Bilder und Moral in Vietnam und in der Ukraine

Die moralische Kraft der Bilder  in Vietnam und in der Ukraine

Warum ist die Reaktion zum US-Krieg gegen Vietnam in den Sechzigern anders als die Reaktion in den Zwanzigern bezüglich des Krieges in der Ukraine?

Es sind die Bilder. Journalisten waren in Vietnam, anders als später im Irak oder in Afghanistan, noch nicht „embedded“, also noch nicht unter direkter Kontrolle der Militärs. Sie konnten sich noch relativ frei bewegen und relativ frei ihre Berichte und Fotos machen. Insbesondere die Bilder der Folgen der US-Bombenangriffe und anderer Kriegsverbrechen, wie die in My Lai, erzeugten moralische Abscheu. Antiimperialisten gelang es diese moralische Abscheu, die sich in den Universitäten und in der Bevölkerung verbreiteten, in Antikriegsaktivitäten zu lenken. Das bedeutete aber nicht, dass die Mehrheit der Antikriegsgegner die Natur des Imperialismus theoretisch durchdrungen hatte. Nachdem der Krieg beendet war, der moralische Protest damit obsolet war, wurde die US-Außenpolitik geostrategisch so weitergemacht, als ob es den Vietnamkrieg gar nicht erst gegeben hätte. Kriege in Jugoslawien, Irak, Afghanistan, und Regimechangeoperationen in Syrien und Libyen folgten ohne große Proteste.

Auch im Ukrainekrieg sind es die Bilder. Jeden Tag wird von den Folgen des Krieges berichtet und es bildet sich, wie im Falle Vietnams, moralische Abscheu, diesmal nicht gegen die USA, sondern gegen Russland, obwohl die USA sozusagen mitschießen, da sie eindeutig Partei im Konflikt sind. Nicht umsonst wird vom Proxy War, also vom Stellvertreterkrieg gesprochen. Anders als im Irakkrieg sind die Medien in der Ukraine nicht „embedded“, es sind ja keine Gis involviert, sie sind aber auch nicht frei wie im Vietnamkrieg, sondern sie beschränken sich in ihrer Berichterstattung auf eine Seite, sie haben von vornherein Partei ergriffen. Deutlich wurde das bereits mit der Darstellung der Maidan-Ereignisse und des illegalen Regimechange in Kiew 2014. Von der Rebellion der von der neuen Regierung diskriminierten russischsprachigen Bevölkerung im Donbas und der Krim wurde kaum oder sehr einseitig berichtet. Insbesondere wurden keine Opferbilder oder Berichte produziert, die durch den militärischen Kampf gegen die Rebellen entstanden sind. Westliche Medien ignorierten die Leiden der Rebellenrepubliken, die sich auf ca. 14000 Tote aufsummierten. Kriegerische Auseinandersetzungen begannen also bereits 2014, für die Konsumenten der westlichen Medienberichterstattung aber erst mit der russischen Invasion 2022. Der moralische Protest richtete sich quasi automatisch, bzw. von interessierter Seite gelenkt, gegen den angeblich „unprovozierten Aggressor“. Eine Analyse der geostrategischen Interessen der am Krieg direkt und indirekt Beteiligten wird nur in bislang einflusslosen Zirkeln geleistet. 

In beiden Fällen, in Vietnam und in der Ukraine, spielt also die Moral eine äußerst wichtige Rolle. Der Protest blieb aber in beiden Fällen in der Moral stecken. Die den Kriegen zugrundeliegenden geostrategischen und Profitinteressen blieben bzw. bleiben außen vor. Diese Interessen müssen analysiert werden. Nur dann können Wege gefunden werden, an wen welche Forderungen gestellt werden müssen. 

Günter Langer, 28.5.2023

Compliance-Regeln

von Günter Langer

Compliance

In Sachen Habeck-Filz wird von Grünen und ihren Medientrolls davon fabuliert, die Compliance-Regeln seien nicht vollständig eingehalten worden, ohne zu erklären, was diese Regeln beinhalten. Als des Englischen einigermaßen mächtig (25 Jahre Englischlehrer) und als politisch ebenfalls einigermaßen Interessierter (Obama-Wahlhelfer und drei Jahre Präsident einer Home Owner Association in Florida) kramte ich in meinem Gedächtnis, ob ich diesem Terminus früher schon einmal begegnet bin. Fehlanzeige.

Es hieß, der Minister sei von einem seiner Untergebenen über Bekanntschafts- und Verwandtschaftsgrade von Bewerbern für hochdotierte Jobs in dessen „Wärmewende-“ Arbeitsbereich im Wirtschaftsministerium nicht transparent genug unterrichtet worden. In gutem Deutsch hätte man auch artikulieren können, die normalen Bewerberverfahren seien nicht korrekt eingehalten worden. Was also bedeutet „compliance“? Langenscheid  übersetzt „to comply“ mit „Regeln befolgen“, bzw. „Regeln einhalten“, mit anderen Worten der Begriff „Compliance-Regeln“ bedeutet also die „Befolgung von Regeln“.  Da dieser Begriff keinerlei Hinweis darauf gibt, was für Regeln das sein könnten, ist er so gebraucht also sinnlos. 

Da in diesem Zusammenhang auf die normale Sprache verzichtet wurde, die normal gebildete Bürger verstehen, liegt der Verdacht nahe, dass mit der Wahl dieser eher kryptischen Sprache, die niemand versteht, irgend etwas bezweckt wird. Soll der Vorgang vielleicht harmloser aussehen, als er ist? Wenn niemand versteht, worum es eigentlich geht und nur irgendeine unwichtige bürokratische Regel nicht eingehalten wurde, kann es eigentlich nichts Schlimmes gewesen sein, jedenfalls nicht so etwas wie Filz, Korruption oder persönliche Bereicherung. Orwell hätte mit diesem Sprachgebrauch sicher auch seine Freude gehabt. Schwarz ist weiß, Krieg ist Frieden….

25.5.2023

Meine Weihnachtslektüre – Kampf um Hegemonie

Weihnachtslektüre 2023 – Kampf um Hegemonie

1. Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie – Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Scherpe Verlag Krefeld, Erstauflage 1948
2. Klaus von Dohnanyi, National Interessen – Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche, Siedler Verlag, München 2022
3. Wolfgang Gehrke/Christiane Reymann (Hg.), Ein willkommener Krieg? – NATO, Russland und die Ukraine, PapyRossa Verlag, Köln 2022
4. Oskar Lafontaine, Ami, It’s Time to Go!, Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas, Westend Verlag, Frankfurt/M 2022
5. Ray Dalio, Principles for Dealing with the Changing World Order – Why Nations Succeed and Fail, Avid Reader Press, New York 2021

Am 24. Februar 2022 habe es eine Zeitenwende gegeben, proklamierte am selben Tage der deutsche Bundeskanzler. Als Grund nannte er militärische Verbände, die eine international anerkannte Staatsgrenze ohne Erlaubnis überquert hätten. Niemand bestreitet diesen Vorgang. Allerdings diesen Fakt als Zeitenwende zu deklarieren, muss als äußerst fragwürdig angesehen werden, da derartige interstaatliche Aktionen häufig stattfinden. Erinnert sei an Saudi-Arabiens Überfall auf den Jemen, auf den Überfall Aserbaidjans auf Armenien, auf die türkischen Militäraktionen im Irak und im Nordosten Syriens zur gleichen Zeit. Niemand ist in diesen Fällen die Vokabel Zeitenwende eingefallen, obwohl es dort ungleich mehr Tote zu beklagen gibt als in der Ukraine. Daraus kann man schlussfolgern, dass nicht die Anzahl der Verluste oder Gräueltaten ausschlaggebend ist, die die Qualität einer Wende ausmacht. Aber was dann?

Die fünf o.g. Bücher geben indirekt eine Antwort auf diese Frage, eine negative. Es geht nicht um die Anzahl von Opfern, es geht um Herrschaft, um Macht und Hegemonie. Es geht um die Frage, wer die internationale Ordnung regulieren kann, ob im Fall der Ukraine sich Russland dem bisherigen Hegemon gefällig erweist. Die „militärische Spezialoperation Z“ war dazu das „Njet“ aus Moskau. So gesehen lag Herr Scholz völlig falsch mit seiner Begrifflichkeit. In einer wirklichen Zeitenwende gäbe es einen Wechsel der Macht zwischen den Großmächten. Der wird zwar allseits angestrebt, ist aber bislang keineswegs erfolgt. Scholz hat das vermutlich nicht bedacht. Für ihn ging es schlicht um Parteinahme für den derzeitigen Hegemon, ob freiwillig oder gezwungen ist dabei egal.

Der US-Investmentbanker Ray Dalio untersucht die geschichtsmächtigen Faktoren für das Auf und Ab von Imperien der letzten 400 bzw. 2000 Jahre. Insbesondere interessiert ihn dabei das Schicksal des jeweiligen Hegemons, wobei er derzeit ein Patt zwischen China und den USA sieht. Anders als ehemalige Hegemone wie Großbritannien, die direkt militärische Eroberungen vornahmen, kontrollieren die USA eher durch Belohnungen und Drohungen, abgesehen von den Militärbasen in mehr als 70 Ländern. Dalio reiht sich ein in eine Vielzahl von US- und anderen englischsprachigen Autoren, die alle vom „American Empire“ als einer Hegemonialmacht ausgehen, die sich mehr und mehr in Rivalität oder sogar bereits in Feindschaft mit China befindet.
So auch der deutsche Exminister und Bürgermeister Klaus von Dohnanyi. Der Sozialdemokrat sieht sich politisch in der Tradition von Willy Brandt und Helmuth Schmidt. In seinen historischen Betrachtungen beruft er sich nicht etwa auf Marx, Bebel usw., sondern auf den Historiker Ludwig Dehio, der sich selbst als Ergänzer Leopold von Rankes begreift. Nach Ende des letzten deutschen Hegemonialstrebens 1948 sah Dehio bereits eine gewisse Kontinuität des Verhältnisses Zwischen Russland und den USA, wobei China und die „Farbigen“, so bezeichnete er das was später als Trikont, als Dritte Welt, benannt wurde, sich auf dem Weg zu ihrer „General-Emanzipation“ dem kommunistischen Russland zuneigten.

Klaus von Dohnanyi kann inzwischen davon ausgehen, dass es nunmehr hauptsächlich um die Rivalität zwischen China und den USA geht, und Russland längst ins Hintertreffen geraten ist. Worauf der Name seines Buches hinweist, ist sein Hauptargument. Jedes Land, jede Nation hat eigene Interessen, die „wir verstehen müssen“ und die es zu berücksichtigen gilt. Er unterscheidet dabei souveräne Länder und nicht-souveräne. „Deutschland und Europa sind heute in Fragen der Sicherheit und der Außenpolitik nicht souverän. Es sind die USA, die hier in Europa die Richtung vorgeben.“ Und weiter: „Auf dieser Grundlage ziehen sie uns in ihre Konflikte mit den anderen Weltmächten hinein,“ also Russland und China. „Die Interessen der USA sind immer hart geopolitisch, ökonomisch und tief verwurzelt in ihrem Selbstverständnis als ‚exceptional nation‘, also als einzigartige Nation.“ Wobei es zu erkennen gelte, „dass es schon seit dem 19. Jahrhundert eine imperialistische Grundlinie US-amerikanischer Außenpolitik gibt. Adenauer und de Gaulle hatten das schon frühzeitig erkannt.“ Und: „Wir Europäer sind Objekt US-amerikanischen geopolitischen Interesses und waren niemals wirklich Verbündete.“ Das Ziel der US-Außenpolitik sieht Dohnanyi erklärtermaßen darin, die „einzige Weltmacht“ zu bleiben. Europa soll dazu gezwungen werden, als Juniorpartner dabei mitzuhelfen. Dieser auch von Biden verfolgte Kurs „ist gefährlich für Europa und die Welt.“ Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis kommt Dohnanyi auf den auch von Dehio verehrten Leopold von Ranke zurück, den er zitiert: „In der Natur vorwaltender Mächte liegt es nicht, sich selbst zu beschränken: die Grenzen müssen ihnen gesetzt werden.“ Anstatt nun zu diskutieren, wie der „exceptional nation“ Grenzen gesetzt werden können, verliert er sich in gerade auch deren Ziele, wenn er meint, „Europa darf Russland … nicht an China verloren geben.“

Positiv sind Dohnanyis Zusammenfassungen der neueren und älteren Literatur zu den Interessen der Mächte, insbesondere der von Russland, China, Europa, den USA und der NATO. In Bezug auf das vieldiskutierte Völkerrecht meint er, die USA könnten sich am wenigsten darauf berufen, denn die USA erkennen einige Institutionen im Rahmen des Völkerrechts wie den Haager Gerichtshof nicht an und haben etliche Male militärisch andere Länder angegriffen bzw. überfallen, inklusive des völkerrechtswidrigen „targeting killing“ per Drohnen. Inwiefern „Wirtschaftskriege“, darunter „Wirtschaftssanktionen“, mit dem Völkerrecht vereinbar sind, untersucht er nicht. In Bezug auf Nordstream 2 fragt er nur, noch bevor die Pipelines gesprengt wurden, was die USA es angeht, sich in ein europäisches Projekt einzumischen. Das gleiche gilt für die Sanktionen gegen Kuba. Die Differenz zwischen Europa und den USA fasst er so zusammen: „Europa will Frieden, die USA wollen Macht.“

Nach all den Beschreibungen der US-Interessen bleibt er allerdings inkonsequent in der Behauptung, Europa würde „durch die NATO geschützt“. Und: „Die NATO heute aufzukündigen wäre ein gefährlicher Fehler,“ obwohl er auch da noch konzedieren muss, dass „über Krieg oder Frieden in Europa letztlich von den USA“ entschieden werde. Die NATO ist demnach auch in seinen Augen nur ein Instrument der US-Interessen. Von daher sind seine Argumente zum Verbleib in der NATO äußerst fragwürdig. Sie können eigentlich nur erklärt werden mit seinem Verbleib in inner-imperialistischer Sichtweise. Er macht sich Gedanken, wie Europa „eigene militärische Potenz aufbauen“ kann, um „in Regionen außerhalb Europas friedensstiftende Aufgaben wahrnehmen zu können.“ Afghanistan, Mali, Syrien usw. lassen grüßen. Als Mitglied in der NATO wird es demnächst nicht bei der Beteiligung in der Ukraine gehen, sondern auch bald bei Konflikten im pazifischen Raum, um China zu begegnen. Ferner meint auch er, Russland würde sich in Europa nur wegen der NATO „zurückhalten“ und anderen militärischen Bedrohungen wie Terror und Cyberattacken sei auch vorzubeugen. Sein Plädoyer für Entspannungspolitik im Brandtschen Sinne bleibt auch deshalb hohl, weil er nicht erklären kann, wie der US-Maschine „Grenzen“ gesetzt werden können.

Im Weiteren beschreibt er detailliert, warum die Europäische Union eine „deutsche Aufgabe“ sei. Zu beachten sei „The Quest for Self-Determination“, also das Selbstbestimmungsrecht als Basis der Demokratie, die ohne Legitimität nicht überleben könnte. Die EU dürfe deshalb kein Bundesstaat werden, sondern müsse ein Staatenbund bleiben. Darüber hinaus diskutiert er die Öffnung der Wirtschaftsmärkte hin zur Globalisierung und des Neo-Liberalismus, und in deren Folge eine Neubestimmung nationaler Interessen. „Wer Deutschlands ökonomische Entwicklung behindert, zerstört die EU“, ist ein Kernsatz. Das zu sehen sei die Beachtung nationaler Interessen, aber kein Nationalismus. Wenn Staaten die negativen Nebeneffekte der Globalisierung nicht durch sozialpolitische Maßnahmen abfedern, komme es als Folge zu Erscheinungen des Populismus, wie bei Trump. Für Deutschland gilt daher: „Der Sozialstaat im Verbund mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft – das ist auch heute im Kern deutsch Identität und deutsches Interesse“.

Trotz all der realistischen, wenn auch stark verkürzten, Beschreibungen der Weltlage, kann er sich nicht lösen von einer naiven Vorstellung einer friedensstiftenden transatlantischen Gemeinschaft. Die NATO und die EU müsse eine aktive Entspannungspolitik gegenüber Russland „einleiten“ und es von China lösen. Allerdings betont er noch einmal Willy Brandts Diktum: „Ostpolitik beginnt im Westen“, also gegenüber den USA. Und es gelte „anzuerkennen, dass es keine Freundschaften zwischen Völkern und Staaten gibt, sondern nur harte Interessen.“

Der andere alt-sozialdemokratische Matador, Oskar Lafontaine, hat sich von Dohnanyis Inkonsequenz lautstark verabschiedet: Wenn es eine Weltmacht gibt, die auf Teufel komm raus, „einzige Weltmacht bleiben will und deshalb Kriege führt, kann niemals ein Verteidigungsbündnis anführen!“ Und: „Die NATO ist nichts anderes als ein geopolitisches Instrument der USA, einer Macht, die zur Durchsetzung ihrer Interessen in aller Welt verdeckte Kriege, Wirtschaftskriege, Drohnenkriege und Bombenkriege führt.“ Für ihn steht außer Frage, wer die Pipelines Nordstream 1 und 2 gesprengt hat. Antwort: „Dieses Bestreben der USA, die einzige Weltmacht zu sein und keinen ernsthaften Rivalen aufkommen zu lassen, bestimmt die weltpolitische Lage. Wer etwas anderes sagt, belügt die Leute, täuscht sie oder täuscht sich selbst.“ Die Sprengung der Pipelines sei „eine Kriegserklärung an Deutschland“. Lafontaine versteht wie seinerzeit die 68er den Charakter der US-Politik in der Kontinuität des aggressiven Vorgehens, in den „mörderischen Kriegen in Korea, Vietnam, Laos, Kambodscha, Irak, Jugoslawien, Afghanistan, Syrien und Libyen“. Die Europäer, allen voran Deutschland, sind für ihn reine „Vasallen“, die die „aggressive US-Außenpolitik alle mittragen“. Der Ukraine-Krieg ist für ihn folgerichtig kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine, sondern „ein Stellvertreterkrieg“ zwischen den USA und Russland. Warum sehen das so wenige? Weil „das Pentagon jede Lüge verbreiten kann – und die westlichen Medien sie alle schlucken“.

Die Reaktion der deutschen Politiker ist für Lafontaine völlig inakzeptabel. Scholz sei „mutlos“ und Bearbocks Sprache („Russland ruinieren“) sei „faschistisch“, und Strack-Zimmerhin spricht praktisch nur für die Interessen der Großfirma in ihrem Wahlkreis, Düsseldorf 1, den Rüstungskonzern Rheinmetall. Wie auch Dohnanyi wendet sich Lafontaine gegen den Vorwurf „der US-Vasallen“ ein Nationalist oder „Anti-Amerikaner“ zu sein. Es gehe schlicht darum, „eine Abwanderung europäischer Betriebe in die USA und der enormen Verteuerung der Energiepreise in Europa in der Folge des Ukraine-Krieges und der von den USA vorgegebenen Sanktionen, die Europa und vor allem Deutschland schaden“, zu verhindern. Selenskyi, der von einem Oligarchen ins Amt gehievt wurde, und Biden, der zusammen mit seinem Sohn Hunter in krumme Geschäfte in der Ukraine verwickelt ist, sind für ihn korrupte Politiker, die sich mit den Bandera-Faschisten gemein machen. Überhaupt muss geschlussfolgert werden, dass wir in einer Welt des „Oligarchen-Kapitalismus“ leben, der „notwendigerweise zum Krieg führt“. Als Lösung für den Ukraine-Konflikt verweist er auf den Vorschlag von Otto Schily, der der Ukraine ein Schweizer Modell vorschlägt mit autonomen Kantonen und international verbriefter Neutralität. Und: „Wir brauchen ein Europa, das seine eigene Politik formuliert und das sich nicht in die Auseinandersetzung der atomaren Supermächte hineinziehen läßt. Das gilt für die drei derzeitigen Großmächte, Russland und China.“

Für die Aufsatzsammlung „Ein willkommener Krieg?“ hat Oskar Lafontaine das Vorwort geschrieben, in dem er kurz und knapp die USA, Russland und die Ukraine als „Oligarchen-Systeme“ bezeichnet, „die alle nach den gleichen Regeln spielen.“ Welche das genau sind, lässt er hier offen. An der Grenze zu den USA, also in Mexiko oder Kanada, stehen keine russischen Truppen, wohl aber rund um Russland NATO-Truppen. Der wichtigste Satz hier: „Es ist nicht das Recht eines Landes, an der Grenze einer Atommacht, die mit anderen Atommächten rivalisiert und auf eine Zweitschlagskapazität angewiesen ist, Atomraketen einer anderen Macht ohne Vorwarnzeiten aufzustellen.“ Die Monroe-Doktrin erwähnt er hier nicht, wohl aber die Kuba-Krise von 1962.

Die insgesamt 16 Autoren beleuchten unterschiedliche Aspekte des Ukraine-Dramas, wobei keiner die Z-Kampagne als berechtigt ansieht. Gehrcke und Reymann informieren uns, dass in der Ukraine „alles, was Kiew für kommunistisch hält, unter Strafe von fünf bis zehn Jahren Gefängnis“ steht. Sevim Dagdelen geht davon aus, dass „die NATO nunmehr offen einen Proxy-War, einen Stellvertreterkrieg, in der Ukraine gegen Russland“ führt, der „in letzter Instanz auf den neuen Hauptfeind China“ zielt. Sie befasst sich u.a. auch mit den Kosten für die Ukraine-Unterstützernationen, wobei sie auch Japan erwähnt, das sich inzwischen auf dem Weg zum Billiglohnland befindet, wo z.B. „ein in Tokio ansässiger Softwareingenieur jetzt 30% billiger als einer in Vietnam“ ist.
John Neelsen bezieht sich auf eine Studie der RAND-Corporation von 2017, in der beschrieben wird, dass es um die „Einkreisung und letztliche Eliminierung Russlands als militärischer Rivale“ geht. Und: „Am Ende geht es im Kern um die Aufrechterhaltung der USA als machtpolitischer Hegemon“ und um die „Regelbasierte internationale Ordnung (RiO).“ Hier wird „die Volksrepublik China als der entscheidende Gegner“ gesehen.
Lühr Henken erwähnt die EU-Sicherheitsdirektorin Florence Gaub, die sich die Frage stellt, weshalb Russland jetzt zugeschlagen hat, und mit der Meinung aufwartet, dass die Ukraine in etwa zwei Jahren so stark aufgerüstet worden wäre, dass sie sich „die Krim hätten zurückhole können“. Außerdem befasst sich Henken mit der geplanten Stationierung der „Dark Eagle“ in Grafenwöhr, einer High-Tech-Waffe, die für eine Erstschlagskapazität gegen Russland dienen soll, vor der sich Putin bezüglich eines „Enthauptungsschlages fürchtet“.
Bernhard Trautvetter betont den Umstand, dass „ein Großteil der Ökologiebewegung blind gegenüber der militärisch bedingten Klimaschädigung“ ist. Jörg Kronauer sieht wie Dagdelen die USA um ihre globale Vormachtstellung bangen und deshalb die NATO auf einen Anti-China-Kurs dirigiert. Ähnlich argumentiert Norman Paech, wenn er über das Völkerrecht räsoniert und dabei den „Völkerrechtsnihilismus“ der USA aufs Korn nimmt, die nach dem Zweiten Weltkrieg etliche illegale Kriege als „Welthegemon“ geführt haben. Die „US-Vasallenstaaten“ werden in die „America First“- Strategie mit eingezogen. Eine „Auflösung der NATO“ läge deshalb im Interesse des „Weltfriedens“.
Die Langzeit-Pazifistin Daniela Dahn sieht das auch so und fragt sich, ob „das Völkerrecht überhaupt noch ein Referenzraum ist“. Sie fragt sich, weshalb die meisten Deutschen so vehement gegen Russland Stellung bezogen haben: „Befreit sich Deutschland jetzt von seinen Befreiern?“ Dabei lässt sie außer Acht, dass ja auch die USA zu den Befreiern gehören. Zustimmend verweist sie auf die Stellungnahme des DGB. Der DGB lehnt das 100 Mrd und 2%-Aufrüstungsprogramm ab. Dahn resümiert, dass sich die Friedensbewegung weiterhin gegen die NATO aktiv wenden müsse.
Der Katholik Eugen Drewermann sagt es deutlich: „Raus aus der NATO!“ Und: „Mit ihr ist kein Frieden möglich, weil er nicht sein soll.“ Er bezieht sich auf die Tatsache, dass „die Bundesrepublik als Aufmarschglacis gegen die Sowjetunion“ gegründet worden sei. Der damalige SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer, der sich diesem Kurs widersetzte, „stand auf der Liste der Bedrohung US-amerikanischer Imperialziele“. Die NATO ist eine „Propaganda imperialistischer Machtdurchsetzung.“ Aber auch: „Putins Krieg ist ein Verbrechen, schlimmer noch, er ist ein Fehler!“
Die übrigen Autoren befassen sich mit Vorgeschichte und Nebeneffekten des Krieges, wie z.B. Viktoria Nulands „Fuck the EU“- Kampagne zur Durchsetzung eines den USA genehmen Präsidenten für die Ukraine nach dem Maidan-Putsch, der von ihr mit über 5 Mrd Dollar vorbereitet worden war, mit den Kosten für die Energie, mit den sozialen Kosten usw., alles Themen, die auch anderswo bereits diskutiert worden sind. Alles in allem, eine interessante und lesenswerte informative Zusammenstellung, nicht zuletzt die von Drewermann vorgetragene christliche Sicht.

Günter Langer, Berlin-Rudow