1978 in Italien: Aldo Moros Tod und die Geheimdienste

ALDO MORO

von G. Felbauer (I)

Am vergangenen Sonnabend vor 20 Jahren, am 9. Mai 1978, ermordeten die Roten Brigaden den Vorsitzenden der Christdemokratischen Partei Italiens, Aldo Moro. 55 Tage vorher hatten sie ihn in Rom entführt und dabei sein gesamtes fünfköpfiges Begleitkommando erschossen. Der Politiker befand sich an diesem 16. März auf dem Weg zur Abgeordnetenkammer, in der die Debatte über die Aufnahme der Kommunisten in die Regierungsmehrheit, die Moro mit dem Generalsekretär der IKP, Enrico Berlinguer, vereinbart hatte, angesetzt war.

Die linksextremen Brigate Rosse waren entschiedene Gegner dieses Historischen Kompromisses, wie das Regierungsabkommen zwischen der Democrazia Cristiana und der IKP genannt wurde. Nach ihrer Einschätzung stand die italienische Arbeiterbewegung »an der Schwelle zu einer Veränderung, einer Revolution« (Mario Moretti, Brigate Rosse, Hamburg 1996, S. 58). Davon ausgehend sahen sie im Compromesso storico einen Verrat der IKP am revolutionären Kampf der Arbeiterklasse und wollten mit der Entführung des DC-Vorsitzenden das Abkommen zum Scheitern bringen und »an der Spitze einer Massenbewegung« stehend (Moretti, S. 73) ihre eigene Position stärken. Dazu forderten sie Verhandlungen über die Freilassung Moros, um dadurch ihre Anerkennung als politische »bewaffnete Partei« und die ihrer inhaftierten Genossen als »politische Gefangene« zu erreichen. Später verlangten sie, im Austausch gegen Moro 13 politische Gefangene freizulassen. Die Regierung Andreotti lehnte ab und kalkulierte bewußt den Tod des DC- Führers ein. Über Moro wurde so ein doppeltes Todesurteil verhängt: das der Brigate Rosse und das der Regierung Andreotti. Peter O. Chotjewitz spricht in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe der »Affäre Moro« von Leonardo Sciascia (Frankfurt a. M. 1989) von zwei Tätern und schreibt, daß »der Täter, der ein Interesse an dem Mord hat, nicht identisch ist mit dem ausführenden Täter«, und daß »auch das Verhältnis zwischen dem unmittelbaren und dem mittelbaren Täter kein banales Auftragsverhältnis ist«. (S. 124).

Erbitterte Feinde der linksorientierten Politik Moros waren ebenso – und das bereits zu Zeiten, da die Brigate Rosse noch gar nicht existierten – die herrschenden Kreise der USA, verkörpert vor allem durch den Geheimdienst CIA und das Pentagon, sowie deren einheimische Verbündete in Italien. In dieser Parallelität der Feindschaft wurzelt, ohne daß sich die führenden Brigadisten um Mario Moretti – bedingt durch ihre völlige Mißachtung der ausschlaggebenden Bedeutung des amerikanischen Faktors in der nationalen Klassenauseinandersetzung – dessen bewußt gewesen sein müssen, deren verhängnisvolle Verstrickung in das reaktionäre Komplott gegen Moro.

In diesem Komplott zogen, soviel ist bei aller nach 20 Jahren noch immer vorhandenen Unaufgeklärtheit des Falles Moro bekannt, die CIA und die von ihr direkt geführte geheime NATO-Truppe »stay behind«, die in Italien Gladio hieß, die Fäden. So befand sich, um einen Fakt vorwegzunehmen, zum Zeitpunkt des Überfalls auf Moro der italienische Geheimdienstoberst Camillo Guglielmi am Tatort und verfolgte die Ereignisse. Der Oberst war als Gladio- Offizier verantwortlich für die Ausbildung der »stay behind«- Einheiten in dem NATO-Stützpunkt in Capo Marrargiu auf Sardinien. Dieses brisante Detail kam 1991 im Rahmen der Untersuchungen der italienischen Parlamentskommission zu Gladio ans Licht. Daraus kann eigentlich nur geschlußfolgert werden, daß der Oberst – zumindest – beobachten wollte, ob es mit der Entführung durch die Brigate auch klappt.

Das bedeutet, die zuständigen Geheimdienste waren über den Anschlag auf Moro bereits vorher informiert. Das bestätigte unter anderem General Giovanni Romeo, von 1966 bis 1969 Gladio-Chef und während der Entführung und Ermordung Moros Leiter der Abteilung Innere Sicherheit des Geheimdienstes SISMI, vor der angeführten Parlamentskommission. Es habe von Anfang an gesteuerte V- Leute gegeben, durch die man über die Absichten der Brigate Rosse informiert gewesen sei. Der General war nicht bereit, Namen zu nennen, denn »sie müßten es teuer bezahlen, wenn sie bekannt würden«, erklärte Romeo. Er gab jedoch an, daß alle Namen in den Geheimdienstarchiven hinterlegt seien.

Ohne das eigenständige Handeln der Brigate Rosse in Frage zu stellen, wird Gegenstand der weiteren Darlegungen sein, wie die erbitterte Feindschaft führender Politiker in Washington und Rom gegenüber Moro sich auf dessen Schicksal auswirkte und welche Rolle Polizei und Geheimdienste davon ausgehend spielten.

Langjährige Feindschaft

Die Schlüsselfigur des Komplotts der Amerikaner gegen Moro war auf italienischer Seite Giulio Andreotti, zur Zeit der Entführung Ministerpräsident und Dienstherr der Geheimdienste. Er ist heute der Komplizenschaft mit der Mafia und der Anstiftung zum Mord an dem Journalisten Mino Pecorelli, Herausgeber des brisanten Informationsbulletins Osservatore politico, angeklagt. Pecorelli war dabei, Andreottis Rolle als Verantwortlicher für die Ermordung Moros zu enthüllen, als ihn am 20. März 1979 vor dem Sitz seiner Redaktion in der Via Tacito in Rom zwei Mafia-Killer erschossen.

Washingtons Feindschaft gegenüber Moro reichte bis in die Zeit unmittelbar nach Kriegsende zurück. Der 1916 geborene Politiker gehörte seit 1943 der am antifaschistischen Widerstand teilnehmenden Democrazia Cristiana an, in der er ein führender Kopf der Gruppe »Initiativa Democratica« war, die nach der Niederlage des Faschismus für eine soziale Erneuerung der italienischen Gesellschaft auf christdemokratischen Grundlagen eintrat. Das hieß für Moro Durchführung sozialer Reformen im Rahmen des kapitalistischen Systems, um den in der Arbeiterbewegung vorherrschenden Sozialismus-Vorstellungen eine Alternative entgegenzustellen, gleichzeitig aber Fortsetzung der in der Resistenza entstandenen Zusammenarbeit mit Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten. Moro lehnte die Politik des von Alcide De Gasperi angeführten Parteiflügels ab, der im Klima des kalten Krieges und unter dem massiven Druck der USA und ihrer Marshall-Plan-Strategie eine konservative kapitalistische Restauration durchsetzte.

Seit 1946 gehörte Moro der Verfassungsgebenden Versammlung an und war danach bis zu seinem Tod ununterbrochen Mitglied der Abgeordnetenkammer. Er stand fünfmal der Regierung vor, wurde 1948 das erste Mal zum Staatssekretär ernannt, danach mehrmals zum Außenminister und Chef anderer Kabinettsressorts. Für die 1979 anberaumten Präsidentenwahlen galt er als aussichtsreichster Kandidat seiner Partei.

Moro teilte und unterstützte die politische Haltung seines Parteifreundes Enrico Mattei, eines führenden katholischen Antifaschisten, während der Resistenza Kommandeur einer Partisanenbrigade. Mattei, der die staatliche Energiebehörde ENI aufgebaut hatte, der er ab 1953 als Präsident vorstand, trat entschieden der US-amerikanischen Vorherrschaftspolitik entgegen und stand dem Beitritt in die NATO kritisch gegenüber. Er strebte für Italien eine Jugoslawien ähnliche Position an. Besonders radikaldemokratische Positionen vertrat Mattei in der sogenannten »kommunistischen Frage«, die die USA bereits unmittelbar nach Kriegsende auf die Tagesordnung der italienischen Politik setzten. Ausgehend davon, daß die IKP bereits Anfang der 50er Jahre 22 Prozent Wählerstimmen erreichte, forderte der ENI-Chef öffentlich, die Lösung »der kommunistischen Frage« durch »kraftvolle soziale und ökonomische Reformen herbeizuführen«.

Die weitere Verfolgung dieses »prokommunistischen Kurses« bedeutete für Mattei 1962 wie 15 Jahre später für Moro das Todesurteil. Am 27. Oktober stürzte der ENI- Präsident m
it seinem Privatflugzeug bei Pavia in Norditalien ab und fand den Tod. Jahrzehntelang wurde trotz vorliegender gegenteiliger Beweise die offizielle Version aufrechterhalten, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Erst im Ergebnis der 1991 begonnenen Untersuchungen zu Gladio sowie der damit zusammenhängenden Ermittlungen gegen Ex-Premier Andreotti kam heraus, daß Mattei offensichtlich einem Mordanschlag der CIA zum Opfer fiel.

Gewichtigster Fakt: ein Hauptmann der Leibwache Matteis, der die letzte Inspektion der Maschine vor dem Start durchführte, war Gladio-Offizier. Eine Obduktion der exhumierten Leiche ergab Spuren von Sprengstoff und so den Beweis, daß die Maschine nach einer Bombenexplosion abstürzte. Als der Untersuchungsrichter Giacomo Conte die Ermittlungen wiederaufnahm, stellte er fest, daß auf Weisung des Geheimdienstes SID alle wesentlichen Unterlagen aus dem Dossier über Mattei verschwunden waren. Conte bekam weiter heraus, daß die CIA-Station in Rom über Matteis Tod einen Bericht verfaßt hatte, dessen Herausgabe aus »nationalen Sicherheitsgründen« und da es sich um ein »Staatsgeheimnis« handele, in Washington verweigert wurde.

Moro blieb in Konsequenz der Übereinstimmung mit Mattei am 4. April 1949 demonstrativ der Parlamentssitzung fern, auf der Italiens Beitritt zur NATO beschlossen wurde. Schon diesen Schritt hat man ihm in Washington nie verziehen. De Gasperi schloß ihn deswegen aus dem Kabinett aus. Viele Politiker hielten Moros politische Karriere für beendet. Aber dieser hatte einen starken Rückhalt in der linken Parteibasis, die noch an den Traditionen der Resistenza festhielt. Während De Gasperi 1953 über seinen proamerikanischen Regierungskurs stürzte und die DC eine schwere Wahlniederlage einstecken mußte (sie verlor über acht Prozent Stimmen), kehrte Moro nach dieser Wahl in die Politik zurück und 1955 in die Regierung.

Öffnung nach links

Als die DC 1963 über keine parlamentarische Mehrheit mehr verfügte, setzte Moro seine erste apertura a sinistra, die Öffnung nach links, durch und nahm die 1947 zusammen mit den Kommunisten aus dem Kabinett geworfenen Sozialisten wieder in die Regierung auf. Es war die erste Centro sinistra, linke Mitte, genannte Regierung. Bis 1976 folgten zwei weitere, die Moro anführte. Schon bald stand auch diese Regierungsform ohne Mehrheit im Parlament da, weil die IKP ihre Wählerstimmen von 25,3 Prozent (1963) auf 33,8 (1976) steigerte. Moro steuerte nun seine zweite apertura a sinistra an: die Beteiligung der IKP an der Regierung, zunächst durch Stimmenthaltung, ab März 1978 mit dem Eintritt in die parlamentarische Regierungsmehrheit.

Moros zweite Öffnung nach links stieß in den USA auf erbitterten Widerstand, der in einer regelrechten Mordhetze gegen den DC-Politiker gipfelte. Als sich Moro 1974 als Außenminister in Begleitung von Staatspräsident Leone in Washington befand, wurde er massiv unter Druck gesetzt. Präsident Ford rechtfertigte unmittelbar vor dem Eintreffen der Italiener auf einer Pressekonferenz unverhüllt die Rolle der Amerikaner beim Militärputsch Pinochets in Chile, der die frei gewählte Regierung des Sozialisten Allende stürzte und den Präsidenten ermorden ließ. Ford wörtlich: »Wir haben dort das getan, was die Vereinigten Staaten tun, um ihre Interessen im Ausland zu verteidigen.« In einer jeglicher diplomatischen Etikette hohnsprechenden Weise wurde die italienische Delegation anschließend mit der Aussage, die Kissinger gerade vor dem Kongreß zur USA-Einmischung in Chile abgegeben hatte, konfrontiert: »Sie machen uns Vorwürfe wegen Chile. Sie würden uns noch härtere Vorwürfe machen, wenn wir nichts tun würden, um die Beteiligung der Kommunisten an der Machtausübung in Italien oder anderen Ländern Westeuropas zu verhindern.« Moro reiste nach diesem Affront gegen seine Politik vorzeitig aus Washington ab.

Eleonora Moro, die Witwe des ermordeten DC-Führers, sagte im Rahmen der parlamentarischen Untersuchung zum Fall Moro aus, daß ihrem Mann während dieses Staatsbesuches in Washington massiv Konsequenzen für den Fall angedroht wurden, daß er seine Zusammenarbeit mit den Kommunisten nicht aufgebe. »Entweder hören Sie auf damit, oder Sie werden es teuer bezahlen«, habe ihm ein Gesprächspartner, dessen Namen ihr Mann nicht nannte, angekündigt. Ihr Mann habe das so ernst genommen, daß er, nach Rom zurückgekehrt, sein Testament aufgesetzt habe.

CIA schafft Realitäten

Der bereits erwähnte Osservatore-Herausgeber Pecorelli schrieb, ein hoher Beamter des Weißen Hauses habe unter Anspielung auf die Ermordung Kennedys geäußert, wenn Moro so weiter mache, werde es auch in Italien »eine Jaqueline geben«.

Kissinger folgte Moro fast auf den Fersen und war bereits im November wieder in Rom. In einem Interview äußerte er sich unverblümt zur Aufgabe der CIA, die »Realitäten zu schaffen« habe, was der Korrespondent Ray Cline in der New York Times umgehend wie folgt interpretierte: »Ich bin mir so gut wie sicher, daß die verwirrende Situation in Italien durch die Geheimaktivitäten der CIA gelöst werden wird.« Zur Wertung dieser Meinung ist zu ergänzen, daß Cline auf den Gehaltslisten der Company geführt wurde und das dem Geheimdienst gehörende Center of Strategic and International Studies (CSIS) leitete.

Zu den Studienschwerpunkten des der Georgetown University in Washington angeschlossenen CSIS gehörte, antikommunistische Strategien gegen Moros Koalitionspolitik mit den Kommunisten auszuarbeiten. Zu den einflußreichsten Mitgliedern der subversiven Institution gehörten Ronald Reagan, Alexander Haig, Henry Kissinger und William Colby, letzterer bekannt als langjährigerer CIA- Chef in Rom, später Direktor der Company, leitender Mitorganisator des Putsches gegen Allende.

In den folgenden Jahren wurden Kissingers Angriffe auf Moro noch schärfer. Er wertete dessen Politik als »äußerst negativ«, nannte ihn den »Allende Italiens«, einen Kommunisten, der »gefährlicher als Castro« sei und »Italien in kommunistische Abhängigkeit« steuere. Zuverlässige Erfüllungsgehilfen hatte Kissinger in den Botschaftern, die er nach Rom schickte. John Volpe (in italienischen Zeitungen nach der Vokabel Colpo, Staatsstreich, als »Mister Colpe« bezeichnet) erklärte offiziell, eine Regierungsbeteiligung der IKP stünde »in grundsätzlichem Widerspruch zur NATO«. Sein Nachfolger Richard Gardner nannte Moro noch nach der Entführung den »gefährlichsten Politiker Italiens«.

Moros Ziel war jedoch alles andere, als »Italien in kommunistische Abhängigkeit zu steuern«. Wie aus Äußerungen, unter anderem seines Nachfolgers im Amt des Parteivorsitzenden, Flamigno Picoli, hervorging, versuchte er in einer zugespitzten Situation der Blockkonfrontation im Gegenteil, die Lage zu entspannen. So erklärte Picoli: »Ich bin überzeugt, daß, wenn die Wahrheit über die Entführung und Tötung Moros herauskommt, wir entdecken werden, daß er ausgeschaltet wurde, weil er nicht wollte, daß Italien der Schauplatz von Konkurrenzkämpfen geheimer Mächte wird, wie im ersten und zweiten Weltkrieg; er wurde ausgeschaltet, weil er in den letzten drei Monaten in Gesprächen mit Amerikanern und den Russen seine Fähigkeit gezeigt hat, Initiativen zur Herstellung des nationalen Ausgleichs zu ergreifen.«

Picoli hütete sich damals, seine Gedanken näher zu erläutern, denn das konnte, wie das Schicksal von Anhängern Moros bewies, den Tod bedeuten. Heute greifen kühne Analytiker seine Äußerungen auf. In Polen bahnte sich Ende der 70er Jahre ein Entwicklung an, die man in gewisser entgegengesetzter Weise mit der in Italien vergleichen konnte. Höchstwahrscheinlich schwebte Moro ein Ausgleich dergestalt vor, gegen eine Beteiligung der kommunistischen Opposition in Rom eine solche der Solidarnosc in Warschau auszuhandeln. Das ganze mit einer Lockerung der Beziehungen zur NATO bzw. zum Warschauer Pakt, etwa nach d
em französischem Modell der militärischen Nichtintegration, verbunden. Es scheint, daß es mehr ein »no« denn ein »njet« war, das die Sache zum Scheitern brachte.

Wie Untersuchungen der P2-Kommission des italienischen Parlaments zutage brachten, war man in Washington Moros Neutralitätsplänen schon seit längerem auf der Spur. Auf einer Tagung des eben erwähnten CIA-Instituts CSIS im April 1976 waren sich seine einflußreichen Mitglieder einig, »entschiedener in Italien einzugreifen«, damit das Land über einen Eintritt der Kommunisten in die Regierung nicht den Weg der »Neutralität« zwischen den Blöcken einschlage, in dem dann »die NATO nichts mehr zu sagen« habe und die »sechste amerikanische Flotte« im Mittelmeerraum ihre Positionen verlieren würde. Colby empfahl »raffiniertere Techniken« und eine »Serie von Zwischenschritten zur Kontrolle« der Situation.

Als Moro im Januar 1978 das Regierungsabkommen mit den Kommunisten schloß, war das für Washington offensichtlich der letzte Anlaß, mit seinen »Eskapaden« Schluß zu machen. Das Komplott gegen den DC-Führer ging in seine Endphase.

 

Eine Serie von Gerhard Feldbauer (II)

Der Überfall auf Moro erfolgt an jenem 16. März 1978 etwa zwischen 9 und 9.05 Uhr an der Kreuzung Via Fani/Via Stresa am Rande des kleinen Parks der Villa tre Colli im Nordwesten von Rom. Kurze Zeit nach dem Anschlag fallen im Stadtbezirk des Tatortes für etwa eine Stunde die Telefonverbindungen aus. Das verzögert die Einleitung der Fahndung und hat unter anderem zur Folge, daß Straßensperren teilweise erst eine Stunde nach der Entführung errichtet werden. Zumindest begünstigt dieser Ausfall, daß die Entführer unentdeckt entkommen können. Laut den Ausführungen Mario Morettis erreichten die Brigadisten mit Moro noch vor Ablauf dieser Stunde das vorbereitete Versteck in der Via Montalcini im Südwesten der Stadt (Moretti, Brigate Rosse, S. 161). Später fallen die Telefonverbindungen noch zweimal während Telefongesprächen der Brigadisten mit Zeitungsredaktionen aus, was möglicherweise verhindert, über die abgehörten Leitungen festzustellen, woher die Anrufe kamen.

Zunächst hält man das für Zufälle. Als jedoch im Mai 1981 die Existenz einer von dem Altfaschisten Licio Gelli bereits Anfang der 70er Jahre gebildeten und mit amerikanischen sowie italienischen Geheimdienstkreisen liierten Geheimloge P2 (Propaganda due) aufgedeckt wird, erscheinen diese wie zahlreiche andere mysteriöse Fakten aus der Fahndung nach den Moro-Entführern in einem anderen Licht. Bei den Untersuchungen der zur P2 eingesetzten Parlamentskommission stellt sich heraus, daß diese zusammen mit der erst zehn Jahre später aufgedeckten geheimen NATO-Truppe Gladio in der Affäre Moro die entscheidenden Fäden zog. So war Mitglied der P2 auch der Generaldirektor der staatlichen Telefongesellschaft SIP, Michele Principe. Ebenso der am Tag der Entführung im Polizeipräsidium diensthabende Offizier, Antonio Esposito.

Die P2 verfolgte das Ziel, mittels eines kalten Staatsstreichs die IKP auszuschalten und ein diktatorisches Regime rechtsextremen Typs an die Macht zu bringen. Dem stand Moro als der führende Mann der Democrazia Cristiana an erster Stelle im Wege. Unter den ca 2 500 Logenmitgliedern befanden sich 43 Generäle, darunter die gesamte Führungsspitze der Geheimdienste der letzten 30 Jahre, der komplette Generalstab des Heeres, hohe Polizeiführer und Carabinieri-Generäle sowie etwa 400 Offiziere. Die Stationschefs der CIA in Rom hielten für die P2 die Verbindungen zu ihrer Zentrale in Langley. Die Company ließ der Loge monatlich zehn Millionen Dollar zukommen. NATO-Befehlshaber wie General Haig und der damalige US-Außenminister Kissinger förderten die Loge nach besten Kräften.

Durch den hohen Anteil an Militärs und Geheimdienstlern unter ihren Mitgliedern konnte die P2 den Militär- und Sicherheitsbereich zum großen Teil kontrollieren und beeinflussen. Das wurde im Fall Moro offen sichtbar. Die Untersuchung der Machenschaften der P2 durch eine Parlamentskommission ergab, daß die meisten der mit der Fahndung nach den Moro-Entführern befaßten Beamten Logenmitglieder waren, die die Ermittlungen be- oder auch regelrecht verhinderten.

Das nimmt nicht Wunder angesichts der inzwischen bekannten Tatsache, daß Giulio Andreotti als die graue Eminenz, der eigentliche Chef der P2 gilt. Während der Entführung entschied er als Ministerpräsident an oberster Stelle über alle Fragen der Fahndung und so letztlich über Leben und Tod Moros. Er überließ ihn der Exekution durch die Brigate Rosse.

Andreotti wurde bereits durch die Ergebnisse der P2- Untersuchungkommission schwer belastet. Die Sekretärin Gellis, Nara Lazzeroni, sagte aus, daß in der Loge »der eigentliche Chef Andreotti und nicht Gelli war«. Die Witwe des P2-Bankiers Roberto Calvi, als Präsident der Ambrosianobank zu seiner Zeit einer der mächtigsten Finanziers Italiens, bestätigte ebenfalls, daß Gelli in ihrer Gegenwart von Andreotti als dem Mann »über sich« sprach. Calvi wurde im Juni 1982 per Selbstmord umgebracht, nachdem er Enthüllungen über die P2 angekündigt hatte.

Weitere Aussagen, darunter die des Geheimdienstgenerals Luigi Bittoni, bestätigen Andreottis Chefrolle in der Putschistenloge. Die römische Zeitschrift Europeo hatte übrigens bereits am 15. Oktober 1983 aus den Untersuchungsergebnissen der P2-Kommission des Parlaments geschlußfolgert, daß es sich bei Andreotti um »den wahren Chef der Propaganda due« handelt.

Andreottis Verbindungen

Konnte sich Andreotti vor der P2-Kommission des Parlaments noch herausreden, so wurde es mit der 1995 gegen ihn wegen »Beteiligung an einer mafiosen Vereinigung« erhobenen Anklage ernst. In dem Prozeß geht es nicht nur um den Mord an dem Journalisten Pecorelli, den die Mafia im Auftrag Andreottis ausgeführt haben soll (siehe Folge I), sondern generell um die Verflechtung zwischen der »ehrenwerten Gesellschaft« und der P2 und um die Rolle des Ex-Premiers als Kontaktmann. Es sei in der Mafia bekannt gewesen, daß »einer der Kanäle, um an Andreotti heranzukommen, der Weg über die Geheimloge« war. Daß Andreotti dem Unternehmer Gelli in seiner Zeit als Verteidigungsminister lukratrive NATO-Aufträge zuschanzte, dürfte ein vergleichsweise harmloses Delikt sein. Schwerwiegender dagegen, daß er ein aktiver Förderer des P2-Bankiers und eines der damals international größten Finanzmagnaten, Vertrauensmann des Vatikans und der Mafia in einer Person, Michele Sindona, war.

Als dieser nach seinem Bankrott und lebenslänglicher Verurteilung die »Omerta« brach und über das Geflecht von Mafia und P2 auspacken wollte, wurde er im Gefängnis mit Zyankali vergiftet. Gewichtigster Anklagepunkt war die Anstiftung zum Mord an dem Anwalt Giorgio Ambrosoli, der als Sindonas Konkursverwalter auf dessen Rolle und auf die Andreottis im Geflecht von Mafia und P2 und in diesem Zusammenhang auch auf die Verantwortung des damaligen Ministerpräsidenten für die Ermordung Moros gestoßen war.

Unmittelbar nach der Entführung Moros kündigte Andreotti in einer von Rundfunk und Fernsehen übertragenen Erklärung an, gegen die Entführer mit »Fermezza« und »Intransigenza« vorzugehen. Die Linie der »unnachgiebigen Härte« bedeutete, daß im Gegensatz zu allen früheren (und späteren) Fällen Verhandlungen mit den Entführern abgelehnt wurden. Auf dieser Linie setzte sich Andreottis P2- Maschinerie in Bewegung. Die in dem von Innenminister Francesco Cossiga gebildeten Krisenstab vertretenen Spitzen von Geheimdiensten, Polizei und Militär gehörten nahezu ausnahmslos der Putschistenloge an.

Neben diesem offiziellen Krisenstab existierte ein sogenannter Schattenkrisenstab, der die eigentliche Zentrale der Fahndung – besser gesagt: ihrer Verhinderung – darstellte. Wie das Mitglied der P2-Kommission Sergio Flamigni in seinem 1996 in Mailand erschienenen-Buch »Trame atlantiche. Storia della Loggia massonica segre
ta« (Atlantische Dramen. Die Geschichte der geheimen Freimaurerloge P2) schreibt, habe der Schattenstab präzise das Ziel verfolgt, den offiziellen Ermittlungen, die das Gefängnis Moros ausfindig machen sollten, »entgegenzuwirken und sie auf falsche Spuren zu bringen« (S. 244). Dem Schattenstab gehörten unter anderem der offizielle P2-Chef Licio Gelli, der Leiter des Büros für vertrauliche Angelegenheiten des Innenministeriums, Umberto Federico D’Amato, und der aus Washington eingeflogene Spezialagent Kissingers und Chef der Anti- Terrorismusabteilung des State Department, Steve Pieczenik, an.

Mit D’Amato und Pieczenik, die beide gleichzeitig auch im Krisenstab Cossigas saßen, hatte die CIA zwei ihrer einflußreichsten Leute in Rom zu sitzen, die die Fahndung in die gewünschte ergebnislose Richtung lenkten. D’Amato hatte mehrere Jahre die zentrale CIA-Station für Europa mit Sitz in Bern, im sogenannten Berner Club, geleitet, der sich in den 70er Jahren emsig mit der Einschleusung von Agenten in linksradikale Organisationen, darunter in die Brigate Rosse, befaßte. Sein Büro im Innenministerium war vorwiegend mit denselben Aufgaben betraut. Pieczenik, der als »Berater« des Innenministers fungierte, vertrat die von Premier Andreotti eingeschlagene Linie »unnachgiebiger Härte« am härtesten und propagierte die von der westdeutschen Bundesregierung ein Jahr vorher im Fall Schleyer praktizierte Haltung als Vorbild: nicht verhandeln, allenfalls hinhalten, Befreiungsaktionen ankündigen, den Tod der Geisel in Kauf nehmen. Er vertrat den Standpunkt, die Fahndung auf keinen Fall »zu forcieren«. Einer seiner »aufmunternden Sprüche« lautete: »Kein Mensch ist für das Leben eines Nationalstaates unentbehrlich.«

Auf dieser Linie schleppte sich die Fahndung dahin, die von der Parlamentskommission als eine einzige »Paradeschau« charakterisiert wurde. Der Chef des Geheimdienstes SISMI, Giuseppe Santovito, auch er P2- Mitglied, in dessen Dienst ein Gladio-Büro untergebracht war, dem die zur Fahndung eingesetzten Spezialeinheiten unterstanden, konnte während der Befragung durch die Parlamentskommission »rein gar nichts« darüber sagen, was der SISMI zur Aufklärung der Entführung beigetragen habe. Es stellte sich heraus, daß telefonischen Hinweisen auf vier möglicherweise am Überfall beteiligte Brigadisten und auf ein von ihnen benutztes Fahrzeug nicht nachgegangen und dieses erst einen Monat später an die zuständige Spezialeinheit weitergegeben wurde. Einem bereits zwei Tage nach der Entführung eingegangenen anonymen Hinweis auf einen Brigate-Stützpunkt in der Via Gradoli wurde nicht nachgegangen. Lediglich eine Polizeistreife wird vorbeigeschickt, die sich entfernt, als niemand öffnet. Wie sich später herausstellt, hielten sich in der Wohnung Brigate- Chef Moretti und weitere Entführer auf.

Munition von der P 2?

Eine Schlüsselrolle bei der Verhinderung einer effektiven Fahndung spielte der die Ermittlungen leitende Staatsanwalt Luciano Infelisi. Zunächst erregte es Erstaunen, daß er in diesem in der italienischen Nachkriegsgeschichte einmaligen politischen Mordfall allein ermittelte. Schon für weniger gewichtige Fälle waren in der Vergangenheit Sonderkommissionen gebildet worden.

Die Fahndung verdeutlichte sehr rasch, daß Infelisi sich bei seinen »Ermittlungen« nicht in die Karten schauen lassen wollte. In einer Sonderkommission wäre es wahrscheinlich nicht möglich gewesen, die kriminaltechnische Rekonstruktion am Tatort 14 Tage zu verschleppen und erst dann durchzuführen. Dem Staatsanwalt übergebene Fotos, die ein Beobachter am Tatort aufgenommen hatte, verschwanden spurlos. Sie hätten vermutlich zusammen mit aufgefundenen Patronenhülsen darüber Aufschluß geben können, daß auf Moros Eskorte nicht nur ausschließlich von den auf der linken Seite postierten Brigadisten geschossen wurde, wie Moretti erklärt (S. 145 ff.), sondern noch von ein oder zwei Schützen von der gegenüberliegenden Seite. Dafür spricht, daß von den am Tatort gefundenen 92 Patronenhülsen 39 mit einem Speziallack überzogen waren, mit dem die Munition für Gladio-Einheiten präpariert wurde, um sie in Erddepots vergraben zu können. Waren es Gladiatoren, die am Überfall beteiligt waren? War der Gladio-Oberst Gugliemi deshalb zum Zeitpunkt der Entführung am Tatort (siehe Folge I)?

In diesem Kontext haben Experten schon frühzeitig hervorgehoben, daß das fünfköpfige Begleitkommando mit höchster militärischer Präzision liquidiert wurde. Vier der Leibwächter wurden sofort tödlich getroffen. Nur einem gelang es, seine Pistole zu ziehen und drei Schuß abzugeben, die aber niemanden trafen. Was Moretti über den Hergang schildert, führt die Ergebnisse geradezu ad absurdum. »Übertreiben wir es nicht mit der militärischen Präzision. Mit unseren hochgelobten Fähigkeiten der militärischen Präzision war es nicht so weit her«, erklärt er und erläutert, daß es bei den »BR keine herausragenden Schützen« gab. Vier Brigadisten schossen mit MPi. Eine der verwendeten Waffen war ein Modell »Zerbino« aus der Zeit der faschistischen Salo-Republik. Zwei der Waffen hatten während des Überfalls »Ladehemmung«. Einer der Brigadisten mußte erst »das verklemmte Magazin seiner Maschinenpistole wechseln«, ehe er schießen konnte. Nach dem Überfall hätten die Brigadisten »unter Schock« gestanden (S. 143 ff.).

Aber vielleicht will Moretti hier auch »verdeckte« Hinweise darauf geben, daß der Überfall sich so gar nicht abgespielt haben kann? Ist doch auch in den meisten Berichten italienischer Zeitungen zum 20. Jahrestag der Entführung gefragt worden, ob die Brigadisten nicht noch immer jemanden decken?

Im Widerspruch zur verfassungsmäßigen Praxis gab die römische Staatsanwaltschaft die Leitung der Ermittlungen an das Innenministerium ab, wo sie in die Kompetenz des Krisenstabes fielen. Der Leiter der Staatsanwaltschaft, Claudio Vitalone, der dem widerspruchslos zustimmte, beteiligte sich zusammen mit dem Geheimdienst an einer gezielten Irreführung der Fahndung. Am 15. April wurde eine gefälschte Mitteilung der Brigate Rosse in die Medien lanciert, die besagte, Moro sei getötet und seine Leiche in dem zugefrorenen »Lago della Duchessa« nördlich von Rom versenkt worden.

Bei Vitalone handelt es sich um einen engen Vertrauten Andreottis, der auch als dessen Rechtsberater fungierte. In dem gegenwärtig laufenden Prozeß gegen Andreotti wegen »Komplizenschaft mit der Mafia« wird gegen Vitalone als Kontaktperson des Ex-Premiers zur »ehrenwerten Gesellschaft« ermittelt. Er wird ferner beschuldigt, Komplize des Richters Corrado Carnevale gewesen zu sein, der im Auftrag Andreottis in Hunderten von Prozessen dafür sorgte, daß angeklagte Mafiosi freigesprochen oder die Verfahren niedergeschlagen wurden. Die gleiche Praxis verfolgte er in zahlreichen Prozessen gegen neofaschistische Terroristen. Im Prozeß gegen den offiziellen P2-Chef Licio Gelli sorgte Carnevale dafür, daß die Anklagepunkte wegen umstürzlerischer Tätigkeit, des Putschversuchs und der Mitgliedschaft in einer bewaffneten kriminellen Vereinigung fallengelassen wurden.

»Verschwundene« Seiten

Bis heute ist das Verschwinden eines Teils der Aufzeichnungen, die die Brigadisten von den Gesprächen mit Moro im »Volksgefängnis« machten (es sei kein Verhör gewesen, erklärt Moretti) sowie einer Denkschrift des DC- Führers (Moretti, S. 171 ff.) nicht geklärt. Den Tod vor Augen, hatte Moro sich, soweit bekanntwurde, in zwar verschlüsselter, aber informierten Politikern durchaus verständlicher Weise zur Einmischung der USA in die italienische Politik, darunter zur Spannungsstrategie, zu den Staatsstreichversuchen in den 60er und 70er Jahren und der Verwicklung der Geheimdienste in diese, zu Gladio wie auch zu den Beziehungen Andreottis zu Mafia-Kreisen geäußert. Moro sprach auch an, ob die Ablehnung von Verhandlungen mit den Brigate Rosse durch
die Regierung Andreotti in seinem Fall einer Forderung der Amerikaner und Gladio entspreche.

Einen Teil der Aufzeichnungen Moros fand man im Oktober 1978 bei einer Razzia in Mailand in einem Brigate- Stützpunkt in der Via Monte Nevoso, den Rest der Notizen bezeichnenderweise erst 1990 im Rahmen der Ermittlungen über Gladio in derselben Wohnung, die die ganzen Jahre nicht vermietet worden war, hinter einer Mauer versteckt.

Sowohl 1978 als auch 1990 wurden die Aufzeichnungen Andreotti übergeben, der seit 1989 wieder das Amt des Ministerpräsidenten innehatte. Er ließ beide Male die brisantesten Teile, besonders die ihn belastenden, verschwinden. Nachdem mutige Juristen, an ihrer Spitze der Untersuchungsrichter Felice Casson, schon ab 1989 die Existenz von Gladio enthüllt hatten, trat Andreotti im Oktober 1991 die Flucht nach vorn an und »informierte« über die geheime NATO-Truppe. Er versuchte allerdings, wo es nur irgend ging, zu verharmlosen und auch einfach die Tatsachen zu leugnen und behauptete, die Gladio- Angehörigen seien »ausgewählte verfassungstreue«, »politisch nicht gebundene« und »in keine Verfahren involvierte« Männer. Andreotti ließ sich die betreffenden Unterlagen übergeben und aus dem Dossier wieder einmal zwei Seiten verschwinden. Wie angenommen wird, über seine Rolle, auch im Mordfall Moro.

Morgen: V-Leute, Provokateure und Kronzeugen

Eine Serie von Gerhard Feldbauer (III)

Mitte der 60er Jahre konzipierte der US- Geheimdienstgeneral Anthony Vernon Walters, der später unter Nixon zum Chef der CIA avancierte und Anfang 1990 sicher nicht zufällig als Botschafter nach Bonn kam, die sogenannte Spannungsstrategie, die das Klima für Obristenputsche anheizen sollte, wie sie 1967 in Griechenland und 1973 in Chile stattfanden. Die Studentenrevolten 1968, das Anwachsen der radikalen Linken und ihr teilweiser Übergang zu Formen des bewaffneten Kampfes in Westeuropa veranlaßten die CIA und ihre Verbündeten in den NATO-Staaten, dieses Potential nach altbekannten Geheimdienstpraktiken mit Agenten zu infiltrieren, seine Aktionen anzuheizen und für die Zwecke der Spannungsstrategie zu nutzen. Der Einfachheit halber aber wurden in vielen Fällen auch nach neofaschistischen Anschlägen »links« getarnte Terroristen präsentiert.

Konkrete Weisungen dazu enthielt, wie das römische Wochenmagazin Europeo am 27. Oktober 1978 enthüllte, das im November 1970 vom Pentagon herausgegebene »Field manuel« 30-31. Das Dokument mit der kriegsmäßigen Bezeichnung »Feldhandbuch« bildete die Operationgrundlage für die Gladio-Truppe, die in Zusammenarbeit mit den italienischen Geheimdiensten und der Putschistenloge P2 die Spannungsstrategie umsetzte.

Die CIA-Division

Die in einer VII. Division zusammengefaßten 12 000 Gladiatoren wurden dazu direkt der CIA unterstellt. Die Grundlage dafür bildete, wie der Richter Felice Casson 1994 in einem Prozeß gegen die Gladio-Kommandeure Admiral Fulvio Martini (früher Chef des Geheimdienstes SISMI) und seinen Vize General Paolo Inzerilli nachwies, die SACEUR- Direktive der NATO vom Juni 1968. Im Gegensatz zur NATO, die formalrechtlich in die Geheimdienstaktivitäten der NATO-Partner eingreifen konnte, wurde damit das verfassungsfeindliche Wirken von Gladio unter dem Kommando der CIA in Italien nachgewiesen.

Bereits beim ersten Anschlag der Spannungsstrategen am 12. Dezember 1969 in der Mailänder Landwirtschaftsbank auf der Piazza Fontana (16 Tote, über 80 Verletzte), den neofaschistische Terroristen durchführten, war ein Agent provocateur am Werk, der die Spuren nach links lenken sollte. Der als Geheimdienstagent angeworbene Neofaschist Mario Merlino gründete einen anarchistischen Zirkel, für den er den Ballett-Tänzer Pietro Valpreda anwarb, der danach mit falschen Zeugenaussagen als einer der Organisatoren des Attentats präsentiert wurde.

Aus der langen Kette der bekanntgewordenen Fälle ein weiterer: Der Neofaschist und Gladio-Angehörige Gianfranco Bertoli führte im Mai 1973 einen Bombenanschlag auf das Mailänder Polizeipräsidium durch (vier Tote, 52 Verletzte). Dabei sollte auch Ministerpräsident Rumor getötet werden, der jedoch zu spät eintraf und so dem Attentat entging. Der noch am Tatort festgenommene Bertoli erklärte, Anarchist zu sein, der den Tod seines 1969 von der Polizei umgebrachten Anarchistenfreundes Pinelli rächen wollte. Als »Beweis« zeigte er auf seinem Arm ein tätowiertes A in einem Kreis, das Erkennungszeichen der Anarchisten.

Zu den bevorzugten Objekten verdeckter Operationen der Geheimdienste gehörten ohne Zweifel die Brigate Rosse. Bekannt wurde ein Marco Pisetta, der seit 1968 in linksradikalen Gruppen aktiv war und Anschluß an die Brigate fand. Als ihn die BR enttarnten, konnte er mit Hilfe der Polizei untertauchen und später in die Bundesrepublik ausreisen (Brigate Rosse, S. 48). Pisetta denunzierte viele linke Studenten, Professoren und Arbeiter und bezichtigte sie krimineller Aktivitäten. Später sagte er vor Gericht gegen angeklagte Brigadisten aus. Curcio meint, Pisetta sei nicht eingeschleust worden, sondern die Polizei konnte ihn »zur Zusammenarbeit überreden« (Renato Curcio, Mit offenem Blick, Berlin 1997, S. 66 f.).

Gefängnisbekanntschaften

Die Parlamentskommission zum Fall Moro befaßte sich mit dem CIA-Agenten Ronald Stark, der – angeblich wegen Drogenhandels – in Pisa im selben Gefängnis saß, in das der Brigatechef Curcio und andere Mitglieder des »historischen Kerns« nach ihrer Verhaftung eingeliefert wurden. Stark gab sich als Vertrauensmann der Palästinenser aus, unterbreitete Fluchtpläne und bot die Vermittlung von Waffen und die Ausbildung in PLO-Lagern sowie in Libyen an. Der Agent soll umfangreiche Informationen über die Brigate und ihre Aktivitäten beschafft, für sie ein geheimes Informationssystem installiert haben und beim Abfassen von Dokumenten beteiligt gewesen sein. Curcio bezeichnet das zu »90 Prozent als Märchen« (S. 121 f.). Aber schon zehn Prozent dürften keine schlechte Ausbeute gewesen sein. In einer Erklärung zum Prozeß von Verona vom März 1982 haben die angeklagten Brigadisten eingeschätzt, daß es Mitglieder gab, die »die eigene Klasse verraten« haben und sich »von der Polizei anwerben ließen«. Es handelt sich hier vor allem um Pentiti (Kronzeugen), von denen aber oft nicht bekannt wurde, ob sie bereits zu Zeiten ihrer Aktivitäten in den Brigate von Polizei und Geheimdiensten zur Kollaboration geworben worden waren. Offen bleibt bis heute auch, ob alle einst in den Brigate aktiven Kollaborateure und eingeschleusten Agenten enttarnt wurden.

Der Geheimdienstgeneral und mehrjährige Gladio-Chef Giovanni Romeo verneint das (siehe Folge I) und dürfte damit bei allen gegen Geheimdienstverlautbarungen gegebenen Vorbehalten wohl recht haben.

Charakteristisch ist, daß sowohl Curcio und Franceschini 1974/76 als auch Moretti 1982 durch Agenten der Polizei ausgeliefert wurden. Morettis Festnahme soll das Werk eines Polizeiagenten Renato Longo gewesen sein, der wahrscheinlich bereits vor der Entführung Moros eingeschleust worden war. Die Umstände, unter denen Mara Cagol, die Frau Curcios und ebenfalls Mitglied des historischen Gründerkerns, ums Leben kam – sie wurde, bereits verwundet, offensichtlich exekutiert -, lassen vermuten, daß auch sie Opfer eines Spitzels wurde.

Umfassende Informationen über Struktur, Pläne und Aktionen der Brigate, darunter über die Vorbereitung und Durchführung der Entführung Moros, erhielten die Ermittler durch den Chef der Turiner Kolonne und Mitglied der strategischen Leitung der Brigate, Patricio Peci, der nach seiner Verhaftung im Februar 1980 zum »Superpentito« wurde, wie Moretti erklärt (Brigate Rosse, S. 141 f.). Sergio Flamigni dagegen hält es für wahrscheinlich, daß er bereits früher als Agent geworben wurde (Das Spinnennetz, S. 205).

Nach Presseberichten umfaßte das Protokoll der Aussagen Pecis 70 Seiten und die Namen von 50 Brigadisten und Mitgliedern anderer linksradikaler Organisationen, was zur Verhaftung der meisten von ihnen führte. Vier der von Peci verratenen Brigadisten der Genueser Kolonne überfielen die Carabinieri nachts in ihrem Stützpunkt und brachten sie vorsätzlich im Schlaf um (Moretti, S. 236).

Durch Peci erfuhren die Ermittler zum ersten Mal auch von Moretti als dem Organisator der Entführung Moros und dem Mann, der Moro erschoß. Den Brigate-Anwalt Edoardo Arnaldi beschuldigte der Pentito der Komplizenschaft mit diesen. Er habe zwischen den inhaftierten Brigadisten die Verbindungen aufrechterhalten. Arnaldi hat sich bei der Festnahme erschossen.

International bewährt

Der herausragende und wahrscheinlich für die weitere Arbeit der Geheimdienste und der Polizei entscheidende Schlag gelang jedoch bereits mit der Einschleusung des Agenten Silvano Girotto. In langjähriger Agentenarbeit erfahren, bewerkstelligte dieser im September 1974 die Verhaftung der beiden Gründerchefs Curcio und Franceschini.

Der Sohn eines Carabinieri-Offiziers war als Fremdenlegionär in Algerien gewesen und hatte danach in Südamerika als Franziskanermönch getarnt für die CIA gearbeitet, die ihn in die Guerillabewegung einschleuste. Er hatte unter anderem den bolivanischen Guerillaführer Jaime Paz Zamora denunziert, der daraufhin 1972 in La Paz festgenommen werden konnte. Nach dem Militärputsch in Chile leistete Girotto der Pinochet-Junta Spitzeldienste. Über die Schweiz kehrte Girotto nach Italien zurück. Die Transitroute ist unter dem Gesichtspunkt interessant, als sich in Bern die zentrale CIA-Station für Europa befand. In Italien angekommen, wurde Girotto ein begehrter Interviewpartner großbürgerlicher Zeitungen, in denen er mit seinen Guerillaerfahrungen prahlen und seine Bewunderung für die Brigate Rosse propagieren durfte. Darunter befanden sich der Mailänder »Corriere della Sera«, dessen Chefredakteur, Franco di Bella, später als Mitglied der Putschistenloge P2 bekannt wurde, aber auch die Zeitschrift der neofaschistischen MSI- Partei »Il Borghese«. Trotz dieser seltsamen Lancierungskampagne sah man in der BR-Führung, wie Moretti schreibt, »keine Anhaltspunkte, ihn zu verdächtigen«, da er »in allen Szenen der Linken die Runde« gemacht habe und »mit großer Wertschätzung aufgenommen« worden sei« (Brigate Rosse, S. 96).

Ein bewaffnetes Kommando unter Mara Cagol befreite Curcio im Februar 1975 aus der Haftanstalt in Casale Monferrato. Es hatte den Anschein, daß »die Flucht begünstigt wurde«, hieß es im römischen »Paese Sera« und in anderen Zeitungen. Unter dem Gesichtspunkt der folgenden Observierung des Entflohenen ein einleuchtendes Argument. Jedenfalls wurde der historische Brigate-Chef nach einem Jahr wieder verhaftet und später verurteilt. Curcio wurde bei einem Schußwechsel mit der Polizei in die Schulter getroffen und ergab sich. »Ganz zufällig« war nach der Verhaftung ein Journalist des rechten »Giornale nuovo« zur Stelle, der einige Tage später ein Interview mit dem Gefangenen brachte, das »frei erfunden« gewesen sei, wie Curcio schreibt (Mit offenem Blick, S. 119).

In einer nach der Ermordung Moros 1979 in Italien vorgelegten Studie »Über den Terrorismus und den Staat« (Hamburg 1981) schlußfolgert der Politologe Gianfranco Sanguinetti, daß »durch bestimmte Verhaftungen im richtigen Augenblick oder durch die Ermordung der ursprünglichen Führer« die »Geheimdienste ganz nach ihrem Belieben über ein voll wirksames, aus naiven oder fanatischen Militanten gebildetes Organ verfügen« (S. 56). In diese Sicht paßt, daß nicht wenige Brigadisten Mario Moretti beschuldigen, mit den Geheimdiensten kollaboriert zu haben. Er wird sogar verdächtigt, die Verhaftung von Curcio und Franceschini verschuldet zu haben. Konkrete Beweise dafür liegen bis heute nicht vor, und Moretti weist die Anschuldigungen zurück (Brigate Rosse, S. 100).

Geplante Mordanschläge

Verdächtigt wird auch der an der Entführung Moros beteiligte Valerio Morucci, Mitglied der strategischen Leitung der Brigate. In seinem Notizbuch stehen die geheimen Telefonnummern des Gladio-Kommandeurs und SISMI-Generals Giovanni Romeo, des Chefs des mit der CIA liierten Vatikangeheimdienstes Pro Deo, Pater Andrew Morlion (zu dem der Einflußagent Simioni enge Kontakte unterhielt), und des am Tage der Entführung diensthabenden Offiziers im Polizeipräsidium Esposito.

Tatsache ist, daß mit der Ausschaltung der historischen Brigadegründer Curcio, Franceschini und Cagol nicht nur ein Führungs-, sondern auch ein strategischer Kurswechsel erfolgte, der den Vorstellungen der Spannungsstrategen und ihrer im Feldhandbuch 30-31 konzipierten Linie des Anheizens der Terrorakte entsprach. Aufschlußreich ist, daß der damalige Chef des Geheimdienstes SID, Vito Miceli, 1974 im Piazza-Fontana-Prozeß, diesen Kurswechsel regelrecht ankündigte. »Von nun an werdet ihr nichts mehr vom rechten Terrorismus hören, sondern nur noch von dem anderen«, ist in den Prozeßakten nachzulesen.

Unter Curcio, der als »moderater« Chef der Brigate galt, das Gerede vom »revolutionären Moment« zurückwies, sich gegen »Abenteurertum« wandte und die »Ermordung von Menschen« generell für »kontraproduktiv« hielt (Mit offenem Blick, S. 84), hatte es bis dahin keine Toten gegeben, ausgenommen zwei bei einem unvorhergesehenen Zusammenstoß erschossene Neofaschisten. Mit der Übernahme der Führung durch Moretti aber begann die Etappe der planmäßigen Mordanschläge. Am 8. Juni 1976 fielen die ersten tödlichen Schüsse, denen der Oberstaatsanwalt Coco, sein Fahrer und der Leibwächter zum Opfer fielen. Der Überfall fand zwölf Tage vor den Parlamentswahlen statt, bei denen für die IKP, die zu den Regional (Landtags)-Wahlen ein Jahr vorher 34 Prozent erreicht hatte, ein gleiches Ergebnis und damit ein entscheidender Schritt auf ihre von Moro beabsichtigte Aufnahme in die Regierung erwartet wurde. Der Anschlag hätte dem entgegenwirken können.

Am klarsten äußerte sich Franceschini zur Infiltration und Manipulierung der Brigate und zur umstrittenen Rolle Morettis. In der römischen »Repubblica« schätzt er am 31. Dezember 1990 ein, daß in den Brigate »andere Kräfte« mitmischten, und erklärt: »Für mich gibt es heute keinen Zweifel mehr: die Brigate Rosse wurden instrumentalisiert, nur ein Teil >unserer Aktionen< waren wirklich >unsere<.« Wir »haben uns damals verschaukeln lassen«, meint er und geht davon aus, daß ein geheimes Leitungszentrum zur Steuerung des Linksextremismus existierte, das er teilweise mit einem Fremdspracheninstitut »Hyperion« in einem Gebäude am Quai della Tournelle in Paris identifiziert, in dem auch eine CIA-Station untergebracht war. Moretti charakterisiert er als einen Brigate-Chef, der sich aufführte, als wenn »die Organisation ihm gehöre, ihm allein« und verweist auf »seine Irrtümer, seine Doppelzüngigkeit, seinen schäbigen Ehrgeiz«. (Alberto Franceschini, Das Herz des Staates treffen, Wien-Zürich 1990, S. 178).

Neuer Kopf der Brigaden

Die Moro-Kommission des Parlaments stößt auf einen gewissen Corrado Simioni, der alle Merkmale eines zur Einflußnahme eingeschleusten Agenten aufweist. Ab 1965 hat er beim United States Information Service gearbeitet und danach bis Anfang 1968 bei Radio Free Europe, bekanntermaßen ein CIA-Sender. Bereits im Vorfeld der Brigate-Gründung nähert er sich 1969 Curcio und bietet seine Mitarbeit an. Er legt eine Konzeption vor, die verblüffend der im Feldhandbuch 30-31 vorgegebenen Linie entspricht. So schlägt er vor, drei NATO-Generäle zu ermorden, was exakt das Terrain für den von dem Neofaschistenführer Borghese mit Unterstützung der CIA für Dezember 1970 geplanten Obristenputsch und ein Ei
ngreifen der NATO bereitet hätte. In einem anderen Fall will er, wie Curcio schreibt, »einen Koffer voller Sprengstoff am Eingang des US-Konsulats in Mailand abstellen« (Mit offenem Blick, S. 59).

Als Curcio seine Konzeption ablehnt, verläßt Simioni die Brigate und gründet mit seinen Anhängern eine »besonders geheime Gruppe«, genannt »Superclan«, an dessen Formierung Moretti mitwirkt. Wie das Mitglied der P2- Kommission Sergio Flamigni in seinem Buch »La Tela del Ragno« (Das Spinnennetz, Mailand 1993) darlegt, war Ziel Simionis, mit seinen Leuten »alle Gruppen der extremen Linken zu infiltrieren« (S.172). Simioni plante bereits damals, wie Curcio schreibt, in einem Moment »in Aktion zu treten, von dem er glaubte, daß wir alle auf einmal festgenommen worden wären« (Mit offenem Blick, S. 60).

Als dieser Moment eintritt – Curcio, Franceschini und andere Brigadisten der »ersten Generation« werden verhaftet, Mara Cagol ist liquidiert – treten Simionis Leute in die Brigate ein, deren Führung nun Moretti übernimmt. »Den Kopf der Brigate Rosse« aber bildete, wie das Clan-Mitglied Granziano Sassatelli am 25. Mai 1986 im Nachrichtenmagazin »Panoramo« äußert, die »Superclanspitze«, und der »tatsächliche Chef der Brigate« sei Simioni gewesen, verrät ein Silvano Larini am 14. März 1993 dem »Corriere della Sera«. Aus dem »Superclan« kommt auch Prospero Gallinari in die Brigate, der mit Moretti zu denen gehört, die die Entführung Moros vorbereiten und durchführen. Er ist einer der vier Schützen, die das Begleitkommando erschießen.

In Paris gehörte Simioni zu den Gründern der Sprachschule »Hyperion«, die zu einem Treffpunkt der Linksradikalen aus ganz Westeuropa wurde, und gleichzeitig, wie die »Repubblica« am 29. Januar 1983 schrieb, »das wichtigste Büro der CIA-Vertretung in Europa war.« Das Hyperion-Institut unterhält eine Filiale in Mailand, einem Zentrum des linksradikalen Kampfes, und richtet wenige Wochen vor der Entführung Moros eine zweite in Rom ein. Ihren Sitz nimmt sie in einem Gebäude in der Via Nicotera 26, das, als Firmen getarnt, mehrere Büros des Geheimdienstes SISMI beherbergt.

Von der linksradikalen Zeitung »Lotta Continua« (ständiger Kampf) war Simioni bereits Mitte der 70er Jahre als CIA- Agent enttarnt worden. Wie »Europeo« am 10. September 1983 berichtete, stellte die Moro-Kommission fest, daß gegen Simioni nie ermittelt wurde. Der Abgeordnete Salvatore Coralli schlußfolgerte bei der Befragung General Giuseppe Santovitos, zur Zeit der Entführung SISMI-Chef, »daß die Angelegenheit derart verwunderlich« sei, »daß in mir der Verdacht wächst, daß ihr nie ermittelt habt, weil er einer von euch ist«. Doch Santovito ist nicht in der Lage, den Verdacht zu entkräften.

Morgen: Freie Bahn für die Brigate Rosse

Eine Serie von Gerhard Feldbauer (IV und Schluß)

Nach der Ausschaltung der historischen Brigate-Führer mit Curcio an der Spitze und der Übernahme der Leitung durch Moretti begann die abenteuerliche, blutige Phase der Auseinandersetzung, die auch unter der Bezeichnung »bleierne Jahre« in die Geschichte eingegangen ist. Der Ermordung des Staatsanwalts Coco und seiner zwei Begleiter im Juni 1976 folgten allein acht weitere Richter. Andere Opfer waren Wirtschaftsmanager, Politiker, Journalisten.

Während Curcio vor Abenteuertum gewarnt hatte und Tötungsaktionen möglichst vermeiden wollte, wird das unter Moretti gängige Praxis. »Die ideellen Werte innerhalb der Organisation wurden immer unwichtiger«, äußerte 1990 Alfredo Bonavita, der als einer der historischen Brigate- Gründer 1976 verhaftet wurde und bereits 14 Jahre im Gefängnis saß.

Sprunghaft stiegen auch die blutigen Aktionen anderer linksextremer Gruppen an, denen 1977, die Opfer der Brigate eingeschlossen, 42 Tote und 377 Verletzte angelastet werden. Daraus kann man schlußfolgern, daß der Einflußagent Corrado Simioni, vor dessen »hegemonialer Position« Curcio gewarnt hatte, mit seinem Konzept, »alle Gruppen der extremen Linken zu infiltrieren«, erfolgreich war (siehe Folge III). Sergio Flamigni zitiert den Brigadisten der Gründergeneration Roberto Ognibene, der zugibt, daß »die Brigate Rosse und andere benutzt« wurden, »um eine Verschiebung der politischen Verhältnisse in gemäßigte Bahnen zu erreichen« (Das Spinnennetz, S. 206). Der Gladio-Offizier Roberto Cavallaro räumt in einem Interview gegenüber dem Mailänder »Espresso« im November 1990 ein, daß in die Spannungsstrategie auch die Organisationen »der extremen Linken« einbezogen wurden und »ein guter Teil der Terroristen, ob rot oder schwarz, auf Anweisung oder Anregung der Geheimdienste tätig war«.

Tod eines Generals

Der Beginn der »bleiernen Jahre« wird im Sicherheitsbereich von Maßnahmen flankiert, die den Eindruck erwecken, die Brigate Rosse und andere linksextreme Gruppen sollten »freie Bahn« erhalten. Polizei- und Sicherheitsoffiziere, die dem im Wege stehen, werden kaltgestellt. Der Geheimdienstgeneral Adelio Maletti legt 1975 eine Studie vor, in der er auf »eine noch geheimere Organisation« verweist, die »blutigere Aktionen« plane. »Die Auftraggeber bleiben im dunkeln. Ich würde nicht sagen, daß man sie als

>links< definieren könnte«, heißt es. Maletti, Stellvertreter

des Geheimdienstchefs Vito Miceli, des Organisators der Infiltration linksextremer Organisationen, wird nach Vorlage seiner Analyse aus seiner Funktion abgelöst und zur Kommandantur der Carabinieri-Division auf Sardinien versetzt. Auszüge aus Malettis Studie werden ein Jahr später von einem Offizier des Geheimdienstes der Zeitschrift Tempo zugespielt, die sie im Juni 1976 veröffentlicht. Im Geheimdienst wird Malettis Bericht keinerlei Beachtung geschenkt.

Der nächste merkwürdige Schritt ist die Auflösung des Antiterrorismus-Spezialkommandos des Carabinieri-Generals Alberto Dalla Chiesa. Mit rigorosen Repressionsmethoden hat der General die Brigate Rosse und andere Linksextremisten verfolgt. Die Ausschaltung Curcios, Franceschinis und Mara Cagols war sein Werk. Für die Leute um Andreotti hat er nur einen Fehler. Er ist verfassungstreu und steht für Putschpläne nicht zur Verfügung. Der P2 (siehe Folge II) auf die Spur gekommen, will er gegen sie ermitteln und dazu in die Loge eintreten. Während Generale und Offiziere zuhauf aufgenommen werden, lehnt Licio Gelli ihn jedoch ab. Als Dalla Chiesa Andreottis Rolle beim Komplott gegen Aldo Moro und seine Komplizenschaft mit der Mafia aufdecken will, wird er, inzwischen Anti-Mafia-Präfekt auf Sizilien, im September 1982 in Palermo zusammen mit seiner Frau und seinem Chauffeur erschossen.

Moro, der Allende Italiens?

Als im Januar 1983 der Prozeß gegen die Brigadisten der »zweiten Generation«, in dem der Hauptanklagepunkt der »Fall Moro« war, zu Ende ging, mußte der Vorsitzende Richter, Severino Santiapichi, der die schmutzige Rolle der Geheimdienste generell vertuschte, dennoch Folgendes eingestehen: »Sie waren zerstückelt, psychologisch blockiert, desorganisiert, mit Angelegenheiten beschäftigt, die außerhalb ihrer institutionellen Aufgaben liegen.« Mit keinem Wort ging Santiapichi auf die Vorsitzende der Parlamentskommission zur P2, Tina Anselmi, ein, die eingeschätzt hatte, daß »das völlige Versagen unseres Sicherheitsapparates während der Affäre Moro mit der P2- Mitgliedschaft der fünf Mitglieder des Komitees, das für die Fahndung verantwortlich war – darunter die beiden Chefs der Geheimdienste – in einem Zusammenhang steht«.

Die Abstinenz des Gerichts ist insofern verständlich, als eine Erörterung dieser Frage zwangsläufig Giulio Andreotti hätte einbeziehen müssen, den heimlichen Chef der Putschistenloge, der diese Desorganisation bewußt herbeigeführt hatte. Seit Juli 1976
wieder Ministerpräsident, leitete Andreotti umgehend eine sogenannte Reform der Geheimdienste ein, die den bis dahin bestehenden zentralen Dienst SID in einen militärischen (SISMI) und einen zivilen (SISDE) trennte. Die Aufteilung benutzte der Premier, um in beträchtlichem Maße personelle Neubesetzungen vorzunehmen, und zwar durchweg und besonders an der Spitze mit Mitgliedern der P2. Sicher nicht zufällig wurde diese »Reform« fünf Wochen vor der Entführung Moros abgeschlossen. Gravierend war, daß das Anti- Terrorismusbüro, das 400 hochqualifizierte Spezialisten zählte, wie bereits vorher das Spezialkommando Dalla Chiesas aufgelöst wurde.

Schon unter Curcio plante die Brigate-Führung, mit der Entführung einer herausragenden Persönlichkeit der regierenden Democrazia Cristiana einen entscheidenden Schlag gegen »das Herz des Staates«, wie Franceschini es nennt, zu führen. Zielperson für Curcio, Franceschini und Mara Cagoli war Giulio Andreotti. In seinem Buch »Das Herz des Staates treffen« charakterisiert ihn Franceschini als »Schlüsselfigur des neogaullistischen Planes« einer »reaktionären Wende« und verweist auf die engen Verbindungen zwischen ihm und dem damaligen Chef des Montedison-Konzerns und Präsidenten der Industriellenverbandes Confindustria, Eugenio Cefis, einem der führenden Finanziers der Neofaschisten. Mit der »Achse Cefis – Andreotti«, so Franceschini weiter, wäre »der Großkapitalist und der große Politiker« getroffen worden, »die Aufdeckung eines Komplotts zwischen Wirtschaft und Politik« gelungen. Im Frühjahr 1974 war Franceschini bereits nach Rom übergesiedelt, »um die Entführung von Giulio Andreotti vorzubereiten« (Das Herz des Staates treffen, S, 86).

Unter Moretti wechselt, nachdem dieser die Führung übernommen hat, mit Beginn der Tötungsaktionen nicht nur der Brigate-Kurs, sondern auch die Zielperson des entscheidenden Anschlags. Sie heißt nun Aldo Moro. Zunächst sei man »aus purem Zufall auf ihn« gekommen, versucht Moretti zu erklären, um dann den Wechsel damit zu begründen, daß man Andreotti und Moro als »Zwillinge« gesehen habe. Die Führungsbrigadisten der »zweiten Generation« waren also nicht in der Lage, innerhalb der herrschenden Klasse zu differenzieren. Unterschiede, »wenn es sie gab«, seien »zu jener Zeit nicht leicht zu erfassen« gewesen, behauptet Moretti im Gegensatz zu Franceschini, räumt aber ein, »vielleicht haben wir uns in der Einschätzung geirrt, das kann ich nicht völlig bestreiten«. (Brigate Rosse, S. 139 f.).

Im Ergebnis dieses »nicht völlig bestrittenen Irrtums« wird an Stelle des bedingungslosen Gefolgsmannes der Amerikaner und Exponenten des rechten Flügels der Democrazia Cristiana Andreotti der linksliberale Reformer und Gegner der rücksichtslosen Einmischung der USA in Italien, Moro – laut Kissinger der »Allende Italiens« und »gefährlicher als Castro« – Objekt des Anschlages »auf das Herz des Staates«. Bei der Analyse des Attentats stößt man zwangsläufig wieder auf den Einfluß des Agenten Corrado Simioni und seines »Superclans« (siehe Folge III).

Nutznießer CIA

»Zu offensichtlich nutzte die Ausschaltung Moros seinen Gegnern, den rechten Christdemokraten um Andreotti und seinen amerikanischen und NATO-Verbündeten, als daß eine Beteiligung der Geheimdienste, vor allem der direkt an die CIA gebundenen geheimen Gladio-Struktur, nicht überzeugend wäre«, schätzt die in Italien lebende Politologin Regine Igel in einer Studie »Andreotti, Politik zwischen Geheimdienst und Mafia« (München 1997) ein (S. 140).

Zum selben Thema hält Renato Curcio fest: »Moro war eine zentrale Persönlichkeit des politischen Lebens in Italien. Um sein Leben zu retten, hat man die Tür nicht einen Spalt aufgemacht. Ich vermute, daß es gewollt war, daß sich gewisse Kreise einen unwiderruflichen Epilog gewünscht hatten.« Der Gründerchef der Brigate hält, im Gegensatz zu Moretti, die Ermordung Moros für eine »tragische und destruktive Entscheidung«, die von fehlender »politischer Stärke und Weitblick« zeugte. »Das scheint mir für den kurzsichtigen strategischen Blick der Genossen, die die Entführung durchführten, symptomatisch.« (Mit offenem Blick, S. 140)

Cui bono? Diese Frage stellt sich bereits vor der Affäre Moro bei einer Anzahl von Mordanschlägen. Den Oberstaatsanwalt Francesco Coco erschießen die Brigate im Juni 1976, weil er, wie Moretti schreibt, gegebene Zusagen, die Situation der gefangenen Brigadisten in Turin zu überprüfen, nicht eingehalten hatte (S. 120 f.). Coco ermittelte jedoch nicht nur gegen Linksradikale. Er war einem brisanten Fall auf die Spur gekommen, der Ermordung des Journalisten De Mauro von der palermitanischen Zeitung »ORA«, der 1970 für den Film »Der Fall Mattei«, den der Regisseur Rossi auf Sizilien drehte, recherchiert hatte. Von dort aus war ENI-Präsident Mattei 1962 zu seinem Flug in den Tod gestartet. Während seiner Recherchen verschwand De Mauro und wurde später erdrosselt aufgefunden. Wie angenommen wurde, hatte der Journalist Beweise dafür entdeckt, daß Mattei einem Attentat zum Opfer gefallen war.

Oberstaatsanwalt Coco war dabei, den Anschlag gegen den Chef der staatlichen Energiebehörde ENI und Freund Moros aufzuklären. Nutznießer des Todes Cocos sind die CIA und ihre italienischen Geheimdienstgehilfen, die das Attentat gegen Mattei inszeniert hatten (siehe Folge I).

Ähnlich verhält es sich bei dem Journalisten Carlo Casalegno von »La Stampa«, den die Brigate im November 1977 erschießen. Die vordergründigen Motive passen ins grobe Raster. Die Zeitung gehört zu FIAT, dem größten privaten Industriekonzern des Landes, der maßgeblich die Linie des Vorgehens gegen die Arbeiter bestimmt. In den 60er Jahren geht FIAT-Chef Giovanni Agnelli mit rücksichtlosen Repressionsmethoden, darunter einer eigenen Werkspolizei und Spitzeln, gegen die Arbeiter vor, die sich entschieden zur Wehr setzen. Das alles, und seit Beginn der Spannungsstrategie natürlich auch ihre »linke Variante«, der »rote Terror«, füllt die Spalten der »Stampa«.

Aber FIAT hat auch eine andere, differenzierter zu sehende Seite. Agnelli tritt aus ureigensten kapitalistischen Interessen dem Vormarsch der US-Konzerne entgegen, den der Günstling Andreottis, der Mafioso und P2-Bankier Michele Sindona in den 70er Jahren vorantreibt. La Stampa enthüllt CIA-Praktiken und wendet sich dagegen, daß Washington »Italien wie sein Protektorat« behandelt. Agnelli ist insgeheim bereit, Moros historischen Kompromiß mit den Kommunisten zu tolerieren, von dem er erwartet, daß die IKP sich in der Regierungsverantwortung verschleißen und Wählerstimmen verlieren werde.

Was Casalegno betrifft, den die Brigate, wie es auf ihrem Flugblatt heißt, als »verachtenswerten Staatsdiener« erschießen, so hat er nicht schlechthin gegen den »linken Terror« geschrieben, sondern darüber, daß hinter diesem gezielten Terror »Inspiratoren und Koordinatoren« stünden. War Casalegno Simionis »Superclan« und seinem Einfluß auf die Brigate auf die Spur gekommen, hatte ihn das auf die Abschußliste gebracht?

Auf den Einfluß des »Superclans« und der Hyperionschule ist Jahre später wahrscheinlich auch Guido Pasalaqua von der Repubblica gestoßen. Am 12. April 1980 schreibt er von »einer, zwei oder drei Personen, die über die Terroraktionen entscheiden« und die die »tatsächliche Leitung der Brigate Rosse« darstellten. Als Pasalaqua einige Zeit später weitere Enthüllungen ankündigt, wird er im Mai 1980 erschossen. Die Brigate bekennen sich nicht zu diesem Attentat. Wie bei dem Journalisten Pecorelli werden Mafiosi als Killer vermutet.

Das Gegenteil erreicht

Am Ende der »bleiernen Jahre« haben die Brigate Rosse und andere linksextreme Gruppen das Gegenteil von dem erreicht, was Curcio und seine Parteigänger einst verkündeten. Zwar ist der Historische Kompromiß zum Scheitern gebr
acht worden, aber keine revolutionäre Massenbewegung entstanden, sondern ein Rückgang der Arbeiterkämpfe eingetreten und eine generelle Wende nach rechts erfolgt. Die IKP beendet im Januar 1979 die Unterstützung der DC-geführten Regierung und erklärt 1981 den Historischen Kompromiß für beendet. In den kommenden Jahren verliert sie acht Prozent ihrer Wähler, ihr Einfluß auf das politische Leben sinkt merklich. Die Sozialdemokratisierungstendenzen in der Partei sind nicht gestoppt worden, sondern verstärken sich. Schon 1986, vier Jahre vor dem Zusammenbruch des Ostblocks, verkündet der Parteitag von Florenz offiziell die sozialdemokratische Orientierung der IKP.

Spürbar sinkt der Einfluß linksradikaler Intellektueller. Der Jagd auf sie sind ganze Universitätsfakultäten, die sie vorher dominierten, zum Opfer gefallen, darunter in Padua fast der gesamte Lehrkörper für politische Wissenschaften. Der angesehene Professor Antonio Negri wird angeklagt, der Chef der Brigate Rosse zu sein und die Entführung und Ermordung Moros organisiert zu haben. Tausende Linksradikale – viele von ihnen, ohne sich eines Vergehens schuldig gemacht zu haben – werden in die Gefängnisse geworfen, cirka 100 000 Personen von den polizeilichen Ermittlungen erfaßt, rund 40 000 angeklagt, Tausende verurteilt. Amnesty International klagt die italienische Polizei an, politische Gefangene, vor allem der Brigate Rosse, in den Gefängnissen zu foltern.

Bis heute liegen keine genauen Angaben über die Zahl der Todesopfer vor, die die »bleiernen Jahre« auf seiten der Brigate Rosse und anderer linksradikaler Organisationen gefordert haben (sie werden auf Hunderte geschätzt). Im dritten Prozeß gegen die Brigate, der im Januar 1983 in Rom gegen die Mitglieder der »zweiten Generation« zu Ende ging, wurden 59 Urteile gefällt, darunter 32mal lebenslänglich. 23 Brigadisten waren der Entführung, Bewachung und Ermordung Moros direkt angeklagt.

Mit den Mitgliedern der Brigate Rosse und anderen Linksextremisten wurde und wird noch heute (es läuft noch immer ein Prozeß gegen Brigadisten) unerbittlich abgerechnet, im Gegensatz zu neofaschistischen Terroristen, von denen unzählige noch immer (z. B. nach dem Anschlag an der Piazza Fontana seit 28 Jahren) ungestraft herumlaufen.

Licio Gelli wurde nie wegen Putschversuchs, umstürzlerischer Aktivitäten oder Organisation einer krimminellen Vereinigung angeklagt. Die Geheimdienstchefs und ihre hohen Offiziere wurden trotz der durch die Untersuchungen der Parlamentskommissionen, der Ermittlungen mutiger Juristen, der investigativen Recherchen von Journalisten zutage geförderten unzähligen Beweise für ihre Begünstigung des Attentats auf Moro, der Behinderung der Fahndung und somit zumindest der Mitschuld an seinem Tod nie vor Gericht gestellt. Francesco Cossiga, einer der Hauptverantwortlichen, stieg in das höchste Staatsamt, das des Präsidenten der Republik auf.

Andreotti wurde nach Moros Tod noch dreimal zum Ministerpräsidenten berufen. Er steht heute wegen Komplizenschaft mit der Mafia, der Vereitelung der Verurteilung Hunderter ihrer Mitglieder, zumeist wegen mehrfachen Mordes angeklagt, und der Anstiftung zum Mord vor Gericht. Seine Rolle als Oberhaupt der Putschistenloge P2 und Hauptschuldiger am Tod seines Parteivorsitzenden Aldo Moro ist bisher kein Anklagepunkt.

Gegenüber den Linksextremisten sind Staat und Justiz bis heute nicht bereit, einen Schlußstrich zu ziehen, die Verfolgung einzustellen, eine Amnestie zu erlassen.

Mirror, Original in “junge welt”, 11.- 16. Mai 1998, Nr. 108-112

1

Is Islam’s prophet Muhammad to have more screen time?

In the past century, the life stories of Moses,
the Buddha and even Mormon founder Joseph
Smith
have been told in film. Jesus Christ is such a prolific thespian that
there are top-10 lists of his movies.

But a prophet of one of the world’s largest religions, a man with a
fascinating life story and 1.5 billion adoring followers, has never had his star
turn.

Until now.

“Innocence of Muslims,” the film that fueled violence and anti-American
sentiment around the world, is notorious for bad acting, leaden dialogue and
ham-handed production values overseen by a two-time felon from Cerritos. But in
the annals of cinematic history, it marked an exceptionally rare portrayal of
Muhammad by an actor on film.

Overshadowed in the debate over the film and its controversial producers is
an ancient prohibition on the depiction of the prophet Muhammad, one that has
been sacrosanct for centuries but now is likely to be increasingly
challenged.

Undaunted by the outcry over a YouTube
trailer for “Innocence of Muslims,” two ex-Muslim filmmakers are trying to
develop separate feature-length biopics that would offer critical takes on
Muhammad’s life. Experts predict that those projects will trigger further anger
and violence, as has accompanied nearly every attempt to portray the prophet in
any media in recent decades. But some believe that the faith will inevitably
embrace showing Muhammad on film as the best and most effective way to get his
message to the masses.

“Multimedia is the language of the day,” said
Hussam Ayloush, executive director of the California chapter of the Council
on American-Islamic Relations
. “It might be another 100 years, another 50
years. At this point, I would rather we do not do it in a way that shocks
people.”

Although depicting Muhammad is not specifically prohibited by the Koran,
Islamic law bars the practice.

The prohibition, scholars say, is an extension of
the idea that the faithful should worship only God and not an idol. That ban
even covers the prophet’s grave in Medina,
Saudi Arabia, where
pilgrims are not allowed to kiss the ground at the site.

Under that paradigm, an actor playing the role of Muhammad — even in the most
flattering of lights — would be unacceptable to most Muslims, experts said. “The
Message,” an Arab-financed 1977 film about Muhammad’s life, worked around this
prohibition by stationing his character off camera or behind the lens, and was
preceded by a disclaimer explaining that the prophet would not appear.

Experts on film history and Islam said “Innocence of Muslims” marked the
first time they could recall of an actor’s actually playing Muhammad, though it
was impossible to verify if it had ever happened before.

Born in Mecca, Muhammad received his first revelation at about age 40, and in
just two decades unified the Arabian peninsula behind his new religion before he
died in Medina.

Mosab Hassan Yousef, a Palestinian who moved to Los Angeles several years
ago, said he sees a compelling narrative film in that story and has already cast
a “prominent Hollywood actor” in the title role of his film “Muhammad,” which
has a proposed budget of $30 million.

The film will tell the story of the prophet from
age 12 to his death, and will have the look and feel of Mel Gibson‘s “The
Passion of the Christ,”
Yousef said. “My goal is to create this big mirror
to show the Muslim world the true image of its leader,” Yousef said.

While Gibson used the film to glorify his subject, Yousef’s project is likely
to have a different take.

His book, “Son of Hamas,” tells the tale of
his progression from terrorist to Israeli spy to born-again Christian. And
though he says he is not anti-Muslim — and notes that his mother still practices
the religion — he acknowledges that his religious awakening was sparked by the
preaching of Father Zakaria Botros Henein, a radical Egyptian Christian who has
for years critiqued Muhammad as a pedophile and buffoon.

Botros is closely associated with several of the individuals behind
“Innocence of Muslims,” and the filmmaker, Nakoula Basseley Nakoula, is a devout
follower.

A second film in preproduction is the work of Ali Sina, an atheist raised
Muslim in Iran. A prominent critic of Islam, he maintains websites that promote
what he calls “the truth” about the religion.

To date he says he has raised $2 million from Southern California investors for
the film, which does not yet have a title but will portray the prophet as a cult
leader in the vein of David Koresh or
Jim Jones. He hopes to raise a total of $10 million, he said, and begin filming
next year.

Now a resident of Canada, Sina began contemplating a biopic about Muhammad a
decade ago, but stepped up his effort in the last two years as technological
advances made it feasible to circumvent government censors and wary
exhibitors.

“We can bypass theaters completely and sell the movie online with a profit to
a large number of people, especially Muslims,” Sina said. “They can download it
and watch it even if they are living in Karachi or Mecca or Medina.”

Among anti-Muslim activists, these two projects are fairly well known and the
two filmmakers at one time discussed collaborating. But Muslim scholars and
activists said they were not aware of either movie and dubious about their
prospects of shaking the faith of believers.

“That strategy has been tried and hasn’t worked,” said Ebrahim Moosa, a
professor of Islamic studies at Duke University, noting centuries of Christian
missionizing in the Muslim world. “It’s certainly not going to persuade people
who believe in Muhammad as a religious figure because these issues have to do
with something that transcends reason or rationality. It has to do with
questions of faith and salvation.”

Reactions to the films, if they are ever finished, are likely to be
severe.

“This is crossing a line,” said Akbar Ahmed, a former Pakistani ambassador to
the United Kingdom and now professor of Islamic studies at American University.
“If there is an actor physically portraying Muhammad, there will be a violent
reaction.”

He said that would likely be true even if a devout Muslim made a movie about
the prophet, because most people in the religion are just not ready to see
Muhammad on screen. But it’s doubly the case for works that aim to provide
unflattering views of the religion.

After a Danish newspaper published cartoons ridiculing Muhammad in 2005,
three Muslims hatched an ultimately foiled plot to murder the artist.

In 2006, Comedy
Central
refused to air an episode of “South
Park”
because it depicted Muhammad, and four years later New York’s Metropolitan
Museum of Art
acknowledged that it had removed all paintings and sculptures
with images of the prophet — some centuries old — from public display for fear
of inciting protest.

Both filmmakers are closely guarding details of their productions due to
security concerns. They decry “Innocence of Muslims” as historically inaccurate,
offensive and of poor quality.

In the wake of its release, Yousef has been scrambling to meet with his
investors — whom he describes as a mix of Egyptians and Americans — and ensure
that they’re still on board.

Sina, for his part, said he had been exploring ways to hide the identities
of the producers and actors in his movie and said he would not reveal the
planned location for the movie shoot. He described his investors as a handful of
Persian atheists who live in Los Angeles.

“I’ve become more secretive,” said Sina, who insists that his goal is not to
incite Muslims but to persuade them.

Some Muslim activists said anti-Islam depictions of Muhammad might lead,
ironically, to an eventual relaxation of the prohibition. However offensive,
“Innocence of Muslims” showed the long reach and emotional punch of videos in
the Internet age and suggested a highly effective way for religious leaders to
conquer barriers of language, literacy and youth apathy.

“There’s a whole industry that is intent on defaming and misrepresenting the
prophet and his teachings. It becomes difficult to counter that campaign with
books, stories and sayings,” said CAIR’s Ayloush.

“To compete and remain relevant, eventually some of these religious opinions
will have to be revisited,” he said. “I think it’s going to happen.”

Source

Beschneidung: Ignoranz und Sexismus



Harald Stücker:



Bis zum Kölner Beschneidungsurteil war ich wie fast jeder der Überzeugung, dass die weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) eine schwere Menschenrechtsverletzung sei, die männliche „Beschneidung“ (Male Genital Mutilation, MGM) jedoch eigentlich kein Problem darstelle. Die Debatte der letzten Wochen und die Flut an Informationen über männliche „Beschneidung“ haben das gründlich geändert. Informationen im Übrigen, die für alle frei zugänglich sind.


Die Tabuisierung jeglichen Vergleichs von männlicher mit weiblicher Genitalverstümmelung ist der große Skandal der Debatte. In beiden Fällen wird der empfindsamste und erogenste Teil des menschlichen Körpers amputiert oder schwer beschädigt. In beiden Fällen geht es in erster Linie um die Beschneidung menschlicher Sexualität.


Der Intaktivist und erklärte Feminist Travis Wisdom spricht sich in seinem Artikel Questioning Circumcisionism dafür aus, auch die männliche Genitalverstümmelung als feministisches Anliegen zu begreifen, insofern der Feminismus keine Bewegung gegen Männer, sondern eine Menschenrechtsbewegung gegen Sexismus ist. Die Ungleichbehandlung von Kindern allein aufgrund des Geschlechts ist ein klarer Fall von Sexismus. Er definiert „Circumcisionism“ als herrschenden Diskurs, der systematisch und erfolgreich eine Realität konstruiert, in der Kinder mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen, der chirurgisch zu beheben sei. In den jüdisch-christlich geprägten USA trifft es Jungen, in anderen Kulturen Mädchen. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass es gegen FGM weltweit Gesetze gibt, sogar in den Staaten, in denen die Tradition verbreitet ist, während MGM gesellschaftlich akzeptierte Praxis ist. Travis Wisdom erinnert daran, dass gerade feministische Aktivistinnen sehr viel Erfahrung mit struktureller Gewalt haben, die durch herrschende Diskurse konstruiert, banalisiert und verfestigt wird, und dass gerade sie die nötige Sensibilität haben sollten, um gegen gesellschaftlich akzeptierte und bagatellisierte Diskriminierungen und sexistische Ungerechtigkeiten aktiv zu werden.





Der größte Erfolg dieses Beschneidungsdiskurses in unserer Kultur ist wohl, dass die Meinung vorherrscht, eine Vorhaut schade vielleicht nicht, aber sie nütze auch nichts. Daher habe ein Mann ohne Vorhaut im Grunde nichts verloren. Diese Ansicht ist so weit verbreitet, dass sie sich sogar in dem hochgelobten Aufklärungsbuch der Sexologin Ann-Marlene Henning findet:



Die sexuelle Lust wird durch die Beschneidung nicht gemindert, sofern alles richtig gemacht wurde und gut verheilt ist.


(Für eine Widerlegung siehe meinen vorhergehenden Artikel, insbesondere dieses Video.)





Dieser Satz in einem – ansonsten hervorragenden – sexuellen Aufklärungsbuch macht aber noch etwas anderes deutlich: Der Beschneidungsdiskurs ist in erster Linie ein Diskurs der Desinformation. Die Ignoranz in Bezug auf die männliche sexuelle Anatomie ist der Normalfall. Viele Aktivistinnen in der Bewegung gegen männliche Beschneidung in den USA sind traumatisierte Mütter, die an ihrer Ignoranz verzweifeln, weil sie erst nach der Routinebeschneidung ihrer Söhne auf die entscheidenden Informationen stießen (Dazu zählt auch Marylin Faire Milos, die Gründerin von NoCirc.) Oft sagen sie: „Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, dann hätte ich niemals zugestimmt.“ Daher ist gerade bei diesem Thema Information eine wirksame Waffe. Und daher auch der Slogan: Beschneidung. Je mehr Du weißt, desto mehr bist Du dagegen.


Wer Miriam Pollack zuhört – und vor allem ihr dabei zusieht, wie sie über ihren Schmerz und ihre Schuldgefühle spricht – der versteht vielleicht besser, warum auch Frauen zu Opfern der Tradition der männlichen „Beschneidung“ werden.


Wir erwarten normalerweise, dass die Frontlinie des Feminismus zwischen den Geschlechtern verläuft. Aber in diesem Fall ist der Mann ein Säugling oder ein Kind, und er ist kein Feind. In diesem Fall verläuft die Frontlinie zwischen den Verfechtern einer vormodernen, von Göttern diktierten Moral, und den Anhängern einer modernen, von Menschen vereinbarten Moral. Die Frontlinie verläuft zwischen denjenigen, die in den Menschenrechten eine ärgerliche und zu überwindende Ablenkung vom göttlichen Gesetz sehen, und denjenigen, die eben genau in diesen Menschenrechten die epochale Überwindung eines jahrtausendealten Kollektivismus sehen, die Befreiung des Individuums vom Zwang durch Kollektiv, Volk, Sippe und Religion.


Die hanebüchenste Begründung dafür, beide Formen der Genitalverstümmelung unterschiedlich zu behandeln, habe ich in einer Erklärung des Zentralrats der Juden gelesen:



Es sollte nicht übersehen werden, dass die Beschneidung einer Frau nicht auf religiösen Gründen basiert, sondern auf kulturellen Traditionen und Mythen.


Die Implikation dieser nackten Unverschämtheit anderen „kulturellen Traditionen und Mythen“ gegenüber dürfte den Kämpfern gegen die FGM kaum gefallen: Wären die Traditionen keine bloß „kulturellen“, sondern ebenfalls „religiöse“, so wäre die Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsteile genauso in Ordnung wie die der männlichen! Wer also FGM verbieten und MGM zulassen möchte, muss zusammen mit den orthodoxen Juden dafür argumentieren, dass Religion etwas anderes ist als eine Sammlung „kultureller Traditionen und Mythen“. Ein sehr dünner Faden, an dem ein Verbot weiblicher Genitalverstümmelung dann hinge.


Auch Leonard B. Glick schreibt in seinem Buch Marked in your Flesh, dass die Praxis der MGM vor allem von der Ignoranz der Menschen lebt, und von ihrer Bereitschaft, eine gesellschaftliche Norm einfach zu akzeptieren, ohne sie zu hinterfragen. Das gilt vor allem für die Beschneidung als religiöse Norm.





Glick beschreibt die Entstehung des bizarren Rituals der Vorhautamputation in Gesellschaften, in denen Frauen nichts weiter waren als männlicher Besitz. Entweder sie gehörten ihrem Vater oder ihrem Ehemann. Emblematisch für den Status der Frau in bronzezeitlichen Gesellschaften ist das 10. Gebot aus der Bibel geworden: „Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.“


Es ist mir fast schon peinlich, das überhaupt hinschreiben zu müssen, aber offenbar versteht es sich nicht von selbst (und auch Glick sieht sich genötigt, auf seine historisch-kritische Perspektive explizit hinzuweisen): Die Beschneidung wurde den Juden nicht wirklich von Gott abverlangt. Das ist ein „kultureller Mythos“. Die Juden haben dieses Ritual von benachbarten Völkern übernommen und sich die Geschichte vom abrahamitischen Bund ausgedacht. Durch die Beschneidung wurden die männlichen Kinder veredelt, sie wurden durch Beschneidung – in einer semantischen Perversion, wie sie für Religionen typisch ist – erst vollkommen.


Frauen hatten niemals die Chance, auf diese Weise vollkommen zu werden. Die Juden biblischer Zeiten kannten zwei Arten von Blut. Das männliche Blut, als Inbegriff einer heiligen Substanz, und das weibliche Blut, als Inbegriff der Unreinheit (siehe Levitikus 12). Durch Menstruation werden Frauen unrein. Sie müssen sich dann durch rituelle Tieropfer erst wieder reinigen. Auch die Geburt macht Frauen unrein. Auch danach muss eine rituelle Reinigung erfolgen. Allerdings ist auch das männliche Kind durch den Kontakt mit dem weiblichen Blut zunächst unrein, und zwar sieben Tage lang. Am achten Tag ist das Kind lange genug nicht mehr in Kontakt mit dem weiblichen Blut, jetzt kann es durch das Vergießen seines eigenen Blutes veredelt werden. Die rituelle Vorschrift, dass Jungen am achten Tag beschnitten werden sollen, hat also nicht etwa irgendetwas mit einer Rücksicht auf die Schwäche der Säuglinge zu tun, mit der Sorge etwa, dass sie die Folter vorher nicht durchstehen könnten, nein, es hat alles nur mit den religiösen Wahnvorstellungen von reinem und unreinem Blut zu tun!


Die Religion schafft es also tatsächlich, selbst aus der rituellen Folterung männlicher Kinder einen frauenverachtenden Akt zu machen. Respekt!


Es gibt noch ein pragmatisches Argument dafür, sich als FGM-Aktivist nicht allzu lautstark gegen männliche Beschneidung einzusetzen. Sami Aldeeb erzählt in seiner Rezension zu Glicks Buch folgende Anekdote:



January 12, 1992, I paid a visit to the World Health Organisation (WHO) in Geneva, where I met Dr. Leila Mehra. […] I asked her: “Why the WHO is concerned only with female circumcision and doesn’t consider male circumcision?” She responded: “Male circumcision is mentioned in the Bible. Do you want to create problems for us with the Jews?”


„Wollen Sie, dass wir Probleme mit den Juden bekommen?“ Das ist vielleicht ein pragmatisch gültiges Argument, und es ist selbst nicht sexistisch, aber dafür ist es antisemitisch. Es baut die „einflussreichen jüdischen Kreise“ vor uns auf, die selbst der WHO im Handumdrehen den Geldhahn abdrehen könnten. Dabei dürfte die Erwähnung der Beschneidung in der Bibel aber nur orthodoxe Juden interessieren. Unterschlagen werden dabei die ganzen innerjüdischen Bestrebungen, jetzt endlich diesen barbarischen Atavismus der eigenen Kultur zu überwinden. Die Chancen standen noch nie so gut. Frühere Beschneidungsgegner waren tatsächlich meist Antisemiten, und die Kinder waren ihnen egal. Das ist jetzt anders. Jetzt geht es nur um die Kinder und um ihre Rechte, um ihre Menschenrechte. Jetzt geht es eigentlich überhaupt nicht um Juden. Die aktuelle Opposition gegen die Beschneidung ist nicht antisemitisch. Zwei klare Indizien sprechen dafür:



  1. Das Kölner Urteil bezieht sich auf den Fall eines Kindes muslimischer Eltern.

  2. Die erklärten Todfeinde der Juden, die Islamisten, stehen in dieser Debatte mit den orthodoxen Juden auf der gleichen Seite, und zwar der falschen Seite der Geschichte.

Allen Kämpfern gegen FGM, die sich zweifellos für das Gute engagieren möchten, sei versichert: Es wird nicht funktionieren, die beiden Formen der Genitalverstümmelung gegeneinander auszuspielen! Menschenrechte gelten individuell, sie gelten universell und sie sind unteilbar. Dazu noch einmal Sami Aldeeb:



Western intellectuals, activists and politicians do not hesitate to attack the Africans without any restraint or respect for their feelings, probably to show their “moral” superiority. Instead of attacking female circumcision, they should first clean their own house by abolishing male circumcision. They forget one important principle: without abolishing male circumcision, it is impossible to abolish female circumcision.


Quelle, 11.9.2012

Ronald L. Haeberle, der Fotograf des Massakers von My Lai


Michael Marek



16. März 1968: Die Sonne geht gerade über dem Südchinesischen Meer auf, als Helikopter der US-Armee die kleine Ortschaft My Lai erreichen. Soldaten der «Charlie Company» umzingeln das kleine Dorf 540 Kilometer nordöstlich von Saigon. Ihr Auftrag: Aufspüren und Vernichten von Angehörigen des Vietcongs, der südvietnamesischen Kommunisten. Vier Stunden später sind 504 Bewohner tot. Das Kriegsverbrechen unter Führung von Lieutenant William Calley besiegelte den moralischen Zusammenbruch der Vereinigten Staaten in Indochina.

Plötzlich war überall Tod: Dorfbewohner von My Lai, auf der Flucht erschossen.


Schlachthaus My Lai


Das Massaker blieb vor allem wegen seiner Bilder in Erinnerung: brennende Hütten, Menschen mit aufgeschlitzten Leibern, entstellte Leichen, die zwischen Reisfeldern liegen. Ronald Haeberle erinnert sich 44 Jahre später an jedes Detail. «Wir waren mit unseren Helikoptern gelandet, da begannen unsere Leute auf alles zu feuern, was sich bewegte. Ich sah, wie einer alten Frau aus kürzester Entfernung in den Kopf geschossen wurde. Überall lagen Leichen.» Mit zwei Kameras (Farbe und Schwarz-Weiss) hielt der damals 27-jährige Armeefotograf fest, wie die Mitglieder der «Charlie Company» unschuldige Frauen, Kinder und Männer ermordeten, Tiere abschlachteten, Brunnen vergifteten, Häuser und Lebensmittelvorräte in Brand steckten.


«Es war alles total irreal, sogar Babys wurden massakriert», erzählt Haeberle, «ich fragte die Soldaten, warum sie das machten, warum sie Kindern und Säuglingen in den Kopf schiessen. Ich bekam keine Antwort, sie gingen weiter und feuerten mit ihren M16 um sich.» Immer wieder sexuelle Übergriffe gegen Frauen. Routine, Mordfieber und Lust sind nicht zu unterscheiden. Den Opfern werden mit Bajonetten und Messern Ohren und Köpfe abgetrennt, Kehlen aufgeschlitzt, Zungen herausgeschnitten und Skalps genommen. All das hat Haeberle detailliert festgehalten. «Es war ein Blutbad, alles unschuldige Menschen», so erinnert sich Haeberle. «Glückwünsche den Offizieren und Mannschaften zum ausgezeichneten Gefecht», telegrafiert später General William Westmoreland, Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Vietnam.


Nur einer wagt den bedrängten Dorfbewohnern zu helfen: der Helikopterpilot Hugh Thompson. Er landet zwischen den Soldaten und den Dorfbewohnern. Dann fordert er über Funk Hilfe für die verwundeten Zivilisten an: «13 Vietnamesen wurden ausgeflogen. Während der ganzen Aktion hielten Thompsons Bordschützen Glen Andreotta und Lawrence Colburn mit ihren MG die eigenen Kameraden in Schach.»


Zurück im Basiscamp der US-Armee, muss Haeberle seine Schwarz-Weiss-Kamera abgeben. Die Farbkamera versteckt er und behält sie für sich. «Meine Vorgesetzten haben nicht nach der Kamera gefragt.» Von dem Kriegsverbrechen erzählt Haeberle zunächst niemandem. Man hätte ihn in der Armee als Nestbeschmutzer beschimpft. «Und was wäre mit meinen Kollegen passiert, die als Reporter und Fotografen beim nächsten Einsatz raus mussten? Ihr Leben wäre nichts mehr wert gewesen, verstehen Sie, vielleicht hätte man sie hinterrücks erschossen.»


Dass er Armeefotograf wurde, war Zufall. «Als ich 1962 eingezogen wurde, kam ich nach Hawaii. Ich hatte meine Kamera dabei und machte Fotos vom militärischen Training», so Haeberle, «mein Vorgesetzter fand das gut. Und so wurde ich Fotojournalist in der Army.» Nach Vietnam wurde er nicht abkommandiert. «Ich wollte selber dorthin. Es interessierte mich, ich wollte mit eigenen Augen sehen, was dort los ist.» Als er nach My Lai mitflog, hiess es, der Ort sei «heiss», Vietcong würden sich dort verstecken. «Doch das stimmte nicht. Die US-Soldaten wurden weder angegriffen noch beschossen, noch wurden in dem Dorf Waffen und Mitglieder des Vietcongs gefunden.»


Ungläubiges Staunen


Im April 1968, noch vor der Veröffentlichung seiner Fotos, wird Haeberle «ehrenhaft» aus der US-Armee entlassen. Danach beendet er sein Studium und arbeitet zeitweise als Fotograf in Cleveland. In seiner Heimatstadt stellt Haeberle eine Diashow zusammen, die er auf öffentlichen Veranstaltungen zeigt, auch dem Rotarier-Klub. «Ich wollte wissen, wie die Leute darauf reagieren.» In die Mitte der Diaserie mit Aufnahmen aus seiner Dienstzeit placiert er die Bilder des Massakers von My Lai. Ungläubiges Staunen im Publikum, erinnert sich Haeberle, «die Leute konnten sich nicht vorstellen, dass US-Soldaten solche Verbrechen begangen haben. Eine Frau meinte, ich hätte mir eine Seifenoper für Hollywood ausgedacht.»


Haeberle liefert Aufnahmen, die später zur Aufklärung des Kriegsverbrechens beitragen. Zunächst gelingt es dem US-Militär, die Ermordung der Dorfbewohner zu vertuschen – bis im November 1969 Haeberles Fotos in verschiedenen US-Medien erscheinen, zuerst im «Cleveland Plain Dealer» und dann im renommierten «Life Magazine». Dafür erhält Haeberle im selben Jahr den «Dead Line Award» der New Yorker Journalistenvereinigung. Geehrt fühle er sich bis heute nicht, so Haeberle, «und es macht mich auch nicht stolz, über das Massaker berichtet zu haben. Aber mit meinen Bildern konnte das Kriegsverbrechen bewiesen werden.»


Die Vereinigten Staaten sind schockiert: Die eigenen Soldaten, Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie gegen den Kommunismus, entlarvt als eine Bande von Massenmördern. Die US-Armee setzt den Drei-Sterne-General William Peers als Sonderermittler ein. In seinem Abschlussbericht beschreibt Peers auf mehr als 20 000 Seiten das Bild einer maroden Militärführung. Und er belegt, dass die Geschehnisse in My Lai nicht die Ausnahme, sondern die Regel während des Vietnamkrieges waren.


Knapp ein halbes Jahrhundert später berichtet Ronald L. Haeberle mit ruhiger Stimme von den Geschehnissen. Dass er damals auf den Auslöser der Kamera drücken konnte, verwundert ihn bis heute. «Ich war total schockiert. Ich stand irgendwie neben mir, als wäre ich ganz weit weg. Wissen Sie, es war Krieg. Während des Mordens haben die Soldaten sogar Mittagspause gemacht. Ich habe auch das fotografiert, ich wollte diesen Wahnsinn dokumentieren.»


Als einen Robin Hood sieht er sich nicht, «aber mit meinen Bildern wollte ich den Leuten zeigen, dass wir Amerikaner nicht einfach nur die Guten waren». Kriegsfotograf habe er nach My Lai nie werden wollen, sagt Haeberle. Mit seiner Vorgeschichte wäre er immer als Denunziant abgestempelt worden. Seit dem ersten Golfkrieg sei es ohnehin undenkbar, dass Kriegsjournalisten nicht genehmigte Aufnahmen veröffentlichten, ganz zu schweigen, dass jemand seine Kamera sozusagen am US-Militär vorbei benutzen könne. Ob es richtig sei, dass die Medien Bilder der Gewalt veröffentlichen? Ja, resümiert Haeberle, mit einer Ausnahme: Die Erschiessung Usama bin Ladins hätte man nicht zeigen sollen.


Haeberle lebt heute 30 Kilometer südwestlich von Cleveland in einem schmucklosen Vorort: weiss gestrichene Einfamilienhäuser, Doppelgaragen, gepflegte Vorgärten, Mittelstand. Freundlich und ungezwungen geht es bei ihm zu Hause zu. An den Wänden hängen Miró-Drucke, auf dem Kaminsims stehen ein blaues Gefäss (Ashes for old lovers) und der «Dead Line Award», eine hässliche Plastik aus Bronze. Haeberles grosse Leidenschaft sind Fahrräder. Er sammelt Bikes. Sein ganzer Stolz ist die neueste «Rennmaschine» aus Kohlefaser. Haeberle ist mittlerweile 71, Rentner und noch immer sportlich. Zweimal ist er nach Vietnam als Tourist zurückgekehrt, zuletzt 2011. «Ich habe eine Fahrradtour von Hanoi nach Ho-Chi-Minh-Stadt (ehemals Saigon) unternommen.» Auch in My Lai war er («Das war eine innere Verpflichtung»), die Gedenkstätte hat er ebenfalls besucht: «Das war für mich eine Geste der Ehrerbietung an die Opfer.»


Begegnung mit einem Überlebenden


Ronald L. Haeberle ist ein rationaler Mensch, keine Gefühlsausbrüche, wenn er über das Morden von damals spricht. Bis heute hat er keine Albträume. Er spricht gelassen und mit wenigen Gesten, stets zuvorkommend und freundlich, im grauen T-Shirt (I love Laos), in verwaschener Bluejeans und mit schütterem Haar. Grossgewachsen ist er, mit wachem Blick und eleganter Designerbrille. Nur im letzten Jahr sei er den Tränen nahe gewesen, sagt Haeberle, als er einen Überlebenden getroffen habe. «1968 hatte ich eine sterbende Mutter fotografiert, die im Todeskampf ihr Baby und ihren kleinen Sohn zu schützen versuchte.»


Auf Haeberles Fotos sind die schweren Verletzungen der Mutter zu sehen. In den Medien wird dieses Bild nur selten gezeigt – es ist zu grausam, zu schockierend. Der 6-jährige Knabe von damals lebt mittlerweile in Deutschland. Duc Tran Van, 51, und der Fotograf von My Lai sind Freunde geworden. Haeberle ist innerlich bewegt: «Ich habe Duc die Kamera gezeigt, mit der ich die Bilder von ihm und seiner sterbenden Mutter aufgenommen habe. Die Kamera und die Bilder sind ein starkes Band zwischen uns!» Heute befindet sich Ronald L. Haeberles Kamera von 1968 bei Duc Tran Van in Remscheid. Sie steht auf einem kleinen Altar vor dem Bild seiner ermordeten Mutter. Haeberle hatte sie ihm geschenkt.

Duc Tran Van und sein Brüderchen haben das Massaker überlebt. Ronald L. Haeberle hat auch ihre ermordete Mutter fotografiert – ein Bild weit jenseits des Erträglichen.


Bis heute haben die USA keine Entschädigung an die überlebenden Opfer gezahlt. Haeberle hält von solchen Wiedergutmachungsleistungen überhaupt nichts. «Und wissen Sie warum? Das Geld würde diejenigen, die es brauchten, nie erreichen. Die US-Regierung sollte vielmehr alles dafür tun, damit Vietnam von den Resten des hochgiftigen Entlaubungsmittels Agent Orange gereinigt wird. Im ganzen Land steckt das gefährliche Zeug noch im Boden und vergiftet alles. Das würde den Menschen wirklich helfen!»


Quelle: NZZ, 12.9.2012


Was ist “Neuer Antisemitismus”?

CHAIM NOLL

Seit einigen Jahren spricht man in Europa von einem „neuen Antisemitismus“. Zur Prägung des Begriffs führten der neuerliche Anstieg judenfeindlicher Gewalttaten und die wachsende Hass-Propaganda gegen Israel. Träger der europaweiten Bewegung sind vor allem Gruppen, die erst neuerdings als judenfeindlich wahrgenommen werden, wie zum Beispiel die europäische Linke oder bislang selbst für bedroht erachtete Minderheiten, vor allem Muslime. 

Als traditionell judenfeindlich gilt in Europa die politische Rechte. Dagegen wurde der Antisemitismus der europäischen Linken lange nicht als solcher wahrgenommen, auch nicht so bezeichnet. Linker Antisemitismus erschwert aus mehreren Gründen seine Wahrnehmung: einmal, weil er sich hinter progressiven Parolen verbirgt („Solidarität“, „Befreiung unterdrückter Völker“, „Kampf für Menschenrechte“), zum anderen, weil er sich vornehmlich als sogenannter „Antizionismus“ geriert, als Opposition – im eigenen Sprachgebrauch „Kritik“ – gegenüber dem Staat Israel. Auch der heutige islamische Judenhass entzündet sich scheinbar am Staat Israel, erstreckt sich jedoch darüber hinaus auf alle Juden der Welt, die eo ipso als Handlanger des Zionismus gelten.

Aus mehreren Gründen ist „Neuer Antisemitismus“ ein fragwürdiger Terminus. Zum ersten war das um 1860 in Deutschland entstandene Wort „Antisemitismus“ immer missverständlich, da in Wahrheit Judenhass gemeint ist, nicht, wie das Wort suggeriert, eine Aversion gegen „Semiten“. Im Rahmen dieser Begrifflichkeit – falls man ihr folgt – sind Araber, heute die vehementesten Vertreter antijüdischer Ressentiments, gleichfalls „Semiten“. Um solche Verwirrungen zu vermeiden, ist es zutreffender, statt von „Antisemitismus“ schlicht von Judenhass zu sprechen oder, wenn es unbedingt wissenschaftlich klingen soll, von Antijudaismus. 

Zweitens ist diese Art Judenhass nicht „neu“. Das Attribut reflektiert eher eine Wahrnehmungsstörung als die tatsächliche Neuheit des Antijudaismus bei den in Frage kommenden Gruppen. In Wahrheit gehörte Judenhass sowohl bei der europäischen Linken als auch im Islam von Anfang an zu den Grundzügen des Weltbildes. Die europäische Linke zeigte judenfeindliche Tendenzen schon in ihrer Frühperiode, bei Charles Fourier oder Bakunin1, deutlicher seit ihrer Herausbildung als Massenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Karl Marx, selbst noch als Jude geboren, später zum Protestantismus konvertiert, sah im Judentum das Symbol kapitalistischer Ausbeutung und Geldgier, wie er in seinen Aufsätzen „Zur Judenfrage“ ausgeführt hat. Der Historiker Edmund Silberner stellt summarisch fest, dass „die bedeutenden Sozialisten des 19. Jahrhunderts die Juden als Verkörperung sozialen Schmarotzertums betrachteten“2. Ein zweiter Vorwurf, den linke Theoretiker früh gegen die Juden artikulierten, galt deren Festhalten an Tradition und religiöser Überlieferung. Karl Kautsky, einer der Gründer der deutschen Sozialdemokratie, hielt das Judentum für eine reaktionäre, konservativ beharrende Kraft, die um des gesellschaftlichen Fortschritts willen beseitigt werden müsse: „Je eher es verschwindet, desto besser für die Gesellschaft und die Juden selbst.“3 Auch Wilhelm Marr, Gründer der „Liga der Antisemiten“ im wilhelminischen Deutschland, kam bekanntlich aus der radikalen Linken.

Im Grunde sind dies die beiden wichtigsten judenfeindlichen Stereotype der europäischen Linken bis heute. Erstens: Judentum als tragende Komponente einer sozial ungerechten kapitalistischen Ordnung – analog der Staat Israel als „Vorposten“ eines westlichen Imperialismus gegen seine zu Opfern stilisierten islamischen Nachbarn. Zweitens: Judentum als reaktionäres, den Forschritt hemmendes Potential, vor allem wegen seiner traditionalistisch-historischen, gesetzesbetonten Orientierung. Die geballte Aversion linker Judengegner gilt daher religiösen Juden, etwa den Siedlern in der Westbank. Sie sind für viele europäische Linke die Schuldigen am Nicht-Zustandekommen eines dauerhaften Friedens im Nahen Osten, wenn nicht gar des Weltfriedens. Mehr noch: ein Symbol des Reaktionären, Fortschritt und Frieden Hemmenden schlechthin. Religiöse Juden verkörpern am sichtbarsten eine im jüdischen Volk gewachsene Neigung zu spiritueller Introvertiertheit und historisch motiviertem Nationalismus – gleichfalls mit linker Weltsicht unvereinbare Positionen.

Trotz dieser in der Tiefe schlummernden Aversion gegen jüdische Ausprägungen, die bei Gelegenheit zu offenem Judenhass ausbricht, bekennt sich die europäische Linke in einer fast deklamatorischen Weise gegen den Antisemitismus. In der Tat widerstrebt eine Diskriminierung auf Grund „rassischer“ oder anderer angeborener Eigenschaften dem egalitären Grundprinzip linker Ideologien. Im Zuge linker Bekenntnis-Prozeduren wird der Antisemitismus als ein auf die politische Rechte beschränktes Phänomen dargestellt. Die Schuldzuweisung an den Gegner dient zugleich als Ritual eigener Entschuldung. Da der Kapitalismus per se antisemitisch ist, so das argumentative Muster, können wir Linken, seine entschiedensten Gegner, es unmöglich sein. Der autosuggestive Vorgang wiederholt sich periodisch in der Geschichte der europäischen Linken, auch im osteuropäischen Staatssozialismus. Noch kurz vor Ende seines Regimes, in dem die wenigen Juden ein klägliches, von der Staatssicherheit überwachtes Dasein fristeten, erklärte Erich Honecker den Antisemitismus zu einem Symptom der „Ausbeuterordnung“ und die DDR zur „Heimstatt der Juden“.

Allerdings bekannte die europäische und russische Linke früh ihre Aversion gegen den Zionismus. In ihm sahen die Bolschewiki, wie Trotzki 1934 schrieb, „eine Ablenkung vom Klassenkampf durch Hoffnungen auf einen jüdischen Staat unter kapitalistischen Bedingungen“. Der bereits hier geäußerte Vorwurf, der Zionismus arbeite dem Kapitalismus in die Hände – eine Neuauflage Marxscher und früherer sozialistischer Vorurteile gegen die Juden –, steigerte sich bald darauf zur tödlichen Anschuldigung, etwa in den Schauprozessen gegen jüdische Kommunisten. Wegen „zionistischer Aktivitäten“ wurden Rudolf Slansky und andere Parteifunktionäre jüdischer Herkunft 1952 in Prag zum Tode verurteilt und exekutiert. „Zionismus“ blieb von da an in der kommunistischen „Weltbewegung“ ein Drohwort und für viele andere Linke – für manche bis heute – ein Pejorativ. Früh erschien auch das Motiv, der Zionismus sei ein Instrument kapitalistischer Unterdrückung gegen den gerechten Befreiungskampf der palästinensischen Araber, so etwa 1931 in der von der
Kommunistischen Partei Deutschlands herausgegebenen Broschüre „Tag des Fellachen“
4. 

Der Staat Israel als Verhinderer des Friedens ist das am meisten verbreitete Stereotyp des „Neuen Antisemitismus“. Nach entsprechender Vorarbeit durch europäische Medien nannten im Jahre 2003 – während der zweiten Intifada – Befragte mehrheitlich (besonders in Frankreich und Benelux-Ländern) den Staat Israel „das größte Hindernis für den Weltfrieden“. Zunächst wird bei solchen Anschuldigungen die Existenz zahlreicher anderer Kriegsherde in der Welt einfach ausgeblendet. Dann ist „Weltfrieden“ ein religiöser, messianischer Topos, ungeeignet als Schlagwort der Tagespolitik. Ohne Frage ist Frieden ein wünschenswerter, erstrebenswerter Zustand, sogar allgemeiner, verbreiteter Frieden, wie etwa allgemeine Gerechtigkeit oder allgemeine Gesundheit, doch weiß jeder erwachsene Mensch, dass solche Zustände Ideale darstellen, deren praktische Umsetzung zwar immer wieder in der Geschichte angestrebt, doch niemals erreicht wurde. 

Dennoch legt eine Mehrheit der europäischen Linken die offensichtliche Unerreichbarkeit der Utopie „Weltfrieden“ allen Ernstes dem Staat Israel zur Last. Und das in einer Region, in der kaum jemals Frieden geherrscht hat. In den letzten anderthalb Tausend Jahren waren es vor allem islamische Kriege und Machtkämpfe, zunächst die grausamen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge der muslimischen Araber gegen ihre Nachbarvölker, die den Mittleren Osten in ständige Unruhe versetzten. Seit dem siebten Jahrhundert, unmittelbar nach Mohameds Tod, beherrschen inner-islamische Kriege die Region, beginnend mit dem bis heute bestehenden Schisma zwischen Shiiten und Sunniten und zahlreichen anderen Spaltungen und Feindschaften. Jahrhunderte lang bekämpften rivalisierende muslimische Dynastien und Khalifate einander, Ismailiten, Fatimiden, Ayyubiden, Umayyaden, Abbasiden und andere. Immer wieder brach auch der Hass zwischen verschiedenen Ethnien auf, die zwar alle den Islam angenommen haben, oft unter blutigem Zwang, zwischen denen jedoch die alten Aversionen bis heute fortbestehen, wie zwischen Arabern und Türken, Arabern und Persern, zwischen Persern und Türken, diesen und den Kurden etc. Das osmanische Reich, der letzte islamische Großverband, zerbrach an inner-islamischen Unverträglichkeiten schon lange vor der Neugründung des Staates Israel. Die islamischen Beduinenstämme der arabischen Wüste nahmen im Ersten Weltkrieg die Seite der Engländer – gegen ihre türkischen Glaubensbrüder. Vor dem Hintergrund dieser blutigen Geschichte ist das in Europa verbreitete Stereotyp, der Unfrieden im Mittleren Osten hätte mit der Neugründung des Staates Israel im zwanzigsten Jahrhundert begonnen, schlicht und einfach Nonsens.

Es ist dennoch ein Eckpfeiler des „Neuen Antisemitismus“. Nichtwissen, auch Nicht-Wissen-Wollen, erweist sich als eine der Grundlagen heute verbreiteter Israel-Kritik. Ihre argumentative Dürftigkeit ist oft verblüffend. Eine professionelle Anti-Israel-Aktivistin wie die in der Sowjetunion ausgebildete, kürzlich mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz geehrte Propagandistin Felicia Langer kümmert sich wenig um die historische Wahrheit oder gedankliche Logik ihrer in populären Broschüren niedergelegten Anklagen. Sie weiß, dass es darauf nicht ankommt. Israel-Hassern geht es um emotionale Wirkungen und Gemeinschaft stiftende Wir-Gefühle: Anti-Israel-Propaganda als Chiffre für generelles Unbehagen an einer schlechten, von Kapitalisten, Unterdrückern der Völker und Zionisten beherrschten Welt. Solche Autoren beschwören das Bild konspirativer Netzwerke nicht anders als die „Protokolle der Weisen von Zion“, die Nazi-Propaganda oder die Anklageschriften kommunistischer Staatsanwälte gegen „zionistische Aktivitäten“ und „Kosmopolitismus“. So sah sich der deutsche Politiker Jürgen Möllemann, ein typischer Vertreter des „Neuen Antisemitismus“, als Opfer von Mossad-Umtrieben. Felicia Langer wähnt in der Bundesrepublik eine „jüdisch-zionistische Lobby“. Auch die Geschäftsführerin der deutschen Grünen-Partei, Renate Künast, beschuldigte kürzlich in Berlin eine Gruppe Demonstranten gegen die atomare Aufrüstung des Iran, vom israelischen Geheimdienst Mossad gesteuert zu sein. 

Irgendwo, unbemerkt, an einer schwer zu bezeichnenden Stelle, geht diese Art „Israel-Kritik“ in offensichtlichen Judenhass über, eine nach demokratischem Konsens verwerfliche Haltung. Für einen Augenblick herrscht Erschrecken, Dementieren, Beteuerung prinzipiellen Wohlwollens gegenüber den Juden. Dennoch können linke Israel-Gegner, die sich zu weit vorgewagt haben, des Wohlwollens ihrer Parteifreunde sicher sein. Die Äußerung des Grünen-Politikers Hans-Christian Ströbele während des Golfkrieges 1991, der Staat Israel hätte die Raketenangriffe Sadams durch sein Auftreten selbst verschuldet, haben seiner Karriere kaum geschadet. Linke Israel-Gegner sind sich darin einig, dass ihre Kritik an Israel „legitim“ sei und keinen Judenhass bedeute. Im Gegenteil, man kritisiere den jüdischen Staat in hilfreicher Absicht. Ein von Juden geleitetes Staatswesen neige nun einmal zu „alttestamentarischer Grausamkeit“, „unangemessener“  Vergeltung und Menschenrechtsverletzungen, weshalb es permanenter Beaufsichtigung durch fortschrittliche europäische Kräfte bedürfe.

Dem iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad ist zu danken, dass er die direkte Verbindung zwischen den Stereotypen linker Israel-Verurteilung (Israel ein „Apartheid-Staat“, seine Militäraktionen „Kriegsverbrechen“, sein Umgang mit den Palästinensern – trotz deren enormem Bevölkerungswachstum – ein „Genozid“) und dem offenen Hass auf das jüdische Volk ins allgemeine Bewusstsein gerückt hat. Ahmadinejad verknüpft die bekannten Stereotype linker Israel-Kritik direkt und offenherzig mit dem Aufruf zur Vernichtung des jüdischen Staates. Er erspart sich die umständlichen Tarnmanöver europäischer Israel-Gegner, die von sich behaupten, allenfalls Antizionisten, aber keine Antisemiten zu sein und denen die Demontage des einzigen demokratischen Staates im Mittleren Osten ein angemessener Preis erscheint, um ihre verjährten Vorstellungen von einer gerechteren Welt-Ordnung durchzusetzen. Durch Ahmadinejad und seine zugleich anti-westlichen und judenfeindlichen Auftritte ist manches klarer geworden, was im Nebel linker Hochherzigkeiten seine Kontur verloren hatte.

Der Antisemitismus der Linken unterscheidet sich von dem der Nazis vor allem darin, dass seine Vertreter leugnen, Antisemiten zu sein. Die für Juden lebensbedrohliche – und damit fraglos antisemitische – Komponente linker „Israel-Kritik“ zeigt sich in Situationen zugespitzter Bedrohung des Staates Israel. Die zweite Intifada, der gewaltige, letzte Ansturm Arafats und seiner Anhänger gegen den jüdischen Staat, war für die meisten Israelis eine harte Zeit. Nicht nur die täglichen Terror-Anschläge, die Störung des öffentlichen Lebens, die Sicherheitsmaßnahmen, d
ie Gefahr, in der sich jeder wusste, auch die ökonomische Krise, der Rückgang des Tourismus, der Verlust an ausländischen Investitionen, die Ausgaben für Sicherheit und Kürzungen anderswo, die Fotos der gestrigen Terror-Opfer in den Zeitungen, junger Gesichter meist, die Zunahme der Invaliden im Straßenbild. Niemand, der diese Jahre erlebt hat, wird sie vergessen. Und niemand hier hat vergessen, wie die europäische Linke in diesem Augenblick Israel in den Rücken fiel. Mit einem Trommelfeuer wohlmeinender Kritik, mit Solidaritäts-Visiten bei Arafat, mit Anklagen vor dem Gerichtshof in Den Haag, mit Boykott gegen Israelis im Ausland, sogar gegen ganz unpolitische Wissenschaftler und Künstler. Wie zugleich mit den Terror-Attacken in Israel auch in Europa der Judenhass wieder massenhaft und gewalttätig wurde: brennende Synagogen in Frankreich und Belgien, Überfälle auf Juden in London, Berlin und Paris. An manchen Tagen schien es, als sei ein weltweiter Pogrom in Gang gekommen.


Wie der Antisemitismus der Linken von Anfang an zu dieser Bewegung gehörte und folglich nicht „neu“ ist, erweist sich auch der des Islam als tief verwurzelt und alteingesessen im Weltbild seiner Gläubigen. Allerdings ist der Judenhass des Islam viel älter als der linke, und gibt sich – anders als dieser – ohne Scheu als solcher zu erkennen. Schon 1833, in seiner in Frankfurt veröffentlichten Dissertation „Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen“, hat Abraham Geiger, der spätere Begründer des deutschen Reform-Judentums, ausführlich nachgewiesen, wie weitgehend sich Mohameds Lehre aus biblischem Gedankengut nährt und zugleich die Träger des biblischen Konzepts, Juden und Christen, bekämpft. Der Grund, warum sich Mohamed in seinen Predigten oder „Suren“ großzügig aus jüdischen und frühchristlichen Quellen bediente, war nicht Liebe zur biblischen Lehre, sondern pragmatischer Art: „die Macht, die die Juden in Arabien (in den ersten christlichen Jahrhunderten – Ch. N.) erlangt hatten“ und ihr Vorteil an „Kenntnissen“, etwa politischen und sozialen Erfahrungen oder landwirtschaftlichen Methoden. Mohamed trug dem Druck seines nomadischen Publikums Rechnung und vermischte das biblische Material, das er in seinen Predigten wie eine eigene Offenbarung vortrug, mit alt-arabischen Lebensregeln und Traditionen, die nicht selten zu den biblischen Geboten in direktem Widerspruch standen. Daraus erklärt sich die Inkonsistenz vieler koranischer Textpassagen. Das religiöse Dilemma des Islam, der „tiefe und der Vermittlung unfähige Gegensatz“ zwischen dem Ehrenkodex der arabischen Männergesellschaft und den ethischen Konzepten der Bibel, wurde von Ignaz Goldziher in seinen „Muhammedanischen Studien“ ausführlich untersucht5. Die innere Unstimmigkeit des Textes versetze den muslimischen Gläubigen „in den Zustand einer ständigen Krise“, befand einige Jahrzehnte später der Anthropologe Claude Levi-Strauss. „Der gesamte Islam scheint eine Methode zu sein, im Kopf der Gläubigen unüberwindliche Konflikte zu schaffen, aus denen man sie dann dadurch rettet, dass man ihnen Lösungen von sehr großer (jedoch zu großer) Einfachheit anbietet.“6 

Eine dieser Lösungen ist der Judenhass, den schon der Religionsgründer selbst als Ausweg aus dem Dilemma vorführte. Die in den heute vorherrschenden islamischen Auslegungen propagierte Lehrmeinung, die bloße Anwesenheit von Nicht-Muslimen bedeute für Muslime eine Gefahr, stützt sich auf Sure 2,191, wo es heißt, die von „Ungläubigen ausgehende Verführung ist schlimmer als Töten“. Sie wurde zu einem Leitmotiv islamischer Theologie, die von nun an den gewaltsamen Angriff auf Juden, Christen und andere „Ungläubige“ als Akt der Verteidigung darstellt7. Auch hier ging der Prophet mit seinem Beispiel voran, indem er im Jahre 628 die gesamte jüdische Bevölkerung Medinas abschlachten ließ.

Aus solchen und anderen Koran-Stellen schöpfen heutige islamische Bewegungen wie die Hamas mühelos ihre Aufrufe zur Vernichtung von Juden („Zionisten“) und Christen („Kreuzfahrer“). Schon kurze Einblicke in fundamentales Schrifttum zeigen die tiefe Verwurzelung islamischer Aversionen gegen Israel und Juden in den religiösen Quellen. Es fällt daher leicht, im Koran legitimierende Stellen für moderne antisemitische Aktionen zu finden, wie es in der politischen Charta der Hamas geschieht oder in der außenpolitischen Staatsdoktrin des iranischen Präsidenten Ahmadinejad, für den die Vernichtung Israels das wichtigste Anliegen, geradezu den Schlüssel zur Verbesserung der Welt darstellt. So zitiert die Charta der Hamas, um ihren weltweiten Kampf gegen die Juden plausibel zu machen, Sure 5, Vers 64 oder Sure 3, Vers 1188. Noch entscheidender ist das koranische Konzept einer aus dem herkömmlichen Rassismus ins Religiöse gewendeten Segregation. Die generelle Unterteilung der Menschheit in zwei Klassen, „Gläubige“ und „Ungläubige“, die der Koran vornimmt, bedeutet die Zurücknahme der biblischen Gleichheit aller Menschen vor dem Schöpfer und macht den Islam zur einzigen der weltweiten Religionen, die offen Apartheid predigt. 

Wenn von „neuem Antisemitismus“ die Rede ist, müssen auch Nazis und Rechtsradikale Erwähnung finden, deren judenfeindliche Straftaten nach Berichten der zuständigen Ämter in Europa gleichfalls ansteigen. Europas „neuer Antisemitismus“ ist ein mixtum compositum bekannter antijüdischer Stereotype verschiedener Provenienz. Sein Nährboden mag überlieferter europäischer Judenhass sein – ganz gleich, ob von links oder rechts –, doch fraglos ist die Eskalation des „neuen Antisemitismus“ eine direkte Folge von Europas Islamisierung. Oder, allgemeiner ausgedrückt, der zunehmenden Abhängigkeit Europas von islamischen Kräften, sei es inneren wie den islamischen Bevölkerungen, sei es äußeren wie dem radikalen Regime im Iran, mit dem viele europäische Staaten wirtschaftlich eng verbunden sind. 

Die fortwährende Dämonisierung der einzigen Demokratie im Mittleren Osten degradiert auch das demokratische System als solches in den Augen der eigenen Bevölkerungen und der gesamten Welt. Judenhass ist ab ovo eine destruktive Haltung. Sein Wesen beruht auf Verneinung und Aversion. Oft in der Geschichte war Judenhass der Beginn weiterreichender Verachtungs- und Verneinungshaltungen, meist machte er nicht bei den Juden halt, sondern begann nur bei ihnen, um sich dann gegen andere Gruppen und Strukturen der Gesellschaft zu richten, gegen Bewegungen der Toleranz und Erneuerung. Eine Gesamtheit, die Antisemitismus duldet, zerstört ihr eigenes Immunsystem. Das bedeutet heute im Besonderen die Beschädigung des komplizierten Systems humaner Regulierungen und Schutzvorrichtungen, auf denen das Zusammenleben der modernen Demokratien beruht.

Europäische Demokratiegegner, etwa Neonazis, müssen sich von der ständigen Anti-Israel-Propaganda ermutigt fühlen. Die Diffamierung Israels führt unweigerlich zur Aufwertung der undemokratischen, autoritären, teilweise unmenschlichen Regimes seiner nahöstlichen Nachbarn und zur Legitimierung terroristischer Gruppen. Daher ist die Empörung linker Kreise über das Anwachsen de
r Neo-Nazis weitgehend Heuchelei. Wen könnte es in Wahrheit überraschen, da doch junge Muslime ungestraft ihren Judenhass ausleben dürfen und die europäische Linke ihren Hass auf Israel? Auch sie meinen offensichtlich mehr als die Juden. Auch ihnen geht es um das System der europäischen Werte. Denn das ist der „neue Antisemitismus“ seinem Wesen nach: ein Beitrag zur Selbstzerstörung Europas.


ANMERKUNGEN



1 Peter G.Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Österreich 1867-1914, Vandenhoek und Ruprecht (deutsche Übersetzung der englischen Originalausgabe von 1964), S.275 ff.

2 Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus von den Anfängen des 19. Jahrhunderts bis 1914. Berlin, 1962

3 Karl Kautsky, Rasse und Judentum, Stuttgart 1914. Der hier zitierte Grundgedanke, Judentum werde durch den Sieg des Sozialismus obsolet, bestimmte auch das 1931 erschienene Buch des österreichischen Kommunisten Otto Heller, Der Untergang des Judentums. Die Judenfrage – ihre Kritik, ihre Lösung durch den Sozialismus.

4 Mario Kessler, Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik, Utopie kreativ, Heft 173, März 2005, S.228

5 Ignaz Goldziher, Muhammedanische Studien, Hildesheim 1961. Der gesamte erste Teil des Werkes, Muruwwa und Din, ist der Inkompatibilität von alt-arabischer und biblischer Weltsicht gewidmet.

6 Claude Levi-Strauss, Traurige Tropen, Leipzig 1988, S. 461

7 Chaim Noll, Judenhass im Islam, Tribüne, Frankfurt/M., Heft 185, 1/2008, S. 85 ff.

8 ebenda, S.95. Vgl. The Covenant of the Islamic Resistance Movement Hamas, Artide 22,www.mideastweb.org/hamas.htm

Quelle: Compass 2010, ONLINE-EXTRA Nr. 117

Der Autor

CHAIM NOLL, ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Noll war Meisterschüler der Akademie der Künste. Anfang der 80er Jahre verweigert er den Wehrdienst und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Chaim Noll löst sich aus seinen Bindungen an Staat und Partei, was zugleich den Bruch mit seinem Vater nach sich zieht. 1984 wird Noll ausgebürgert, geht in den Westen, arbeitet als Journalist und beginnt eine Karriere als Schriftsteller. 

Von 1992 bis 1995 lebt er in Rom und geht von dort nach Israel, wo er 1998 eingebürgert wird. Er lebt heute in der Wüste Negev und ist Writer in Residenceund Dozent am Center for International Student Programs der Ben Gurion Universität Beer Sheva. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays. 

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Chaim Noll steht gerne für Vorträge oder Lesungen zur Verfügung.
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„Das Militär ist eine zerstörerische Kraft“ – Interview mit dem ägyptischen Kriegsdienstverweigerer Emad el Defrawi

Jonathan Weckerle: Sie haben nach Maikel Nabil Sanad als zweiter Ägypter den Militärdienst verweigert. Was waren Ihre Gründe?

Emad el Defrawi: Inzwischen sind wir zu dritt, auch Mohammed Fathy hat im Juli aus Gewissensgründen den Militärdienst verweigert. Ich selbst habe verweigert, weil das Militär meiner Ansicht nach Ägypten besetzt hält. Es bestimmt unsere Leben, vertritt eine destruktive Ideologie und beherrscht uns zusammen mit der Religion. Im Militär werden rassistische, friedensfeindliche und antisemitische Lehren verbreitet. Man sagt uns, dass die Juden unsere Feinde sind. Laut einer US-Studie sind Menschen, die durch das Militär gehen, danach aggressiver. Das Militär ist eine zerstörerische Kraft für die Gesellschaft.

Herrschaft zusammen mit der Religion? Gibt es nicht vielmehr einen Machtkampf zwischen Militär und der Muslimbruderschaft?

Schon beim Putsch des Militärs 1952 waren zehn Mitglieder der Freien Offiziere auch Teil der Muslimbruderschaft, und sogar Gamal Abdel Nasser glaubte nicht an Säkularismus und betonte die islamische Identität. Die Offiziere lehnten den Kommunismus als säkulare Ideologie von Ungläubigen ab. Ich sehe keinen Konflikt zwischen diesen beiden Gruppen, und manchmal ist es sogar schwierig, sie als getrennt zu betrachten. Beim erneuten Putsch 1954 waren ebenfalls Muslimbrüder beteiligt. Wenn man begreift, dass es sich bei Militär und Muslimbruderschaft letztlich um das Gleiche handelt, versteht man auch, dass es seit 2011 Abkommen statt Machtkämpfe gab.

Seit dem Sturz Mubaraks lässt sich aber doch beobachten, wie in allen Bereichen des Staates Militärangehörige durch Muslimbrüder ersetzt werden.

Dem kann ich nicht zustimmen, denn die Militärs, die unter Mubarak Positionen inne hatten, wurden nicht einfach gefeuert, sondern mit Orden versehen. Beispielsweise erhielt Ex-Verteidigungsminister Mohammed Tantawi die höchste Auszeichnung, den Nilorden.

Das Militär ist also noch immer die wahre Macht in Ägypten?

Ja, denn warum gibt es sonst noch immer den Zwang zum Militärdienst? Warum schützen die Gesetze noch immer Korruption beim Militär? Wenn das Militär Ägypten nicht kontrollieren würde, wären solche Gesetze abgeschafft.

Wie ist Ihre Situation als Kriegsdienstverweigerer?

Ich habe keine Angst, denn wir haben vor über einem Jahr gelernt, unsere Angst zu überwinden. Die Obrigkeit will, dass wir uns zu Hause verstecken und nicht auf die Straße gehen. Aber wenn Menschen ihre Rechte nicht einfordern, verändert sich nie etwas. Die Situation von uns Kriegsdienstverweigerern ist ähnlich: Wenn wir durch die Städte reisen, können wir von Militärkräften gestoppt werden, die unsere Ausweise kontrollieren und so feststellen können, ob wir der Wehrpflicht nachgekommen sind. Wenn nicht, können sie uns bis zu drei Jahren inhaftieren, und anschließend können sie uns zum Militärdienst zwingen. Aber wir würden weiter verweigern und könnten dann weiter inhaftiert werden.

Wieso ist das noch nicht geschehen?

Ich glaube, nach den offensichtlichen und weithin bekannt gewordenen Übergriffen 2011 auf die Protestbewegung fürchtet das Militär Kritik von innerhalb und außerhalb Ägyptens, und will deshalb keine weitere Angriffsfläche bieten.

Bekommt ihr Zustimmung aus der Bevölkerung?

Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, haben mich unterstützt. Wir haben auch Anrufe von Leuten erhalten, die auf ähnliche Weise verweigern wollen.

Haben sich nach dem Sturz Mubaraks Räume für Kritik und politische Aktivitäten geöffnet?

Nein, die Redefreiheit etwa hat sich nicht vergrößert. Der einzige Unterschied ist, dass mehr Leute mutiger dabei wurden, die Obrigkeit herauszufordern. Aber die Machthaber versuchen, die Freiheit noch weiter einzuschränken, etwa durch Angriffe au
f NGOs oder auf friedliche Demonstrationen.

Transformiert sich dieser neue Mut in eine effektive politische Kraft, die das Militär bei Wahlen oder in der Gesellschaft herausfordern kann?

Nein, ich sehe nicht, dass die widerständigen Menschen eine starke Kraft sind. Die Opposition in Ägypten ist infiltriert durch den Geheimdienst, und es gibt viele Beschränkungen, wenn man eine Organisation gründen will. Wir versuchen beispielsweise seit drei Jahren vergeblich, unserer Gruppe „No to compulsory military service“ in eine offizielle Organisation zu wandeln.

Wie wichtig ist die Aufmerksamkeit westlicher Medien und NGOs?

Ich glaube, die internationale Solidarität ist machtvoller als die Solidarität innerhalb Ägyptens. Das ägyptische Regime überlebt aber andererseits auch durch internationale Unterstützung, denn es präsentiert sich als einzige pragmatische Alternative gegenüber extremistischen Kräften, und die Opposition wird als Gefahr für den Frieden, wirtschaftliche Interessen und Stabilität dargestellt.

Hat der Westen nicht stark an Einfluss auf Ägypten verloren?

Ich habe mich eben nicht auf Staaten bezogen, sondern auf die breite Bevölkerung und die NGOs im Westen. Die Zeit, in der westliche Politik Pläne im Nahen Osten ausführen konnte, ist seit dem Zweiten Weltkrieg vorbei.

Mubarak war also keine Marionette des Westens?

Er hat versucht, sich als säkularer und zivilisierter Mann darzustellen, der Ägypten vor den Barbaren bewahrt, und dadurch Unterstützung zu erhalten. Aber er war keine Marionette.

Wächst die Gefahr eines ägyptisch-israelischen Konflikts?

Schon seit Februar 2011, als der Aufstand gegen das Mubarak-Regime noch in vollem Gange war, wurden die Gasleitungen zu Israel im Sinai zum ersten Mal gesprengt. Das war ganz klar ein Versuch des Regimes, den Aufstand als Gefahr für den Frieden mit Israel und für andere Länder darzustellen. So etwas wird entweder durch den Staat unterstützt oder bewusst toleriert. Ich meine nicht nur das Militär, sondern den ganzen Staatsapparat. Dort kennt man die Extremisten in Ägypten, man lässt ihnen aus politischen Gründen eine gewisse Handlungsfreiheit. Schon seit 1952 haben die Machthaber Ägypten mit sektiererischer Politik weiter islamisiert, obwohl Staat und Bildungssystem auch davor nicht säkular waren. Vor 1952 gab es nur sieben al-Azhar-Schulen und drei al-Azhar-Institute, heute gibt es 13.500 Schulen und 680 Institute. Den Medien ist auch nicht erlaubt, für Frieden und „Normalisierung“ mit Israel einzutreten. Im Juni hat die ägyptische Zensur einen Film gestoppt, der für Kooperation zwischen ÄgypterInnen und Israelis warb. Auch wenn das Regime versucht, es anders darzustellen, ist antiisraelischer Fanatismus also sehr wohl ein Produkt des Regimes.

Gibt es in der ägyptischen Bevölkerung zumindest die Bereitschaft, echten Frieden mit Israel zu diskutieren?

Das ist nicht leicht, denn den Menschen wird von früher Kindheit an gelehrt, dass Israel der Feind ist, und auf den Landkarten existiert Israel gar nicht, nur Palästina. Auch die Hasspredigten des islamischen Klerus macht es für normale ÄgypterInnen schwer, den Gedanken an Normalisierung zu akzeptieren. Aber die Umfrageergebnisse der letzten Jahre zeigen, dass die Mehrheit zwar keine Normalisierung, aber auch keinen weiteren Krieg will. Aber nochmal: Das ist Ergebnis der staatlichen Hasspropaganda, während widersprechende Argumente zugunsten von Frieden, Kooperation und Pazifismus nicht erlaubt werden.

Könnte und sollte Israel etwas tun, um die ägyptische Bevölkerung zu erreichen?

Sie sollten sich auf jeden Fall nicht auf die jeweiligen ägyptischen Herrscher verlassen, denn diese können jederzeit fallen. Und dann könnte Israel alles verlieren, wenn es die ägyptische Bevölkerung ignoriert hat. Meiner Meinung nach ignoriert Israel leider auch viele ägyptische Verletzungen des Friedensvertrages von Camp David, der Frieden, Kooperation und normale Beziehungen fordert.

Wie hat sich die ägyptische Gaza-Politik verändert?

Ich sehe keine große Veränderung in der Politik gegenüber den Palästinensern und Gaza, denn nach den jüngsten Terrorattacken am Ramadan kamen die Machthaber zu dem Schluss, dass sie alle Schmuggeltunnel zu Gaza zerstören sollten. Mubarak hätte nicht viel anders gehandelt. Man lässt die Infiltration
von Gaza und Ägypten zu, aber wenn es zu Problemen kommt, wird sie gestoppt.

Die neue ägyptische Regierung tut also nicht wirklich etwas für die Menschen in Gaza?

Nein. Die Menschen in Gaza leiden unter der unterdrückerischen Hamas-Herrschaft, sie haben viele ökonomische Probleme, und es soll beispielsweise bald noch weitere Zensur geben. Der Vorwand ist unsittliches Online-Material, aber Zensur fängt immer bei Unsittlichkeit und Pornographie an, und trifft dann die politische Opposition.

Wie sehen Sie den Konflikt um das Mohammed-Video und die Angriffe auf die US-Botschaft in Kairo?

Diese Proteste unterschieden sich nicht sehr von den islamischen Protesten der letzten Jahre. Die Erziehungssysteme im Nahen Osten und besonders in Ägypten versuchen, die SchülerInnen und Studierenden zu gehorsamen, ignoranten, unkritischen Charakteren zu formen. Meinungsfreiheit wird dagegen als inakzeptabel dargestellt. Gemäß der herrschenden Moral sollen wir ältere Menschen unabhängig von ihren Taten respektieren und nicht kritisch über Religion oder religiöse Autoritäten sprechen. Wenn diesen Menschen am Freitag in der Moschee gepredigt wird, dass ein amerikanischer Film ihren Propheten und ihre Religion beleidigt, und dass sie protestieren müssen, so prüfen sie das nicht selbst nach. Der salafitische Fernsehsender al-Nas hat kleine Teile des Innocence of Muslims-Films gezeigt, wobei die arabische Übersetzung nochmals verschärft wurde, um die Leute aufzuhetzen. Die meisten Leute kennen den Film aber nur von den Schilderungen in der Moschee. Wenn man in Ägypten aus religiösen Gründen demonstrieren will, ist man weitgehend frei, das zu tun. Manchmal wird das sogar von staatlicher Seite angeheizt, denn der Staat kontrolliert die meisten Moscheen und Prediger. Den Protestierenden wurde erlaubt, zu randalieren und zu hetzen, um der Welt zu zeigen, zu was Demokratie in Ägypten führen würde.

Für säkulare Kritik scheint da nicht viel Raum zu sein?

Nein, das zeigt der Fall des ägyptischen Aktivisten Alber Saber. Zuerst wurde über ihn das falsche Gerücht verbreitet, er hätte den Mohammed-Film auf seiner Facebook-Seite gepostet und den Propheten beleidigt. Als der Mob vor seiner Wohnung stand, rief Alber die Polizei, die ihn aber nicht schützte, sondern festnahm. Der Mob rief christenfeindliche Parolen und versuchte, Albers Wohnung sowie eine nahe gelegene Kirche anzuzünden. Die ägyptischen Behörden haben aktiv bei der Mobilisierung mitgewirkt, und nach der Festnahme Albers wurden Blasphemie-Vorwürfe gegen ihn verbreitet. Sie wollten ihn inhaftieren, weil er bereits seit 2010 ein säkularer und nicht-religiöser politischer Aktivist ist. Der Staat versucht alle säkularen Dissidenten loszuwerden. Im Gefängnis hetzte ein Polizist die anderen Gefangenen auf, und sie griffen Alber an und versuchten ihn regelrecht abzuschlachten. Das also kann jemandem schon durch das Gerücht widerfahren, er habe den Propheten beleidigt, und die meisten Menschen haben nicht den Willen und die Bildung, solche Vorwürfe nachzuprüfen.

Der einzig mögliche Raum für Religionskritik und säkulare Ideen ist das Internet, und selbst dort ist Religionskritik in Ägypten illegal. Sogar progressive Muslime, die nur bestimmte religiöse Handlungen oder Lehren kritisieren, werden nicht von der Polizei geschützt. Man setzt sie ungeschützt den irregeleiteten und wütenden Menschen aus. 1992 wurde beispielsweise zugelassen, dass der progressive Intellektuelle Farag Foda von einem illiteraten Extremisten ermordet wurde.

Wie wird sich das iranisch-ägyptische Verhältnis entwickeln? Kommt es zu der besonders von iranischer Seite erhofften Annäherung?

Es wird einige oberflächliche Veränderungen geben, aber ich glaube, dass sie nur dazu dienen, die internationale Gemeinschaft zu ängstigen. Nach dem Motto: Wenn ihr uns weiter kritisiert, machen wir, was ihr nicht wollt: Die Feindschaft gegen Israel anheizen oder nicht beim internationalen Druck gegen das iranische Atomwaffenprogramm kooperieren.

Was schlagen Sie aus pazifistischer Sicht bezüglich des iranischen Atomwaffenprogramms vor?

Um die iranische Führung davon zu überzeugen, ihre nuklearen Ambitionen aufzugeben, sollte man zuerst aufhören, die umliegenden Länder nuklear und konventionell aufzurüsten, denn sonst kommt es zu einem Wettrüsten. So könnte man vielleicht auch den Rest der Welt davon überzeugen, Atomwaffen und überhaupt gefährliche Atomtechnik aufzugeben.

Hans Rühle schrieb jüngst in der WELT über ein mögliches ägyptisches Atomwaffenprogramm. Ist das realistisch?

Ich habe bislang nur gelesen, dass Mursi die Atomkraft entwickeln will und nicht andere Energiequellen. Man nutzt das reale Energieproblem in Ägypten, um ein Atomprogramm zu entwickeln, welches man dann wie Israel, Iran, Saudi-Arabien und andere Länder leicht für Atomwaffen verwenden könnte.

Gibt es eine Ökologie- oder Anti-Atom-Bewegung in Ägypten?

Keine Bewegung, nur sehr wenige Menschen, die Öko-Aktivismus betreiben. Sie sind noch schwächer als die Demokratie-AktivistInnen.

 

Emad el Defrawi lebt hauptsächlich in Kairo und bezeichnet sich selbst als antimilitaristischen Bewusstseinsbeobachter und Hobbylinguisten. Sein Blog ist einzusehen unter childrenofpeace.wordpress.com. Politisch arbeitet er in der Gruppe No for Compulsory Military Service (www.nomilservice.com).

Das Interview führte und übersetzte Jonathan Weckerle.

Quelle:  iz3w 2012

Martenstein über Buschkowskys Buch: Wenn ich verprügelt werde, ist das kein großes Ding

Die Rassismus-Vorwürfe gegen Heinz Buschkowsky und sein Buch kotzen mich an, schreibt Kolumnist Harald Martenstein. Er berichtet, wie ihn einst zwei junge Männer mit türkischem Akzent achtmal ohrfeigten und fragt: Wieso fühlen sich manche Menschen mit Migrationshintergrund persönlich angegriffen, wenn man Geschichten aus dem Leben erzählt?


Vor einigen Jahren ist es mir passiert, dass ich auf dem Nachhauseweg von zwei jungen Männern, etwa achtzehn, angehalten wurde, nachts in Charlottenburg. Stuttgarter Platz, da wohnte ich halt. Sie haben nach Zigaretten gefragt, ich hatte nur noch eine. Dann haben sie mir abwechselnd links und rechts Ohrfeigen gegeben und dabei gelacht, ich glaube, es waren ungefähr acht Ohrfeigen. Die Brille ist dabei kaputtgegangen. Als ich um Hilfe geschrieen habe, sind sie weggegangen. Nicht schnell, sondern schön langsam, im Triumph. Natürlich bin ich nicht zur Polizei gegangen.

Was soll das bringen? Ich geniere mich ja sogar, es zu erzählen. Die Männer hatten einen türkischen Akzent. Weil ich das erwähne, gerate ich natürlich in den Verdacht, ein Rassist zu sein, und Renan Demirkan mag mich nicht mehr. Es tut mir sehr leid, dass mir so was passiert ist, verprügelt zu werden. Ich entschuldige mich dafür. Ich habe von da an besser aufgepasst.

Wenn ich Jude wäre, dann wären die Prügel, die ich bekommen habe, der Beweis für den wachsenden Antisemitismus. Wenn ich Ausländer wäre, und die Täter wären deutsch gewesen, würden die Prügel den deutschen Rassismus beweisen. Weil ich aber weder das eine noch das andere bin, sind diese Prügel der Beweis für gar nichts. Sie sind kein großes Ding.

Mein Sohn und seine Freunde vermeiden es, bei Dunkelheit in die Nähe des Kottbusser Tores zu gehen. Sie sehen zu deutsch aus.

Die Wahrscheinlichkeit, dass man sein Handy oder sein Geld los wird oder eins in die Fresse kriegt, ist, wie die Jungs sagen, einfach zu groß. Da nimmt man lieber eine andere U-Bahnstation, läuft etwas weiter, kein Ding. Auch bestimmte Klubs meidet man besser, als Blonder. Und wer’s nicht glaubt, soll’s einfach mal ausprobieren.

Die Rassismus-Vorwürfe gegen Heinz Buschkowsky und sein Buch kotzen mich an. Ich rede so drastisch, weil gerade die Erinnerung an diese Ohrfeigen in mir hochgestiegen ist. Klar, ein bisschen demütigend war das schon. Buschkowsky ist kein Sarrazin, man findet bei ihm kein rassistisches Wort. Er mag Menschen.

Natürlich sind „nicht alle so“, natürlich gibt es „soziale Ursachen“, natürlich tun andere Leute auch unschöne Dinge, und so weiter. Alles richtig. Aber wieso fühlen sich eigentlich manche Menschen mit Migrationshintergrund persönlich angegriffen, wenn man Geschichten aus dem Leben erzählt? Für mich ist das so, als fühle sich ein Deutscher persönlich angegriffen, wenn man etwas gegen Neonazis sagt. Da gibt es auch soziale Ursachen.

Ich entschuldige mich nochmals bei allen, die sich durch meine Schilderung verletzt fühlen könnten, und für die Ohrfeigen, die ich von diesen wunderbaren, sympathischen jungen Männern bekommen habe.

Quelle:  Tagesspiegel, 1.10.2012

Islamophobie : mot piège

A l’occasion de notre journée consacrée à l’islamisme radical, vous vous interrogez ce matin sur le mot « islamophobie » qui est apparu dans le vocabulaire politique…

 

Oui, ce mot que l’on entend beaucoup en ce moment pose problème. Il est porteur de confusion et d’instrumentalisation victimaire. Il est apparu en 1979 quand, juste après le renversement du Shah d’Iran, des féministes américaines et des Iraniens opposants de gauche, qui avaient milité pour la révolution et la démocratie, se sont scandalisés des premières décisions sexistes et liberticides du régime de l’ayatollah Khomeini. Ils ont été qualifiés par Téhéran « d’islamophobes ». Mais c’est surtout ces dernières années que le terme a pris sa place dans le débat public. Il devient synonyme de racisme anti-musulman. Il veut établir un parallèle avec l’antisémitisme et, bien souvent, joue sur un sentiment de « deux poids deux mesures ». Comme il y a un antisémitisme qu’il faut combattre, il y aurait une islamophobie qu’il faut combattre. Et c’est vrai que des actes comme la profanation de tombes musulmanes ou la distribution, par des groupes d’extrême droite, d’une aide alimentaire à base exclusive de porc pour les SDF, sont des actions racistes anti-musulmans. Mais le problème c’est que le mot « islamophobie » est utilisé, dans un même élan pour critiquer la lutte contre l’islamisme radical, le blasphème  ou même la volonté de contenir la religion musulmane dans le lit de la laïcité, comme le sont en ce moment, en France, les religions catholique, juive ou protestante. Le mot « islamophobie », loin de lutter contre l’amalgame entre les intégristes islamistes et les musulmans, ne fait que l’alimenter puisqu’il met dans le même sac la lutte contre l’islamisme radical, le blasphème et le racisme anti-musulman.

 

La loi d’interdiction de la burqa a été qualifiée « d’islamophobe » par certains de ses opposants.

 

Oui, et pourtant on peut penser ce que l’on veut de cette loi (qu’elle est inapplicable par exemple) mais ce n’est pas une loi raciste … Ce peut être une loi « islamiste-ophobe », auquel cas il s’agirait d’une phobie justifiée. De même, des organisations qui luttent contre ce qu’ils appellent « l’islamophobie » ont organisé des distributions gratuites de pains au chocolat pour protester contre la tirade de Jean-François Copé. Ça laisse entendre que Jean-François Copé aurait prononcé une phrase raciste, là où il a fait de l’opportunisme politique déplacé. La limite est ténue, c’est vrai, mais Jean-François Copé n’est pas raciste, il a dénoncé ce qu’il considérait être un abus d’intégristes. Seulement il l’a fait en donnant l’impression que l’histoire qu’il racontait était une généralité. Un amalgame blessant pour tous les musulmans, même pour les plus respectueux de la laïcité. Un peu comme certains cachent leur antisémitisme derrière un antisionisme obsessionnel, le fait de considérer, par exemple la question de la viande halal comme un problème majeur en France peut relever d’une obsession qui confine au racisme. On devrait alors parler de dérive « musulmanophobe »  pour être plus précis et ne pas brailler avec les utilisateurs du mot « islamophobie » qui généralement se servent de ce terme pour trouver des excuses à l’islam radical et transformer ses promoteurs en victimes.

Source. Franceinter

How Many Civilians Would Be Killed in an Attack on Iran’s Nuclear Sites?


For Iranians these days, life under economic sanctions is a crescendo of hardships. With the Iranian currency at an all-time low against the dollar, shortages of essential medicines and quadrupling prices of basic goods like shampoo and bread, a sense of crisis pervades daily life. Now Iranians are worrying about one more thing: imminent death from an American or Israeli military strike.



With talk of an attack growing more feverish by the day, the mood in Iran is unsettled as never before. In their fear and worry, Iranians say they feel alone, stuck between a defiant government that clings to its nuclear ambitions and a world so unattuned to their suffering that the fatal consequences of a strike on the Iranian people has so far been totally absent from the debate. “We are close to reliving the days of the Iran-Iraq war, soon we will have to wait in line for everyday goods,” says a 60-year-old, middle-class matron from Tehran. “Things are getting worse by the day,” says a 57-year-old Iranian academic preparing to emigrate to North America. “It is better to get out now while it’s still possible.”


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While Iranians are increasingly fretful of an imminent attack, they remain broadly unaware of just how devastating the human impact could be. Even a conservative strike on a handful of Iran’s nuclear facilities, a recent report predicts, could kill or injure 5,000 to 80,000 people. The Ayatollah’s Nuclear Gamble, a report written by an Iranian-American scientist with expertise in industrial nuclear-waste management, notes that a number of Iran’s sites are located directly atop or near major civilian centers. One key site that would almost certainly be targeted in a bombing campaign, the uranium-conversion facility at Isfahan, houses 371 metric tons of uranium hexafluoride and is located on the city’s doorstep; toxic plumes released from a strike would reach the city center within an hour, killing or injuring as many as 70,000 and exposing over 300,000 to radioactive material. These plumes would “destroy their lungs, blind them, severely burn their skin and damage other tissues and vital organs.” The report’s predictions for long-term toxicity and fatalities are equally stark. “The numbers are alarming,” says Khosrow Semnani, the report’s author, “we’re talking about a catastrophe in the same class as Bhopal and Chernobyl.”


Beyond those initially killed in a potential strike, the Iranian government’s lack of readiness for handling wide-scale radiation exposure could exponentially raise the death toll, Semnani says. His study, published by the University of Utah’s Hinckley Institute of Politics and the nongovernmental organization Omid for Iran, outlines Iran’s poor record of emergency response and notes that its civilian casualties from natural disasters like earthquakes have been far greater than those suffered during similar disasters in better prepared countries like Turkey. With virtually no clinical capacity or medical infrastructure to deal with wide-scale radioactive fallout, or early warning systems in place to limit exposure, Iran would be swiftly overwhelmed by the aftermath of a strike. The government’s woeful unpreparedness remains unknown to most Iranians. “This issue is a redline, the [Iranian] media can’t go near it,” says Jamshid Barzegar, a senior analyst at BBC Persian. “To talk about this would be considered a weakening of people’s attitudes. The government only speaks of tactics and resistance, how unhurt Iran will be by an attack.”


But if the aftermath of a war remains murky to most Iranians, their anticipation of its inevitability is growing. The commander of Iran’s Revolutionary Guards, Mohammad Ali Jafari, told Iranians last week that “we must all prepare for the upcoming war.” His warning, the bluntest yet by a senior official, that Iran and Israel would enter a “physical conflict,” has raised expectations of an attack among Iranians, who are typically accustomed to dismissing such talk. When reformist MP Mohammed Reza Tabesh criticized Jafari’s remarks in parliament, the hard-line majority shouted him down with cries of “Allahu Akbar.” “When people see their top military commander and officials speaking of the inevitability of war, the belief sinks in,” says Barzegar.


Whether Iranian officials actually think Israel is closer to launching an attack than it has been in the past, or their readiness rhetoric is meant to convey their own unflappability, the Iranian public is left with greater uneasiness and less real information than ever. Sterile media speculation in Israel and the U.S. ignores the question of civilian casualties, portraying an attack on Iran as a tidy pinpoint strike like those Israel has carried out against Iraq and Syria. Iran, for its part, claims the number of casualties it might sustain will be tolerable. “Hawks on both sides, Israel and the United States, and Iran, want to underplay the level of casualties,” says Ali Ansari, an Iran expert at Scotland’s University of St. Andrews. “But both sides are wildly wrong, there will be quite devastating consequences. It will be a mess.”


Clarification: The original version of this story said that a report estimated that a strike on the nuclear facilities in Isfahan would result in the deaths of as many as 70,000 people. The report’s author says the estimate is that such an assault may kill or injure 70,000 people.



Source: Time