Bombenterror gegen jüdische Gemeinde – nach 30 Jahren packt der Täter aus



Rundfunk
Berlin-Brandenburg / Kontraste – Sendung
Beitrag vom
10.11.2005

Bombenterror gegen jüdische Gemeinde nach 30
Jahren packt der Täter aus

Vor 36 Jahren legte ein Mitglied der linken radikalen Gruppierung
,,Tupamaros West-Berlin” eine Bombe in das jüdische Gemeindehaus in
Berlin. Sie sollte während der Gedenkfeier zur Pogromnacht am 9. November 1969
gezündet werden, doch der Sprengsatz explodierte nicht. Zum ersten Mal stellt
sich der Bombenleger von damals den
Fragen zu
seinen Motiven. Steffen Mayer und Susanne Opalka begeben
sich auf Spurensuche.

Gestern Abend gedachte wie in jedem Jahr die Jüdische
Gemeinde in Berlin der Pogrom-Nacht vom 9. November 1938. Der Nacht, als die Synagogen brannten, als SA und
SS und ihre
Helfer ihre mörderische Jagd auf Juden machten. Am 9.
November 1969 wurde in der Jüdischen Gemeinde in Berlin eine Bombe gelegt.
Nicht von Rechtsextremen. Steffen Mayer und Susanne
Opalka erinnern an ein beschämendes Kapitel
verdrängter linker
westdeutscher Geschichte.

9. November 1969. Das Haus der Jüdischen Gemeinde in
West-Berlin.
Kurz vor der Gedenkveranstaltung schmuggelt ein linksradikaler Terrorist eine Bombe ins Gebäude.

Das ist
der Bombenleger: Albert Fichter, heute 61 Jahre alt. Er spricht das erste Mal vor der Kamera.

Albert Fichter

,,Das
Wichtige mit dem Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus ist ja, dass damit ein
Tabu gebrochen worden ist. Dafür bin ich besonders in Verantwortung jetzt zu
nehmen. Deswegen will ich das jetzt auch öffentlich eingestehen, dass das einer
der größten Fehler meines Lebens war.”

Am 9. November 1969 sind im Jüdischen Gemeindehaus 250 Gäste
versammelt. Darunter: der Berliner Bürgermeister und der
Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Heinz
Galinski.

Der Zeitzünder hätte die Bombe genau während der Gedenkveranstaltung
gezündet. Doch sie explodiert nicht. Der
Sprengsatz im Gemeindehaus wird erst
am
nächsten Tag in einem Getränkeautomaten entdeckt. Die Polizei
entschärft ihn auf einem Sprengplatz. Die Zündkapsel
der Bombe war zu alt, deswegen konnte sie nicht explodieren. Der Zeitzünder
aber hatte ausgelöst. Ruth Galinski, die Witwe des Vorsitzenden der jüdischen
Gemeinde war damals auf der Gedenkveranstaltung. Sie wäre möglicherweise ein
Opfer des Anschlages geworden.

Ruth Galinski

,,Ich weiß nicht, was in den Köpfen dieser Menschen
vorgeht, das ist reiner Mord, an und für sich. Es ist Mord und da wollten sie
ein Symbol setzen, an diesem Tag sind sie
die Helden, die die Juden wieder
umgebracht haben, so stell ich es mir
vor.”

Ausgerechnet an einem Gedenktag für die ermordeten Juden
sollten Holocaust-Überlebende in die Luft gesprengt werden. Das hat in ihr die
schlimmsten Erinnerungen geweckt:

Ruth
Galinski

,,Das war
Entsetzen und Wut und Traurigkeit dabei auch.”



KONTRASTE

Worüber?”



Ruth Galinski

,,Wut, dass es das an dem Tag und
auch heute noch gibt.

Er wollte niemanden töten, sagt Albert Fichter. Er hätte
schon vorher genau gewusst, dass die Bombe nicht explodieren kann.

Albert Fichter

,,Mir war
das klar, dass nie jemand davon irgendwie körperlichen Schaden genommen hätte,
weil das Ding würde nie explodieren, das war mir klar, weil ich hatte die Bombe
früher schon mal auseinander genommen, in
einem ganz anderen Zusammenhang.”

Angeblich wollte er mit einer Bombenattrappe nur ein
Zionistentreffen
bedrohen.

Albert Fichter

,,Damals in meinem verrückten Bewusstsein,
das damals existiert hat, da glaubte ich wohl daran, dass das richtig gewesen
wäre. Es wäre ja nur ein
Psychoschock gewesen. Das Ding wäre ja nie hochgegangen.”

Davon wussten seine Mittäter aber nichts. Sie hatten fest
mit einer Explosion gerechnet. Sie wollten töten. Sie nannten sich Tupamaros
Westberlin. Albert Fichter war damals Mitglied dieser ersten
linksradikalen Untergrundgruppe. Der Boss der Gruppe:
Dieter
Kunzelmann. Er äußert sich bis heute nicht
dazu.

Wolfgang Kraushaar ist Historiker am Hamburger Institut
für Sozialforschung. In kriminalistischer Kleinarbeit hat er den Anschlag
von damals recherchiert.

Wolfgang Kraushaar, Historiker

,,Die Tupamaros Westberlin sind die erste klassische Untergrundgruppierung
der radikalen Linken gewesen, am Ende der 60er Jahre. Ein halbes Jahr vor
Gründung der RAF bereits ins Leben gerufen.
Man kann dies daran erkennen, dass sie aus geheim gehaltenen Wohnungen heraus
operiert haben, dass sie Decknamen
benutzt haben und dass viele ihrer
Mitglieder Waffen trugen.”

Schon in der Nacht vor dem versuchten Bombenanschlag auf
die
jüdische Gedenkveranstaltung hatten die
Tupamaros Gedenkstätten
beschmiert.

Am Abend des 9. November legen sie ein Bekennerschreiben
mit dem Titel ‚Schalom und Napalm’ aus. Darin bezeichnen sie die Opfer des
Holocaust als Faschisten:

Zitat:

,,Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst
Faschisten
geworden, die … das palästinensische Volk ausradieren
wollen.”

Die Tupamaros übernehmen die Verantwortung für die
Schändung der Gedenkstätten und den versuchten Bombenanschlag. Die Aktionen
seien

Zitat:

„… ein entscheidendes
Bindeglied internationaler sozialistischer Solidarität.”

Sozialisten bedrohen Juden mit Bomben? Wie konnte es dazu
kommen? Links sein hieß auch für die Palästinenser sein – und gegen
Israel

Wolfgang Kraushaar, Historiker

,,Es wird
immer wieder deutlich gemacht, dass man gegen Israel sei, weil Israel als Vorhut des großimperialistischen
Staates USA begriffen worden ist. Und man hat gleichzeitig sich keiner weiteren
Gedanken
und Reflexionen über die deutsche Vergangenheit bemüßigt
gesehen,”

Sogar das Existenzrecht Israels wurde in Frage gestellt.
Die Parole: Zionismus gleich Rassismus. Fakten interessierten nicht. Das
Weltbild
der radikalen Linken ist antisemitisch – so der Publizist Henryk
M. Broder.

Henryk M. Broder, Publizist

,,Das ist
erschreckend, weil: diese Haltung galt ja nicht nur gegenüber Israel. Gegenüber
Israel war sie am meisten pointiert, am meisten profiliert, am klarsten aus diesem braunen Holz geschnitzt. Aber die
gleiche Realitätsverweigerung gab
es auch
gegenüber der Sowjetunion
oder
gegenüber China oder gegenüber der eigenen Geschichte, also
Realitätsverweigerung war sozusagen der Boden auf dem
sich das alles
abspielte,

Gefangen in ihrer Ideologie erklärt sich eine kleine
Splittergruppe zur Avantgarde. Die meisten ihrer Mitglieder wurden durch die
Ereignisse
in Berlin radikal.

Schahbesuch. 2. Juni 1967, Außerparlamentarische Opposition
und
Studentenbewegung protestieren, Persische
Agenten verprügeln
Demonstranten. Am Abend erschießt ein Polizist
Benno Ohnesorg,
einen unbeteiligten Studenten. Viele Linke
fühlen sich fortan von der
Staatsmacht bedroht.

Albert Fichter

,,Benno Ohnesorg ist auch mehr oder minder hingerichtet
worden, in
Vertretung für die ganzen protestierenden Studenten ~ so hat man
das empfunden, dass man das nächste Mal
selber fällig ist,
so ungefähr. Das hat
zur Radikalisierung beigetragen,”

Die Stimmung ist geladen, immer mehr Demonstrationen
eskalieren. Der Protest wird zunehmend gewalttätig. Das Attentat auf Rudi
Dutschke, die Stimme der Studentenbewegung, ist für Fichter
ein traumatisches Erlebnis.

Kurz darauf wird Fichter Mitglied der Kommune 1 um Dieter
Kunzelmann, Rainer Langhans und Fritz Teufel. Happening und Aktion stehen im
Vordergrund. Doch der harte Kern wird schließlich immer
radikaler.

Eine kleine Gruppe um Kunzelmann fährt zur Kampfausbildung
nach
Jordanien. In ein Trainingslager der
palästinensischen Terrorgruppe Al Fatah. Fichter ist dabei. Ausbildung an
Waffen und Sprengstoff. Sie
treffen Jassir Arafat.

Zurück in Berlin geht die Gruppe sofort in den Untergrund.
Nennt sich jetzt Tupamaros Westberlin, versteckt sich in einer geheimen Wohnung
und plant Anschläge.

Albert Fichter

,,Man sieht die ganze Umwelt als Feind, sich selber als Opfer oder missverstanden,
die ganzen Perspektiven werden verschoben. Man ist
ja in der
Illegalität, das bedeutet ja, dass man irgendwie ein schlechtes Gewissen hat,
sich versteckt, nicht offen argumentiert wie früher, sondern man hat gesagt,
das bringt nichts, jetzt müssen wir Aktion machen.”

Die Waffen und Bomben für die Aktionen bekommen sie von
Peter
Urbach, einem Freund Kunzelmanns. Später stellt
sich heraus, Peter Urbach ist vom Verfassungsschutz. Er ist als Spitzel und
agent
provocateur in die Szene eingeschleust. Die
freut sich über seine Waffenlieferung, So kommen die Bomben in die geheime
Wohnung.

Albert Fichter

,,Als wir
dort waren, ist der Urbach dann später erschienen mit seinem Waffenarsenal,
aber er hatte das Wissen, wo wir waren, er hätte die Polizei warnen können, der Blödsinn wäre nie gelaufen.

Bis heute ist es nicht möglich, die Rolle des
Verfassungsschutzes bei dem Bombenanschlag zu klären. Die Akten sind noch über
20 Jahre
gesperrt. Die
Polizei hatte damals die Tatverdächtigen schnell ermittelt, wusste,
dass Fichter dabei
war. Der Leiter der zuständigen Sonderkommission war Wolfgang
Kotsch.

Wolfgang Kotsch, Kriminalhauptkommissar i. R,

,,Mit einem so genannten Schlussbericht haben wir
also der
Staatsanwaltschaft unsere Ermittlungsergebnisse, das heißt also
die Zeugenbefragungen und die Beweismittel von der Kriminaltechnik überwiesen.
Und nun war
es an der Staatsanwaltschaft, jetzt Anklage zu erheben.”

KONTRASTE

,Ist denn Anklage erhoben worden?”

Wolfgang Kotsch, Kriminalhauptkommissar i, R,

Soweit ich
weiß, nicht.”

KONTRASTE

vHaben Sie irgendeine Erklärung dafür?”

Wolfgang Kotsch, Kriminalhauptkommissar i. R.

vHabe ich
nicht.

Niemand wurde angeklagt für den versuchten Anschlag auf die
jüdische Gemeinde. Der damals zuständige
Staatsanwalt will sich dazu
auch heute nicht äußern.
Es bleibt ein böser Verdacht.

Wolfgang Kraushaar, Historiker

Es hätte
auf jeden Fall einen großen Ansehensverlust der Bundesrepublik bedeutet, dass von staatlicher Seite die Mittel beigesteuert worden sind, um diesen Anschlag auf
das Jüdische
Gemeindehaus zu verüben.

Für Albert Fichter war der Staatsanwalt weniger gefährlich
als der Kopf
der Gruppe: Dieter Kunzelmann. Denn nach dem
Scheitern des Anschlages kommt es in der Gruppe zum Eklat: Fichter wirft
Kunzelmann vor, ihn eingespannt zu haben für eine antisemitische
Aktion.

Albert Fichter

,,Als ich die Züge entdeckt habe beim
Kunzelmann, da bin ich natürlich
aufgestanden und habe gesagt: Du bist ein Judenhasser, du
bist ein
Antisemit, du hast mich da an der Nase
herumgezogen‘ und da hat er reagiert und hat
dann aus dem Hosenbund die Pistole gezogen und mir an die Schläfe gesetzt”

Albert Fichter flieht ins Ausland. Für ihn ist der
bewaffnete Kampf beendet.

Die Linke und der Antisemitismus. Bis heute haben sich die sonst so wortgewaltigen 68er eher wortkarg zu diesem Kapitel ihrer eigenen Geschichte geäußert.

Beitrag von Steffen Mayer und Susanne Opalka