezeichneten Vernehmungsprotokollen hervorgeht. 

Der Holocaust-Organisator, in dessen Augen Storfer “ein ehrenwerter Mann, aber ein Pechvogel” war, erwähnte das Treffen mit seinem einstigen Mitarbeiter ausführlich – wohl mit dem Ziel, sich zu entlasten und als generösen Menschenfreund darzustellen. 

“Große innere Freude” 

Ja, der Bitte Storfers sei er gern nachgekommen, schließlich sei dieser “immer ordentlich gewesen” und man habe all die Jahre am gleichen “Strang gezogen”. Storfer habe ihm sein Leid geklagt und ihn gebeten, von der Zwangsarbeit verschont zu werden. 

Daraufhin habe Eichmann Storfer versprochen, dass er nicht mehr arbeiten müsse, sondern einzig mit dem Besen die Kieswege vor der KZ-Kommandantur in Ordnung halten solle. “Da war er sehr erfreut, und wir gaben uns die Hand, und dann hat er den Besen bekommen und hat sich auf die Bank gesetzt, das war für mich eine große innere Freude gewesen”, berichtete Eichmann dem Polizeihauptmann Avner Less, der ihn verhörte. 

Wenige Wochen nach dieser, von Eichmann als “normales, menschliches Treffen” gepriesenen Begegnung wurde Storfer in Auschwitz ermordet. Offenbar hat man ihn nicht vergast, sondern erschossen. 

Zum Weiterlesen: 

 

Gabriele Anderl: “9096 Leben – Der unbekannte Judenretter Berthold Storfer”. Rotbuch Verlag, 2012, 304 Seiten. 

Quelle: Katja Iken, einestages, Spiegel 25.5.2012