Umstrittener Judenretter: Bertold Storfer

Wohltäter oder Kollaborateur? Im Auftrag der Nazis brachte der österreichische Jude Berthold Storfer Flüchtlinge nach Palästina und bewahrte nach eigenen Angaben mehr als 9000 Menschen vor dem Tod. Eine Biografie zeichnet nun das Bild eines umstrittenen Helden – der schließlich selbst in Auschwitz starb. Von Katja Iken

Aufenthalt in Karlsbad
Verkannt? Berthold Storfer 1937 im tschechoslowakischen Kurort Karlsbad. 1880 in Czernowitz (Bukowina) als Spross einer jüdischen Familie geboren, konvertierte Storfer in der Zwischenkriegszeit kurzfristig zum Protestantismus, beschrieb sich später jedoch wieder als “mosaisch”. Vor dem “Anschluss” Österreichs besaß Storfer eine erfolgreiche Privatbank – die 1938 liquidiert wurde. 

Durch seinen direkten und indirekten Einsatz konnten insgesamt 9096 jüdische Flüchtlinge das Deutsche Reich in Richtung Palästina verlassen. Der polnische Jude und Historiker Arno Lustiger bezeichnete Storfer als “Helden”, dessen tausendfache Rettungstaten bis heute totgeschwiegen würden – und spricht sich dafür aus, ihn als Gerechten in Jad Vaschem zu ehren.

Der jovial-unbekümmerte Ton, den Adolf Eichmann dem Todgeweihten gegenüber anschlug, war an Zynismus kaum zu überbieten: “Ja, mein lieber guter Storfer, was haben wir denn da für ein Pech gehabt?”, rief der Holocaust-Organisator dem verzweifelten KZ-Häftling zu, als er ihn im Herbst 1944 in Auschwitz besuchte. Ganz so, als habe sich dieser den kleinen Zeh angeknackst. “Schauen Sie, ich kann Ihnen wirklich gar nicht helfen, denn auf Befehl des Reichsführers kann keiner Sie herausnehmen”, so Eichmann weiter. 

Sechs Wochen später war Berthold Storfer tot. Ermordet von den Schergen jener NS-Elite, der er jahrelang treu zu Diensten gewesen war. Denn seit 1939 hatte der Jude Storfer im Auftrag Eichmanns den Transport jüdischer Flüchtlinge nach Palästina organisiert. Hatte mit Reedern verhandelt, Schiffe bestellt, Matrosen angeheuert – und so nach Eigenaussagen exakt 9096 Menschen vor dem Tod bewahrt. 

War Storfer nun ein skrupelloser Kollaborateur der Nationalsozialisten, ein eiskalter Geschäftsmann und Verräter, wie ihn manche zionistischen Aktivisten brandmarkten? Oder ein Wohltäter, der nur notgedrungen gemeinsame Sache mit den Nazis machte, um so möglichst vielen Juden die Deportation und Ermordung zu ersparen? 

Die österreichische Historikerin Gabriele Anderl hat nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Entstanden ist dabei die allererste Biografie über Berthold Storfer, der, so Anderl, fast achtmal so viele Juden rettete, wie es der weltberühmte Oskar Schindler vermochte – und dennoch nahezu unbekannt ist. 

Auf Knien die Straßen schrubben 

Bis zum Einmarsch der Deutschen in der Alpenrepublik führte Storfer ein weitgehend ungestörtes Leben. 1880 als Spross einer jüdischen Familie in der Bukowina geboren, betrieb der im Ersten Weltkrieg mehrfach dekorierte Kommerzialrat in Wien eine gut laufende Bankgesellschaft, die an der Börse notiert war und zu Hochzeiten 85 Mitarbeiter beschäftigte. 

Mit dem “Anschluss” Österreichs im März 1938 begann auch dort die systematische Entrechtung und Terrorisierung der Juden. Viele von ihnen wurden gezwungen, kniend die Straßen Wiens zu säubern. Storfers Bank wurde liquidiert, das Gebäude am Schottenring, in dem das Geldinstitu
t seinen Sitz hatte, von bewaffneten NS-Männern gestürmt und geplündert. Anstatt selbst ebenfalls zu flüchten, diente sich Bertold Storfer den Nationalsozialisten genau in jenem Moment an, in dem es für ihn als Juden in Österreich gefährlich wurde. 

Panikartig begannen die Juden, Österreich zu verlassen, im französischen Evian-les-Bains beraumte US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Juli 1938 eine internationale Flüchtlingskonferenz an. Dritter Mann der jüdischen Delegation, die aus Wien nach Evian reiste, war Berthold Storfer. Schon einen Monat nach dem “Anschluss” hatte er sich darum bemüht, eine Hilfsorganisation zur Förderung der jüdischen Emigration zu gründen. 


einestages gefällt Ihnen? Hier können Sie Fan bei Facebook werden.



Nun, nach seiner Rückkehr aus Evian, machte Storfer sich dafür stark, eine zentrale Behörde für die Flüchtlinge nach Palästina zu etablieren. Mit Erfolg: Anfang 1939 betraute Eichmann ihn mit der Leitung eines “Ausschusses für jüdische Überseetransporte” in Wien. Ein Jahr später übertrug ihm der SS-Obersturmbannführer gar die Leitung der Transporte auch aus dem sogenannten Altreich und dem Protektorat: Berthold Storfer war zu einer zentralen Figur für die Auswanderung der Juden aus dem gesamten Deutschen Reich geworden. 

Eine heikle Aufgabe, war diese forcierte “Auswanderung” doch in Wahrheit eine Vertreibung mit vorangehendem Raub: Wer Deutschland verließ, durfte nur zehn Mark mitnehmen, den Rest des Vermögens behielt der NS-Staat ein und finanzierte damit seine wahnwitzige Aufrüstung. 

Storfer war gezwungen, eng mit den Nationalsozialisten zu kooperieren, bisweilen kam er ihnen gefährlich weit entgegen. So etwa im Oktober 1939 bei den ersten Deportationen von Wien nach Nisko am San in Südostpolen – dem, so Historikerin Anderl, “wohl irritierendsten Kapitel” von Storfers Aktivitäten. Storfer, der im sogenannten Generalgouvernement gemeinsam mit anderen jüdischen Funktionären eine Selbstverwaltung aufbauen sollte, bot der SS aus eigener Initiative Hilfe beim Aufbau einer Art jüdischen “Reservats” an. 

Seine heikle Mittlerrolle zwischen NS-Bürokratie und jüdischen Emigranten machte ihn zur Hassfigur zionistischer Aktivisten, die ebenfalls jüdische Flüchtlingstransporte organisierten. Sie beschimpften Storfer als “Kollaborateur”, der “im Bunde mit dem Teufel” sei und sich nur persönlich bereichern wolle: ein Vorwurf, der laut den Recherchen von Gabriele Anderl aber jeglicher Grundlage entbehrt. 

“Über die Donau oder in die Donau” 

Angefeindet von vielen Seiten, massiv unter Druck gesetzt von Eichmann, der den Juden drohte: “Entweder ihr verschwindet über die Donau oder in der Donau!”, organisierte Storfer ab 1939 den bis dato größten illegalen Schiffstransport jüdischer Flüchtlinge nach Palästina. “Illegal” deshalb, weil Großbritannien, seit 1922 Mandatsmacht in Palästina, in seinem berüchtigten Weißbuch just 1939 die Einwanderung von Juden ins Gelobte Land drastisch einschränkte und kaum noch Flüchtlinge aufnahm. 

Da es offiziell verboten war, Juden nach Palästina zu bringen, war Storfer der Willkür unseriöser Geschäftspartner ausgeliefert, die bislang nicht Menschen, sondern vornehmlich Alkohol oder Waffen geschmuggelt hatten. Kaum einer hielt Wort, die völlig überteuerten Dampfer, die jene Mittelsmänner Storfer zur Verfügung stellten, waren meist altersschwach oder gar schrottreif. 

Nach monatelangem Warten traten am 3. und 4. September 1940 von Wien und Bratislawa aus insgesamt über 3500 jüdische Flüchtlinge, darunter Hunderte freigelassene Häftlinge aus Dachau und Buchenwald, die riskante Reise an. Die Bedingungen auf den überfüllten Schiffen waren erbärmlich: Auf der “Pazifik” gab es kaum Trinkwasser und viel zu wenige Schlafplätze, an Bord der “Atlantik” brach eine Typhusepidemie aus, 15 Menschen starben. Nach insgesamt sechs Wochen Fahrt kamen die Schiffe schließlich in der Hafenstadt Haifa an. 

Kaltblütig abserviert 

Als Storfer Anfang 1941 den NS-Behörden seine Bilanz vorlegte, verwies er stolz auf 9096 Flüchtlinge, die durch seine Vermittlung das Land verlassen konnten. Doch am 23. Oktober 1941 war es damit vorbei: Heinrich Himmler verfügte an jenem Tag, dass die jüdische Emigration sofort zu stoppen sei. Statt die Juden aus dem Land zu jagen, schwenkten die Nationalsozialisten auf die Strategie der Vernichtung um. 

Spätestens mit der Auflösung der Wiener “Zentralstelle für jüdische Auswanderung” im Frühjahr 1943 hatte Storfer, der Judenretter und NS-Mitarbeiter, seine Aufgabe erfüllt und wurde nicht mehr gebraucht. Kaltblütig ließen die Nationalsozialisten ihn fallen. Als Storfer im Sommer 1943 erfuhr, dass er ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert werden sollte, reagierte er mit Panik. 

In einem drei Seiten langen Brief an Adolf Eichmann versuchte Storfer, den Holocaust-Organisator von seiner Unabkömmlichkeit zu überzeugen. Er hob dringende Geschäfte hervor, die noch zu Ende gebracht werden müssten. Und stellte sogar in Aussicht, Gelder, die im Zusammenhang mit der jüdischen Auswanderung geflossen waren, in die Kassen der SS umzuleiten. 

Telegramm aus Auschwitz 

Doch der SS-Obersturmbannführer unterließ es, seine schützende Hand über Storfer zu halten. Am 2. September 1943 tauchte Storfer in Wien unter, er versteckte sich am Stadtrand im Häuschen seiner Freundin, der nichtjüdischen Ärztin Katharina Müller. Fünf Tage später wurde er festgenommen – Ende November landete Storfer in Auschwitz. 

Noch immer hielt Storfer es nicht für möglich, dass man ihn so gnadenlos abservieren würde. Er beauftragte den Lager-Kommandanten Rudolf Höß, Eichmann ein Telegramm zu schicken und ihn nach Auschwitz zu bitten. Eichmann reiste tatsächlich zum Vernichtungslager, wie aus den 1961 in Israel aufgezeichneten Vernehmungsprotokollen hervorgeht. 

Der Holocaust-Organisator, in dessen Augen Storfer “ein ehrenwerter Mann, aber ein Pechvogel” war, erwähnte das Treffen mit seinem einstigen Mitarbeiter ausführlich – wohl mit dem Ziel, sich zu entlasten und als generösen Menschenfreund darzustellen. 

“Große innere Freude” 

Ja, der Bitte Storfers sei er gern nachgekommen, schließlich sei dieser “immer ordentlich gewesen” und man habe all die Jahre am gleichen “Strang gezogen”. Storfer habe ihm sein Leid geklagt und ihn gebeten, von der Zwangsarbeit verschont zu werden. 

Daraufhin habe Eichmann Storfer versprochen, dass er nicht mehr arbeiten müsse, sondern einzig mit dem Besen die Kieswege vor der KZ-Kommandantur in Ordnung halten solle. “Da war er sehr erfreut, und wir gaben uns die Hand, und dann hat er den Besen bekommen und hat sich auf die Bank gesetzt, das war für mich eine große innere Freude gewesen”, berichtete Eichmann dem Polizeihauptmann Avner Less, der ihn verhörte. 

Wenige Wochen nach dieser, von Eichmann als “normales, menschliches Treffen” gepriesenen Begegnung wurde Storfer in Auschwitz ermordet. Offenbar hat man ihn nicht vergast, sondern erschossen. 

Zum Weiterlesen: 

 

Gabriele Anderl: “9096 Leben – Der unbekannte Judenretter Berthold Storfer”. Rotbuch Verlag, 2012, 304 Seiten. 

Quelle: Katja Iken, einestages, Spiegel 25.5.2012

Judenretter Rezsö Kasztner – Der Mann, der mit dem Teufel paktierte

Er log, bluffte und besaß eine ungeheure Chuzpe – Rezsö Kasztnerkaufte der Gestapo 1600 ungarische Juden ab und bewahrte sie vor der Gaskammer. Später wurde er in Israel verurteilt und von einem Fanatiker erschossen. Auf einestages verteidigt der Holocaust-Überlebende Ladislaus Löb seinen Retter.

Zwischen Held und Verräter
Zwischen Held und Verräter: Rezsö Kasztner, 1906 wie Ladislaus Löb in Klausenburg geboren, war studierter Jurist und überzeugter Zionist. Als faktischer Leiter des jüdischen Rettungskomitees Wa’adah verhandelte er in Budapest mit der Gestapo über die Freilassung ungarischer Juden im Tausch gegen Gold und Devisen.

Am 25. April 1944 unterbreitete Holocaust-Organisator Adolf Eichmann dem in Budapest ansässigen jüdischen Rettungskomitee Wa’adah einen makaberen Deal: Die Gestapo versprach, eine Million Juden freizulassen, forderte dafür aber von den ungarischen Juden 10.000 Lastwagen, 200 Tonnen Kaffee, zwei Million Kisten Seife und anderes kriegswichtiges Material. Das Rettungskomitee sollte die von den Nazis zum Einsatz an der Ostfront vorgesehenen Lastwagen von den westlichen Alliierten beschaffen. Hintergrund waren Bestrebungen des SS-Chefs Heinrich Himmler, hinter dem Rücken Adolf Hitlers einen Separatfrieden mit den westlichen Alliierten zu erreichen. Die Vereinbarung kam nie zustande. Dafür kaufte Rezsö Kasztner, faktischer Wa’adah-Leiter, in monatelangen Verhandlungen mit der Gestapo 1670 ungarische Juden frei: Am 6. Dezember 1944 erreichte sein “Palästina-Transport” die neutrale Schweiz. 

Nach dem Krieg sagte Kasztner zugunsten hochrangiger Nationalsozialisten aus. Er wanderte nach Israel aus und arbeitete für die sozialdemokratische Mapai-Partei. 1954 bezichtigte ihn Malchiel Grünwald, ein verbitterter rechtsextremer Einzelgänger, der Kollaboration mit den Nazis. Kasztner strengte einen Verleumdungsprozess an – wurde aber selbst schuldig gesprochen. Er habe, so der Richterspruch, “dem Teufel seine Seele verkauft”. Am 3. März 1957 wurde Kasztner von einem jüdischen Fanatiker erschossen. 

In seinem jetzt erschienenen Buch versucht Ladislaus Löb, 77, der den “Palästina-Transport” selbst miterlebte, seinen Retter Kasztner zu rehabilitieren. Miteinestages sprach Löb, der nach dem Krieg in England als Professor für deutsche Sprache und Literatur arbeitete, über seine Erinnerungen und Recherchen. 

einestages: Ohne Rezsö Kasztner hätten Sie Ihren zwölften Geburtstag wohl nie erlebt. Kann ein Geretteter ein ausgewogenes Sachbuch über seinen Retter schreiben? 

Löb: Ich glaube nicht, dass es nur Subjektivität gibt. Bis zu einem gewissen Grad kann auch der persönlich Betroffene objektiv sein. Ich habe rund vier Jahre lang in Archiven recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen. Trotzdem bin ich natürlich nicht unvoreingenommen. 

einestages: Als jüdisches Kind wuchsen Sie während des Krieges in einem Klima der Angst auf. Wie erlebten Sie den Antisemitismus in Ungarn? 

Löb: Als kleiner Junge versuchte ich einmal, die Fransen der ungarischen Flagge zu erhaschen, die vor unserem Haus gehisst war. Daraufhin wurde mein Vater verurteilt – weil sein Sohn die ungarische Nation beleidigt habe. Ein anderes Mal stand er vor Gericht, weil meine an Tuberkulose erkrankte Mutter mit ihrem Husten angeblich das ungarische Volk vergiften wollte. Das war jedoch nichts gegen das, was nach der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht am 19. März 1944 passierte … 

einestages: … woraufhin binnen kürzest
er Zeit 437.000 ungarische Juden in den Tod geschickt wurden. Wie kam Kasztner auf die tollkühne Idee, mit der Gestapo um Menschenleben zu feilschen? 

Löb: Das jüdische Rettungskomitee Wa’adah erhielt einen Bericht aus der Slowakei, dass die Deutschen angeblich bestechlich seien. Daher trat man unmittelbar nach deren Einmarsch an Adolf Eichmann heran, um Geschäfte zu machen. 

einestages: Wieso verhandelten die Deutschen überhaupt mit den ungarischen Juden, in ihren Augen doch Untermenschen? 

Löb: So seltsam es klingen mag: Die Nazis glaubten ihrer eigenen Propaganda von der Allmacht des sogenannten Weltjudentums. Indem sich Kasztner als Stellvertreter jener angeblichen Weltmacht ausgab, flößte er den Deutschen gehörigen Respekt ein. 

einestages: Wie kam es zu dem Deal, der 1670 Juden das Leben rettete? 

Löb: Kasztner spielte auf Zeit: Wenn die Nazis unsere Gruppe gehen lassen würde, machte er Eichmann weis, würden die Alliierten dem Lastwagen-Deal zustimmen. 

einestages: Die Alliierten dachten jedoch gar nicht daran. Warum nicht? 

Löb: Es kam für die Alliierten nicht in Frage, dem Feind kriegswichtiges Material zu liefern, zudem sperrten sich die Russen gegen diesen Plan. Und: Was macht man mit einer Million Juden? Keiner der Alliierten hätte sie gewollt. 

einestages: Pro freigelassenem Juden bot Kasztner Eichmann hundert Dollar, am Ende bestimmte Himmler ein Lösegeld von tausend Dollar pro Kopf. Woher bekam Kasztner so viel Geld? 

Löb: Rund 150 Leute aus Kasztners “Palästina-Transport” waren extrem reich, sie zahlten für uns alle. 

einestages: Wie schafften Sie es, in den Kreis der Auserwählten aufgenommen zu werden? 

Löb: Dass ich Teil der Gruppe wurde, ist purer Zufall, gepaart mit viel Glück. Um dem Ghetto unserer Heimatstadt Klausenburg in Siebenbürgen (heute Cluj-Napoca – Anm. d. Red.) zu entrinnen, bestach mein Vater einen Polizisten und floh mit mir nach Budapest. Dort erfuhr er von Kasztners Vorhaben. Als sich herausstellte, dass einer der Leiter des Transports sein entfernter Cousin war, redete mein Vater so lange auf den Mann ein, bis dieser uns beide ins Kasztner-Lager aufnahm. Wir tauschten unsere prekäre Freiheit gegen die sichere Gefangenschaft in den Händen der Nazis ein – ein enormes Wagnis. 

einestages: Der Zug in die vermeintliche Freiheit führte Sie von Budapest aus aber nicht sofort nach Palästina, sondern zunächst ins Konzentrationslager Bergen-Belsen, fünf Monate lang waren sie dort als Eichmanns Geisel interniert. Was war das Schlimmste am Lager? 

Löb: Am schrecklichsten war die Ungewissheit. Wir hatten keine Ahnung, was mit uns geschehen würde. Das war weit schlimmer als Läuse und Flöhe, modrige dreistöckige Betten und der Hunger, sogar noch schlimmer als die berüchtigten allmorgendlichen Zählappelle. Mit jedem Tag sank die Hoffnung. Als der erste aus unserer Gruppe starb, waren wir noch geschockt, später wurden wir immer gleichgültiger. 

einestages: In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie sich Kasztner während Ihrer Zeit im Lager vorstellten: Als eine Art Moses, der sein Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft führt. Eichmann charakterisierte seinen Verhandlungspartner hingegen als eiskalten Fanatiker, der einen perfekten Gestapo-Offizier abgegeben hätte. War Kasztner ein Held oder ein Verräter? 

Löb: Der Mann war extrem ehrgeizig, konnte hervorragend lügen und bluffen und besaß eine wahnsinnige Chuzpe. Sein Neffe hat ihn später mal gefragt, ob er wirklich ein Held sei. Da antwortete Kasztner: “Jemand musste etwas tun, um Menschen zu retten. Niemand tat etwas. Da war ich halt der, der es gemacht hat. Ich war ein Held umständehalber.” Das trifft es im Kern – bei aller Arroganz, Selbstherrlichkeit und Verschlagenheit, die Kasztner an den Tag legte. 

einestages: Was gab Kasztner die Kraft, mit dem Teufel zu paktieren? 

Löb: Kasztner hatte den Mut der Verzweiflung. Zudem kann ich mir gut vorstellen, dass ihm das alles manchmal sogar Spaß gemacht hat. Er konnte dem Reiz nicht widerstehen, mit den Nazis auf Augenhöhe zu verhandeln und für einen großen Mann gehalten zu werden. Außerdem wollte er als Nationalheld in Israel empfangen werden. 

einestages: Kasztner feilschte mit den Nazis nicht nur um Menschenleben, er genoss auch Privilegien, beispielsweise durfte er den Dienstwagen des SS-Standartenführers Kurt Becher benutzen. Wo verläuft in Ihren Augen die Grenze zwischen Kompromiss und Kollaboration? 

Löb: Von einem moralischen Standpunkt aus betrachtet darf man sich natürlich nicht mit Bestien einlassen. Doch wenn es um Menschenleben geht, muss man eben Kompromisse eingehen. 

einestages: Kasztner machte nicht nur Kompromisse, er verschwieg den Ungarn auch Eichmanns Vernichtungspläne, obwohl er genau wusste, was in Auschwitz geschah. Warum tat er das? 

Löb: Kasztner hängte sein Wissen zwar nicht an die große Glocke, schickte jedoch Boten in die Ghettos, um die Juden zu warnen. Aber die Menschen wollten das nicht hören. Sie verschlossen die Augen, weil es etwas so Schreckliches wie die Vernichtungslager in ihren Augen einfach nicht geben durfte. Selbst wenn Kasztner Alarm geschlagen hätte: Die meisten Juden waren so demoralisiert, dass sie wohl kaum rebelliert hätten. Die Leute ließen sich nach Auschwitz schleppen – mein Vater nicht. 

einestages: Nach dem Krieg sagte Kasztner in Nürnberg zugunsten des SS-Mannes Becher aus. Warum deckte er als Jude einen Kriegsverbrecher? 

Löb: Monatelang hatten Kasztner und Becher fast täglich miteinander verhandelt – da ist eine gewisse Freundschaft psychologisch verständlich. Zudem glaubte Kasztner, dass Becher ihn durchschaut, aber dennoch bei Himmler ein gutes Wort für ihn und den “Palästina-Transport” eingelegt habe. Schließlich fuhr Kasztner im Januar 1945 mit Becher nach Berlin, um Juden zu retten. Kasztner war der Ansicht, Becher habe Himmler überzeugt, die Juden in einigen Konzentrationslagern, darunter Bergen-Belsen, zu verschonen. 

einestages: Im Jahr 1954 wurde Kasztner in Israel verurteilt, obwohl er Hunderte Menschenleben gerettet hatte. Wieso ging man so hart mit Kasztner ins Gericht? 

Löb: Zum einen war es ein politischer Prozess, in dem Kasztner dem Konflikt zwischen der sozialdemokratischen israelischen Mapai-Partei und den Revisionisten zum Opfer fiel. Kasztners Gegnern ging es darum, Mapai durch Diffamierung ihres Stellvertreters Kasztner zu schwächen. Zum anderen trieb viele Juden in Israel das schlechte Gewissen um, dem Holocaust nicht Einhalt geboten zu haben. Sie brauchten Rezsö Kasztner als Sündenbock. Indem man ihn verurteilte
, wusch man sich selbst rein. 

einestages: Wie veränderte die Kasztner-Affäre die israelische Politik? 

Löb: Unmittelbar nach Ende des Prozesses stürzte die sozialdemokratische Regierung. 20 Jahre später gab es keine Mapai mehr, sondern nur noch den konservativen Likud. Ein verhängnisvoller Rechtsrutsch brach sich Bahn – der bis heute das Geschehen im Nahen Osten beeinflusst. 

Das Interview führte Katja Iken. 

"Seine Seele dem Teufel verkauft"
“Seine Seele dem Teufel verkauft”: Nach dem Krieg wanderte Rezsö Kasztner (Foto von 1947) nach Israel aus und arbeitete für die sozialdemokratische Mapai-Partei, unter anderem als Sprecher des Versorgungsministeriums. Nachdem ein Rechtsextremist ihn der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt hatte, strengte Kasztner einen Verleumdungsprozess an, der sich jedoch gegen ihn wendete: Er habe “seine Seele dem Teufel verkauft”, urteilte damals der Richter. Am 3. März 1957 wurde Kasztner von einem jüdischen Fanatiker vor seiner Wohnung erschossen – seine Teilrehabilitierung erlebte er nicht mehr.



Zum Weiterlesen: 

 

Ladislaus Löb: Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Bericht eines Überlebenden, Böhlau Verlag 2010, 24,90 Euro.


Quelle: einestages, spiegel 19.8.2010

Antisemitismus-Opfer Philipp Auerbach – Der unerwünschte Nazi-Jäger

Alle wollten vergessen, er verlangte Gerechtigkeit: Im Nachkriegs-Deutschland kämpfte Philipp Auerbach wie kein zweiter für die Entschädigung von NS-Opfern. Politiker und Medien beschimpften ihn – ein ehemaliger Nazi-Richter verurteilte den Juden in einem unfairen Prozess. Die Hetze endete tödlich. Von Christoph Sydow

Philipp Auerbach
Der Querulant: Philipp Auerbach kämpft wie kein zweiter für die Entschädigung von Opfern des Nazi-Regimes. Vielen Deutschen ist er damit ein Dorn im Auge. Auch die Politik wendet sich bald von ihm ab, besonders Bayerns Justizminister Josef Müller bekämpft ihn rücksichtslos. 1952 wird Auerbach in einem umstrittenenen Prozess zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Kurz darauf nimmt er sich das Leben.

Philipp Auerbach war kein sympathischer Mensch. Selbst Leute, die es gut mit ihm meinten, bezeichneten ihn als cholerisch, machtgierig, selbstherrlich. Aber andererseits auch als hilfsbereit, gutmütig und selbstlos. Viele Deutsche verachteten ihn schlicht: Denn in den ersten Nachkriegsjahren war Auerbach der Stachel im Fleisch der jungen Republik. Während die meisten Deutschen die Verbrechen während der zwölfjährigen Nazi-Diktatur einfach nur vergessen wollten, drängte er wie kein zweiter auf eine Wiedergutmachung für die NS-Opfer und eine rücksichtslose Verfolgung der Täter. 

Auerbach gehörte als Jude selbst zu denen, die unter den Nazis eingesperrt waren und jahrelang in Todesangst auf ihre Freilassung hoffen mussten. Er überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald. Doch nach seiner Befreiung 1945 wurde Auerbach nicht wie erhofft mit Jubelrufen, sondern bestenfalls mit Gleichgültigkeit, oft auch mit Hass empfangen. Denn er vertrat all jene, die jeden Tag die Deutschen an ihre Mitschuld an den Verbrechen des Nazi-Regimes erinnerten. 

Seine Mission: Wiedergutmachung für die Opfer des NS-Regimes und die juristische Verfolgung von Alt-Nazis. Dieses Ziel vertrat er in verschiedenen Ämtern, zuletzt als bayerischer Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte und als Präsident des Landesentschädigungsamtes in München. 

Auerbach war kein Mann der Kompromisse, kein Versöhner, manchmal handelte er am Rande der Legalität. Er verlangte nicht nur Entschädigung für jüdische NS-Opfer, sondern ausdrücklich auch für die im Nachkriegsdeutschland noch immer diskriminierten Homosexuellen sowie für Sinti und Roma. Mit dieser Haltung machte er sich auch bei jüdischen Interessengruppen Feinde. 

Viele Deutsche hatten kein Verständnis für Auerbach 

Auerbach forderte für jeden ehemaligen KZ-Häftling eine Entschädigung von zehn Mark pro erlittenem Hafttag. Dafür sollte das Raubgut der Nazis unter den Opfern des “Dritten Reiches” verteilt werden. Daraufhin erhielt er zahlreiche antisemitische Schmähbriefe, in denen den Überlebenden des Nazi-Regimes pauschal Gier und Rachsucht vorgeworfen wurden. 

Denn in den ersten Nachkriegsjahren, als viele deutsche Städte in Trümmern lagen und die Not groß war, sahen fast alle Deutsche sich selbst als Opfer der Nazi-Zeit. Sie mussten mit den Folgen der Kriegsniederlage leben. Für Auerbachs Haltung fehlte ihnen fast jedes Verständnis.

Der verteidigte in einem Gastbeitrag im SPIEGEL 1947 seine Forderungen: “Während wir im Kampf um unsere Idee gegen den Hitler-Terror kämpften und unser Leben aufs Spiel setzten, misshandelt, verkrüppelt und tyrannisiert wurden, haben große Teile von ihnen in Ruhe ihrer Beschäftigung nachgehen können oder sogar in Amt und Würden gestanden und von dem System Nutzen gezogen, das wir bekämpften. Sie hatten bis die Bomben einschlugen, ihre Wohnung, ihr Heim.” 

In der deutschen Presse erschienen inzwischen wieder offen antisemitische Leserbriefe wie dieser von einem “Adolf Bleibtreu”, der im August 1949 in der “Süddeutschen Zeitung” schrieb: “Geht doch nach Amerika, aber dort können sie Euch auch nicht gebrauchen, sie haben genug von diesen Blutsaugern”, pöbelte der Mann. Und fuhr fort, er sei “beim Ami beschäftigt”, und habe d
ort gehört, dass sie den Deutschen alles verziehen, außer dass sie nicht alle Juden vergast hätten. Denn nun würden sie Amerika beglücken. 

Häme für den “Cäsar der Wiedergutmachung” 

Auch seine Jagd nach Alt-Nazis brachte Auerbach Ärger ein: Die junge Bundesrepublik benötigte ehemalige Vertreter des NS-Regimes für den Aufbau ihres Verwaltungsapparats, und auch die US-Militärbehörde zeigte kein wirkliches Interesse an einer Aufarbeitung des Unrechts während der Nazi-Zeit. Sie brauchte stabile deutsche Institutionen angesichts des aufziehenden Kalten Krieges und der Konfrontation mit dem neuen Feind Kommunismus. Schnell wurde klar: Der unbequeme Nazi-Jäger musste weg. 

Bereits 1949 stellte der CSU-Gründer und bayerische Justizminister Josef Müller einen Staatsanwalt eigens dafür ab, belastendes Material gegen Auerbach zu sammeln. Im Januar 1951 durchsuchte die Polizei das von Auerbach geleitete Landesentschädigungsamt. Zehn Wochen lang besetzte die Beamten die Münchener Behörde, Entschädigungsanträge wurden in dieser Zeit kaum noch bearbeitet. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Das Amt sollte mit Hilfe gefälschter Dokumente mehrere 100.000 Mark an Wiedergutmachungsgeldern erschlichen haben. Viele Deutsche fühlten sich dadurch in ihrem antisemitischen Vorurteil bestätigt, dass Juden zu ihrem eigenen finanziellen Vorteil lügen und betrügen.

Journalisten und Politiker bedienten diese Vorurteile. Manche ganz offen, bei anderen schlichen sich weit verbreitete Ressentiments in Nebensätzen ein. So erwähnte etwa der SPIEGEL im Februar 1951 in einem Artikel über Auerbachs Tätigkeit als Präsident des bayerischen Landes-Entschädigungsamtes ganz nebenbei “Juden, denen KZ-Haft und Tod zahlloser Angehörigen den Maßstab gesetzlicher Notwendigkeit getrübt hatten”. Bayerns Justizminister Müller, der mehr und mehr zu Auerbachs erbittertstem Gegenspieler wurde, geht noch einen Schritt weiter. Er sagte, er könne nicht zusehen, dass Bayern von einem jüdischen „König“ regiert werde. Außerdem machte er Auerbachs Verhalten für den wachsenden Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland verantwortlich. 

Am 10. März hatte die Staatsanwaltschaft offenbar genügend belastendes Material gesammelt: Die bayerische Polizei nahm Auerbach auf der Autobahn fest, als dieser von einer Dienstreise aus Bonn zurückkehrte. Nach 13 Monaten in Untersuchungshaft begann im April 1952 der Prozess gegen ihn und drei Mitangeklagte, darunter den bayerischen Landesrabbiner Aaron Ohrenstein. Die Anklageschrift war Ausdruck der pedantischen Ermittlungsarbeit. Sie warf Auerbach Erpressung, Untreue, Betrug, Bestechung, Abgabenüberhebung, Amtsunterschlagung, Angabe falscher Versicherung an Eides statt und die unbefugte Führung eines akademischen Grades vor. 

Keine Chance auf einen fairen Prozess 

Schon vor dem Prozess erreichten die Behörden zahllose antisemitische Briefe. So schrieb ein anonymer Absender: “Ehrliche Arbeit scheut der Jude.” Und hetzte weiter: Das Deutsche Volk habe seit Jahren in Erfahrung bringen müssen, dass bei Staatlichen- und Kommunalen-Behörden, wo Unterschlagungen und Betrügereien vorgekommen sind, stets Juden an den maßgebenden Stellen die Betrüger waren. Am Ende seiner Tirade foderte er gar: “Raus mit den Juden aus Deutschland!” 

Prozesseröffnung
Prozess: Am 16. April 1952 beginnt am Landgericht München das Verfahren gegen Auerbach (mit Verteidiger Josef Klibansky und dem Mitangeklagten Berthold Konirsch, v.r.n.l.) Die Angeklagten haben keine Chance auf ein faires Verfahren, denn Richter, Staatanwalt und Sachverständige sind ehemalige Nazis.


Als der Angeklagte am 16. April 1952 erstmals auf der Anklagebank Platz nahm, saß ihm eine Riege ehemaliger NS-Juristen gegenüber: Richter Josef Mulzer war nicht nur ein ehemaliger Kanzleikollege von Auerbachs Gegenspieler Müller; er war auch Oberkriegsgerichtsrat im “Dritten Reich”. Ein Beisitzer war Ex-SA-Mitglied, ein weiterer Beisitzer, die Staatsanwälte und der psychiatrische Sachverständige waren Mitglieder der NSDAP. Ganz unbefangen erwähnte der Richter, dass Auerbach “eine arische Ehefrau habe”, und als der Verteidiger daran erinnerte, dass sein Mandant Jahre im KZ interniert war, entgegnete Mulzer lapidar, dass er selbst auch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gesessen hatte. 

Unstrittig war, dass Auerbach unberechtigterweise einen Doktortitel führte. Doch weit schwerer wiegende Anklagepunkte brachen in sich zusammen, weil Zeugen Auerbach entlasteten und Belastungszeugen frühere Aussagen zurücknahmen. Wegen seines angeschlagenen Gesundheitszustands wurde der 45-Jährige aus der Untersuchungshaft entlassen und durfte zur Behandlung in ein Sanatorium. Justizminister Müller musste noch während des Prozesses zurücktreten, weil er eigenmächtig einen Staatsanwalt jahrelang gegen Auerbach ermitteln ließ. 

Dennoch verurteilte das Gericht Auerbach am 14. August 1952 zu zweieinhalb Jahren Haft und 2700 Mark Geldstrafe. Seine Vergehen: unberechtigtes Führen eines akademischen Grades, zwei falsche eidesstattliche Erklärungen, ein Erpressungsversuch, Bestechung in drei und Untreue in vier Fällen. Den Hauptanklagepunkt – die angebliche Veruntreuung von Entschädigungsgeldern – hatten die Richter fallengelassen. 
Abschiedsbrief
Abschiedsbrief: Auf der Rückseite seiner Gerichtsvorladung hinterlässt Auerbach vor seinem Selbstmord seine letzten Worte: 

Nicht aus Feigheit, nicht aus einem Schuldbekenntnis heraus handle ich, sondern weil ein Glaube an das Recht für mich nicht mehr besteht und ich meinen Freunden und meiner Familie nicht weiter zur Last fallen will. Ich bin unschuldig verurteilt in Falle Diekow und in den Fällen Hönig/Ohnsorg. Auch im Fall Lehrer hat man mir unrecht getan. Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann dieses entehrende Urteil nicht weiter ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft, es war umsonst. Ich danke meinen Verteidigern Dr. Panholzer und Rechtsanwalt Klibansky. Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen. Dr. Auerbach, 14.8.52

Proteste bei der Beerdigung 

Doch der Urteilsspruch und die antisemitische Hetzkampagne hatten Auerbach gebrochen: Zwei Tage später nahm er sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann das entehrende Urteil nicht weiterhin ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft – umsonst … Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen.“ 

Bei der Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof in München am 18. August 1952 folgten Tausende dem Sarg des Verstorbenen. Am Rande des Trauerzugs kam es zu Tumulten, als Demonstranten ein Transparent mit dem Schriftzug enthüllten: „Bist Du nun zufrieden, Josef Müller?“ Die Polizei setzte Wasserwerfer ein. 

Doch es war nur eine Minderheit, die auf Seiten Auerbachs stand: Die bayerische Landpolizei schrieb in einem Bericht über die Beisetzung: “Das Urteil im Auerbach-Prozess wird im Volke allgemein als gerecht, vielfach aber auch (…) als zu milde empfunden. Der Selbstmord Auerbachs sei zwar mit Überraschung, aber ohne besondere Erschütterung zur Kenntnis genommen und als Schuldbekenntnis gewertet worden.” 

Zwei Jahre später wurde Auerbach von einem Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags vollständig rehabilitiert. Auf seinem Grabstein steht heute: “Helfer
der Armen, Opfer seiner Pflicht”. 

Wasserwerfer
Tumulte: Am Rande von Auerbachs Beerdigung kommt es zu Unruhen. Die Demonstranten machen Justizminister Müller für das Gerichtsurteil und den Selbstmord des Verurteilten verantwortlich. Die Polizei setzt Wasserwerfer ein.


Quelle: einestages, spiegel 30.1.2013

Kurt Lichtenstein – Jude & Kommunist, von Grenzer erschossen

Jude – Kommunist – Deutscher: Als der Journalist Kurt Lichtenstein zwei Monate nach dem Mauerbau an der innerdeutschen Grenze erschossen wurde, machte ihn die westdeutsche Politik zum “Blutzeugen” der deutschen Teilung. Den Behörden aber blieb das ehemalige KPD-Mitglied bis zuletzt suspekt. Von Solveig Grothe

Geschwister Lichtenstein
Geschwister Lichtenstein: Kurt Lichtenstein mit seiner Schwester Elfriede um 1930. Elfriede Lichtenstein wurde später in Auschwitz ermordet. Bundesdeutsche Behörden lehnten es zu Lichtensteins Lebzeiten ab, ihn für das erlittene Leid der Familie im Holocaust zu entschädigen.

Aus allen Teilen der Bundesrepublik waren die Trauergäste am 26. Oktober 1961 nach Dortmund gekommen. Auf dem Hauptfriedhof versammelten sich unzählige Journalisten und Gewerkschaftsvertreter; Wirtschaftskreise und die politischen Parteien hatten Blumen und Kränze geschickt. Der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer (CDU), war persönlich erschienen, um dem Toten, dessen umrahmtes Bild in einem Blumenmeer auf dem Katafalk stand, die letzte Ehre zu erweisen. 

Das Foto zeigte den Journalisten Kurt Lichtenstein, der am 12. Oktober 1961 “in Ausübung seines Berufes”, wie der Trauerredner betonte, an der niedersächsischen Zonengrenze nordöstlich von Wolfsburg von DDR-Grenzern erschossen worden war. In Regierungserklärungen und Zeitungen war von der “Empörung und Abscheu” ob dieser Tat zu lesen. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Herbert Wehner würdigte Lichtenstein als “Blutzeugen” dafür, was “diesem geplagten deutschen Volk und diesem geplagten Land noch immer angetan” werde. 

Der “Blutzeuge”, dessen Tod die bundesdeutsche Öffentlichkeit so sehr bewegte und in dessen schrecklichem Schicksal führende Politiker das “gesamtdeutsche Leid” infolge der deutschen Teilung verkörpert sahen, war der gleiche Kurt Lichtenstein, der bis zu seinem Tod vergeblich mit bundesdeutschen Behörden darum gerungen hatte, für sein als Jude in Deutschland erlittenes Leid – seine Eltern und seine Schwester waren von den Nationalsozialisten ermordet worden – entschädigt zu werden. 



 

Eingesperrt und ausgegrenzt: Lesen Sie hier die Geschichten der Menschen, deren Leben der Mauerbau für immer veränderte! 



Was die unerwartete Aufmerksamkeit auf die Person Lichtensteins lenkte, waren Zeitpunkt und Umstände seines Todes: Erst am 13. August 1961, also zwei Monate zuvor, hatte der Osten seine Grenzen abgeriegelt. Der Mauerbau in Berlin stand nicht nur symbolhaft für die Teilung der Stadt sondern ganz Deutschlands. Und Lichtenstein war das erste Opfer an dieser innerdeutschen Grenze. Er war zudem auch der erste Mensch, der aus Richtung Westen kommend unter Beschuss geraten war. Mitten im Kalten Krieg machte dieser Vorfall aus einem Mann, der jahrelang wenig erfolgreich nach seinem Platz in der Bundesrepublik gesucht hatte, plötzlich einen “Helden der freien Welt”, wie es seine Witwe s
päter ausdrückte. 

Das Erstaunlichste an diesem Fall: Leben und Tod Lichtensteins schienen den ganzen Wahnwitz und die Irrungen des 20. Jahrhunderts zu bündeln. Denn als wäre der zwiespältige Umgang mit dem jüdischen auf der einen, und demdeutschen Schicksal des Kurt Lichtenstein auf der anderen Seite nicht schon seltsam genug, gab es noch eine andere Absurdität: “Lichtensteins Leben endete an der Grenze jenes Staates, für dessen Existenz er jahrzehntelang gekämpft hatte”, wie sein Biograf Rainer Zunder schrieb. Gemeint war die DDR. Seit jeher hatte Lichtenstein vom Aufbau des Sozialismus in Deutschland geträumt. Zunders Buch erschien mehr als 30 Jahre nach Lichtensteins Tod. Zu diesem Zeitpunkt, 1993, war der Todesfall juristisch noch immer nicht abgeschlossen. 

Aufbruch zur Grenze 

Am 9. Oktober 1961 hatte sich der 49-jährige Dortmunder, Chefreporter der “Westfälischen Rundschau”, morgens von seiner Frau und den beiden Töchtern verabschiedet und war mit seinem brandneuen roten Ford Taunus zu einer Recherchereise aufgebrochen. Zwei Monate, nachdem die DDR mit dem Mauerbau und der hermetischen Abriegelung der deutsch-deutschen Grenze begonnen hatte, wollte er “eine umfangreiche Reportage über das Leben an und mit der Grenze, über auseinandergerissene Dörfer und Familien, über Volkspolizei und Nationale Volksarmee drüben und Bundesgrenzschutz hüben” schreiben, wie sich seine Frau erinnert. 



50 Jahre Mauerbau – Alle Artikel, Hintergründe und Fakten 



Aus Richtung Lübeck kommend, so ergab die polizeiliche Rekonstruktion später, war er drei Tage darauf gegen 11.30 Uhr an einer Straßensperre eingetroffen, die das Dörfchen Zicherie im Westen von Böckwitz im Osten trennte. Bei einem westdeutschen Zollassistenten erkundigte sich der Reporter, ob man die Straße nach Kaiserwinkel – parallel zur Zonengrenze – risikolos befahren könne. Als dieser bejahte, machte er sich auf den Weg. 

Nach rund zwei Kilometern stoppte er seinen Wagen auf dem Seitenstreifen. Mit dem Fotoapparat in der Hand stieg er aus, überquerte den trockengelegten Graben, der die Grenzlinie markierte, und lief über den geeggten, zehn Meter breiten Kontrollstreifen geradewegs auf eine Menschengruppe zu, die mit Maschinen und Traktor damit beschäftigt war, Kartoffeln zu ernten. Zäune und Minenfelder gab es damals noch nicht, die Lichtenstein hätten aufhalten können. Die Handzeichen der Feldarbeiter, die ihm signalisieren wollten, dass er verschwinden möge, nahm er offenbar nicht wahr oder ignorierte sie. Möglicherweise verhinderte auch der Motorenlärm, dass er verstand, was man ihm zurief. 

Rückweg abgeschnitten 

Zur Umkehr entschloss sich Lichtenstein offenbar erst, nachdem er den Grenzposten bemerkt hatte, der am Kontrollstreifen entlanglief, um ihm den Rückweg abzuschneiden. Schüsse fielen und die Menschen auf dem Feld sahen, wie der Reporter die Arme in die Höhe riss, wankte und schließlich Richtung Graben stürzend zusammenbrach. DDR-Grenzer und ein herbeigeeilter Treckerfahrer versuchten wenig später, die Wunden des an Bein und Oberkörper Getroffenen notdürftig zu versorgen, bevor sie ihn schließlich ins Hinterland zogen. Am späten Nachmittag des gleichen Tages starb Lichtenstein im Krankenhaus der nahegelegenen Kleinstadt Klötze. 

Seine Leiche wurde daraufhin in die Bezirksstadt Magdeburg transportiert – und eingeäschert. Ein Telegramm kündigte der Witwe am 18. Oktober die postalische Zusendung der Asche an. Zur anberaumten Trauerfeier – mehr als eine Woche später – kam die Urne dann allerdings nicht pünktlich. 

Während der Osten den Fall des “Grenzverletzers” auf seine Weise propagandistisch ausschlachtete und Lichtenstein einen “Provokateur” schimpfte, nutzte der Westen den Anlass für eine Verurteilung des “mörderischen” kommunistischen Regimes. Der “Mord”-Vorwurf entsprang dabei wohl vor allem der aufgeheizten Stimmung, die zu diesem Zeitpunkt zwischen den Machtblöcken herrschte. 

Abgesehen davon b
egleiteten den Fall auch Spekulationen, ob Lichtenstein nicht tatsächlich gezielt liquidiert worden war. Schließlich war er mit einigen Mitgliedern des SED-Regimes persönlich bekannt: Mit Erich Honecker etwa, dem ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und damit Koordinator des Mauerbaus, hatte Lichtenstein 1934/35 im Kommunistischen Jugendverband des Saarlandes gearbeitet. Lichtensteins Frau Gertrud hatte mit Erich Mielke, nunmehr Ulbrichts Minister für Staatssicherheit, in den dreißiger Jahren zusammen die Moskauer Leninschule besucht. 

Parteiverfahren gegen Lichtenstein 

1931 war Lichtenstein in die KPD eingetreten, hatte für sie im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und – obwohl Jude – illegal und als Fremdarbeiter getarnt in Nazi-Deutschland gearbeitet. Nach dem Krieg engagierte er sich weiter für die Partei, saß im Nordrhein-westfälischen Landtag. Zum Bruch kam es erst, nachdem er selbst wegen seiner kritischen Haltung gegenüber dem dogmatischen, Moskau hörigen KPD-Vorsitzenden Max Reimann in die Mühlen der parteiinternen stalinistischen Säuberungen geriet: Etwa zur selben Zeit, da der stalinistische SED-Flügel um Walter Ulbricht im Osten Schauprozesse gegen sogenannte Abweichler initiierte, gab es in der KPD im Westen ein Parteiverfahren gegen Lichtenstein, das er trotz versicherter Treue zur Partei und einem verzweifelten Besuch beim Ostberliner SED-Zentralkomitee nicht zu seinen Gunsten beeinflussen konnte. Es endete 1953 mit seinem Ausschluss. 

Nach dem Rausschmiss aus der Partei, verbunden mit dem Verlust seiner Ämter und Einkünfte, versuchte Lichtenstein jahrelang, als Journalist in der Bundesrepublik Fuß zu fassen. Obwohl längst nicht mehr Mitglied in der dort 1956 verbotenen KPD haftete ihm seine politische Vergangenheit weiter an – selbst noch, nachdem er 1956 in die SPD eingetreten war und zwei Jahre später eine Anstellung bei der SPD-eigenen “Westfälischen Rundschau” erhalten hatte. Weil er zum Stichtag 23. Mai 1949 noch Mitglied der kommunistischen Partei gewesen war und deren “antidemokratischen Ziele” unterstützt habe, wurde sein Anspruch auf “Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung” abgelehnt. Dass Lichtensteins Eltern rassisch Verfolgte waren, deportiert wurden und im KZ umkamen, bezweifelten die Behörden indes nicht. 

Nur vier Wochen nach Lichtensteins aufsehenerregendem Tod an der deutsch-deutschen Grenze hatte sich die Haltung der Behörden offenbar gewandelt: Die Witwe erhielt die Nachricht, dass sich das Entschädigungsamt nunmehr bereiterklärt habe, die “rechtlichen Bedenken, die einer Entschädigungsleistung entgegenstanden, aufzugeben”. 

Der Prozess 

Auf ein juristisches Urteil zum Tod ihres Mannes sollte die Witwe allerdings noch 36 Jahre warten. 1997 verhandelte das Landgericht Stendal die Todesschüsse auf den westdeutschen Journalisten. Anhaltspunkte dafür, dass man es gezielt auf Lichtenstein abgesehen hatte, fanden sich auch in der erst Mitte der neunziger Jahre ausgewerteten Stasi-Akte nicht. Das Gericht sah es als ebenso wenig erwiesen an, dass die beiden angeklagten Schützen vorsätzlich gehandelt hatten – und sprach die früheren DDR-Grenzsoldaten frei. Daran, dass sie die Schüsse abgegeben hatten, die zum Tode führten, zweifelte es nicht. 

Lichtenstein sei, so die Erklärung, offenbar auf einen “besonders scharfgemachten Posten” getroffen. Etwa eine Woche zuvor hatte die DDR-Regierung die zunächst sehr restriktiven Vorgaben für den Schusswaffengebrauch gelockert: Nach Zuruf und Warnschuss durften nun Waffen auch gegen Flüchtende angewandt werden, sofern eine Festnahme anders nicht möglich war. 

Noch einen Tag bevor Lichtenstein in Zicherie eintraf, war es dem Treckerfahrer einer Kartoffelernte-Brigade gelungen, in den Westen zu fliehen. Die Truppe, die der Reporter Lichtenstein am 12. Oktober 1961 fotografieren wollte, stand daher unter besonderer Bewachung. Der Kompaniechef hatte den Wachposten eingeschärft: “Keiner darf durchkommen.” Womöglich hatte er damit Lichtensteins Urteil gefällt. 
Familienfeier
Familienvater: Kurt Lichtenstein sitzt im Dezember 1958 mit seinen Töchtern Elfriede und Susanne beim Adventskaffee zusammen. Am Morgen des 9. Oktober 1961 sahen die beiden Mädchen ihren Vater zum letzten Mal.



Zum Weiterlesen: 

Rainer Zunder: “Erschossen in Zicherie”. Dietz Verlag, Berlin 1993, 263 Seiten.


Quelle: Solveig Grote, einestages, Spiegel 3.8.2011

Juden in der DDR: Flucht aus dem besseren Deutschland

Erst wurde er verhört, dann organisierte er den Exodus: Vor 60 Jahren verhalf der SED-Volkskammerabgeordnete Julius Meyer Hunderten Juden zur Flucht nach West-Berlin. Er hatte sich in der DDR vor Verfolgung sicher gefühlt – ein Trugschluss. Von Wolfgang Brenner

Julius Meyer
Die Häftlingsnummer: 1943 war Julius Meyer von den Nazis verhaftet und ins KZ gebracht worden. Nach seiner Zeit in Auschwitz und Ravensbrück hatte er auf ein besseres Leben in der DDR gehofft. Doch es kam anders.

Viele von denen, die Nationalsozialismus und Krieg überlebt hatten, hielten die DDR für das bessere Deutschland. Ein antifaschistischer Staat, gegründet unter anderem von Menschen, die unter Hitler im KZ gesessen hatten. Ein solcher Staat musste ein guter Ort sein. Erst recht für Juden. 

So ähnlich wohl dachte der Jude Julius Meyer. Die Nazis hatten ihn 1943 verhaftet, sie hatten ihn erst nach Auschwitz und dann nach Ravensbrück geschickt. Dem Holocaust entronnen, glaubte er an einen Neuanfang auf deutschem Boden. In Ost-Berlin übernahm er den Vorsitz der sich langsam wieder formierenden jüdischen Gemeinde, nach der Gründung der DDR wurde er dort Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden und saß für die SED in der Volkskammer. 

Dass es nach dem Tod von Millionen Juden je wieder antisemitische Kampagnen in einem deutschen Staat geben könnte, konnte sich Julius Meyer nicht vorstellen. Erst recht nicht auf dem Territorium der DDR. Ein fataler Trugschluss. 

Es sollte nicht lange dauern, da wusste Julius Meyer, dass er in Ostdeutschland nicht mehr sicher war. Er nicht, und auch nicht die wenigen hundert Glaubensbrüder und -schwestern, die dort noch lebten. 

Israelische Delegation
Verdächtig: Julius Meyer (2. von links) hatte etliche internationale Kontakte. Die Aufnahme zeigt ihn 1951 mit einer israelischen Gewerkschaftsdelegation in Ost-Berlin. Die stalinistische DDR-Führung sah darin ein Indiz dafür, dass Meyer vom Ausland gesteuert sein könnte.



Verhör durch die eigene Partei 

Anfang 1953 wurde der Volkskammerabgeordnete Meyer von der SED vor die Zentrale Parteikontrollkommission bestellt. Wirklich überraschen konnte ihn das nicht. In der Partei hatte er sich über die Jahre Feinde gemacht, weil er mit Nachdruck für ein Gesetz eingetreten war, das den Opfern des Faschismus eine Wiedergutmachung sichern sollte. 

Ein Anliegen, das er etwa mit dem SED-Funktionär Paul Merker teilte, das die Parteiführung um Walter Ulbricht aber ablehnte, weil sie auf der Position beharrte, dass die Kommunisten nicht schuld am Nationalsozialismus gewesen seien und deshalb auch nicht dessen Erbe zu tragen hätten. Dafür, dass sich die Genossen eigentlich dem Antifaschismus verschrieben hatten, gebrauchten sie in ihrer diesbezüglichen Stellungnahme 1952 allerdings eine bemerkenswerte Formulierung: “Von jüdischen Kapitalisten zusammengeraubte Kapitalien” seien kein Gegenstand der Wiedergutmachung. 

Meyers Befragung dauerte mehrere Stunden. Was ihn dabei am meisten verunsicherte, waren die bohrenden Fragen nach seinen Verbindungen zu einer amerikanischen Hilfsorganisation, dem American Jewish Joint Distribution Comittee, kurz: Joint. Gegründet 1914, um im Krieg bedrohte Glaubensbrüder in Europa zu unterstützen, hatte sich Joint während der Nazi-Zeit um verfolgte Juden gekümmert, Ausreisemöglichkeiten sondiert und sogar Pakete nach Theresienstadt geschickt. Nach dem Krieg war sie die wichtigste Hilfsorganisation für die Überlebenden des Holocaust in Europa und schickte Care-Pakete in die DDR. 

Als Meyer nach der Befragung endlich gehen durfte, wartete
ein sowjetischer Offizier auf ihn. Auch er wollte von Meyer mehr über dessen Verbindungen zu Joint erfahren. Der Offizier ging dabei offenbar einem konkreten Verdacht nach: Er mutmaßte, dass die jüdischen Gemeinden im Ostblock über die Hilfsorganisation politische Anweisungen aus den USA bekämen. 

Heinz Galinski und Flüchtlinge
Hilfe im Westen: Heinz Galinski, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Berlin, unterstützte vom Westteil der Stadt aus die Flucht der Juden aus der DDR. Mit ihm zusammen hatte Julius Meyer einen Evakuierungsplan entworfen. Das Foto zeigt Galinski im Februar 1953 mit jüdischen Flüchtlingen aus der DDR in seinem Büro.

Ärzteverschwörung in Moskau 

Ernsthaft besorgt war Meyer schließlich, als er am 13. Januar 1953 von einer ungewöhnlichen Meldung erfuhr, die die sowjetische Nachrichtenagentur TASS verbreitete: Sowjetische Behörden hatten eine Verschwörung einflussreicher Ärzte des Kreml-Krankenhauses aufgedeckt und die Rädelsführer verhaftet. Diese Mediziner hätten ihre exponierte Position dazu genutzt, kommunistische Funktionäre durch falsche Behandlungsmethoden zu ermorden. TASS veröffentlichte sogar die Namen zweier prominenter Opfer der angeblichen Ärztebande: der bei sowjetischen Künstlern gefürchtete Stalin-Vertraute Andrej Schdanow und Politbüromitglied Alexander Schtscherbakow. Beide waren schon seit einigen Jahren tot. 

Von den sieben inhaftierten Ärzten waren vier Juden, die drei anderen wurden als “verkappte Juden” bezeichnet. Angeblich hatten sie Verbindungen zu Joint. Deren Unterorganisation in der Sowjetunion hatte Stalin schon 1938 verboten, die Helfer aus dem Land geworfen, nachdem sich diese enteigneten jüdischen Händlern angenommen hatten. Nun, 1953, beschuldigte Stalin die Hilfsorganisation offen der Spionage. 

Die verhafteten Professoren, so verlautete alsbald, hätten zugegeben, die Ermordung Stalins und seiner Helfer geplant zu haben. Eine landesweite Kampagne machte Stimmung gegen Juden. In der gesamten Sowjetunion weigerten sich die Menschen, sich von jüdischen Ärzten behandeln zu lassen. Vereinzelt kam es zu Übergriffen. Der Prozess wegen der sogenannten Ärzteverschwörung war für März anberaumt. 

Gedenksteinenthüllung auf dem jüdischen Friedhof
Kränze für die Toten, Diffamierungen für die Lebenden: Offiziell gab sich die DDR als antifaschistisch und nach dem Terror des Nationalsozialismus als der “bessere deutsche Staat”. Wie etwa bei der Enthüllung dieses Mahnmals am 23. April 1950 für die von den Nazis ermordeten jüdischen Menschen auf dem Friedhof in Berlin-Weißensee. Unter den Vertretern des Staates war damals auch Staatssekretär Leo Zuckermann. Im Dezember 1952 musste er aufgrund falscher Anschuldigungen erst nach Westdeutschland und schließlich nach Mexiko flüchten. 

“Großmutter im Sterben” 

So lange wollte Julius Meyer nicht warten. Er fürchtete, dass er bald nicht mehr auf freiem Fuß sein würde. Um Zeit zu gewinnen, ging er zum Schein auf die Forderungen der Staatssicherheit ein. Er fertigte Spitzelberichte an, hütete sich aber davor, Namen von Juden zu nennen, die Care-Pakete empfangen hatten. 

Parallel traf er Verabredungen mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in West-Berlin, Heinz Galinski. Sie entwarfen einen Evakuierungsplan für die Juden in der DDR und vereinbarten eine Parole: “Großmutter im Sterben” lautete das Signal. Sobald sie diese Nachricht erreichte, sollten sich alle ausreisewilligen Juden mit ihren Angehörigen auf den Weg nach Berlin machen. Einige holte Meyer persönlich mit dem Auto in die Hauptstadt. Erstaunlicherweise ging nichts schief. Über Ost-Berlin erreichten alle Beteiligten im Februar 1953 den Westen. 

Dass eine solche landesweite Aktion über die Bühne gehen konnte, ohne dass die Staatssicherheit Wind davon bekam, ist schwer vorstellbar. Zu vermuten ist eher, dass es die Politführung angesichts der historischen Belastung Deutschlands als klüger ansah, die jüdischen Mitbürger auf diese Art entkommen zu lassen, als ihnen auf Druck aus Moskau hin einen peinlichen Schauprozess machen zu müssen. 


Julius Meyer
Gefährliche Position: Julius Meyer – hier während einer Protestkundgebung in der Synagoge Rykestraße in Berlin am 3. Mai 1949 – bekam Anfang 1953 erste Repressionen zu spüren. Vor der Zentralen Parteikommission musste er sich stundenlangen Befragungen stellen.



Exodus endgültig 

Dazu allerdings wäre es schon aus einem anderen Grund nicht gekommen: Stalins Tod am 5. März 1953 änderte die Dinge grundsätzlich. Die Ärzte wurden rehabilitiert und konnten dem verstörten Sowjetvolk mitteilen, dass ihre Aussagen durch Folter erzwungen worden waren. 

Die Flucht der Juden aus der DDR indes war endgültig. Mehr als 500 von ihnen waren Julius Meyer 1953 in den Westen gefolgt. Unter ihnen Vorsitzende und Beisitzer der jüdischen Gemeinden von Leipzig, Dresden, Halle und Erfurt. Aus Berlin-Niederschönhausen floh das gesamte jüdische Kinderheim gemeinsam mit seinen Betreuern. Auch den Ost-Berliner Kammergerichtspräsidenten Heinz Freund und Heinz Fried, den Direktor der Wasserbetriebe, zog es nach West-Berlin. 

Was diese Abwanderungsbewegung für die jüdischen Gemeinden bedeutete, zeigt eine Statistik des Zentralrats der Juden in Deutschland: 1989, im Jahr der Wende, lebten in der DDR nur noch 400 Mitglieder der jüdischen Gemeinden, allein 250 davon in Ost-Berlin. 

Julius Meyer hatte sich nach seiner Flucht in den Westen noch bis Mitte der siebziger Jahre einen Kampf mit bundesdeutschen Gerichten geliefert, die seinen Anspruch auf Entschädigung nicht anerkennen wollten. Als der westdeutsche Staat ihm auch noch den Status eines politischen Flüchtlings verweigerte, wanderte er mit seiner Familie nach Brasilien aus. Dort starb er 1979. 

Paul Merker
Opfer der Antifaschisten: Der Kommunist Paul Merker, hier in einer Aufnahme von November 1946, war Mitglied des Zentralkomitees der SED und hatte sich in der DDR für die Verabschiedung eines Wiedergutmachungsgesetzes für die Opfer des Faschismus eingesetzt – entgegen der offiziellen Parteilinie. Seine abweichende Haltung wurde ihm zum Verhängnis. 1952 wurde er wegen angeblichem Zionismus verhaftet.


Vereinigungsparteitag von KPD und SPD zur SED

Unter Zionismus-Verdacht: Dass man in der DDR nicht jüdisch sein musste, um unter Antisemitismus zu leiden, erlebte auch SED-Funktionär Franz Dahlem (hier in einer Aufnahme von April 1946). Dahlem wurde 1952 in Ost-Berlin verhaftet. Der Vorwurf: Zionismus. Der Leiter des Büros für “Parteiaufklärung” galt als Rivale Ulbrichts. Nach dem Tod Stalins fand der geplante Prozess gegen ihn und Paul Merker jedoch nicht mehr statt.

Zum Weiterlesen: 

Annette Leo: Die ‘Verschwörung der Weißen Kittel’. Antisemitismus in der Sowjetunion, in: Jan Foitzik (Hrsg.): Das Jahr 1953. Ereignisse und Auswirkungen, Potsdam 2004

Quelle: einestages, spiegel 15.2.2013

TURKEY’S ERDOGAN IN 1993: THE JEWS AND AMERICA ARE MY ENEMY

And this is from the most moderate of the moderate Islamic countries, Turkey, under Erdogan, has abandoned the separation of mosque and state, abandoned Ataturk, abandoned its ties with Israel, and increasingly pursues the delusion of a return of the Ottoman empire. While participating in a Middle East panel of the Academy of Achievement in Chicago in September of 2007, Erdogan warned against religious definitions of terrorism and specifically objected to the phrase “moderate Islam.” Erdogan said, “Turkey is not a country where moderate Islam is sovereign. First of all, the ‘moderate Islam’ concept is wrong. The word ‘Islam’ is a simple word — it is only Islam. If you say ‘moderate Islam,’ then an alternative is created.”

Nichtregierungs-Organisationen gegen Israel

18. Februar 2013 um 14:44 | Veröffentlicht in die Welt+Nahost, Europa+Nahost, NGOs | Hinterlasse einen Kommentar 

Manfred Gerstenfeld interviewt Gerald Steinberg (direkt vom Autor)

Unter den vielen, die Israel attackieren, sind Nichtregierungs-Organisationen (NGOs) diejenigen, die am wenigsten Kontrolle von außen unterworfen sind. Diese antiisraelischen NGOs behaupten für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu werben, sind aber gekennzeichnet durch fehlenden Professionalismus und eine postkoloniale, ideologische Agenda. In einigen Fällen bildet theologischer Antisemitismus einen zusätzlichen Faktor.

Die Forschungsorganisation NGO Monitor hat antiisraelisches Handeln einer Reihe wichtiger NGOs detailliert dokumentiert. Zu diesen gehören die mit Israel in Zusammenhang stehenden Aktivitäten von Amnesty International, Human Rights Watch, Oxfam, Christian Aid und viele andere Organisationen.

Professor Gerald Steinberg lehrt Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen an der Bar Ilan Universität. Er hat NGO Monitor seit dessen Gründung 2002 geleitet. Sie ist der einzige unabhängige Forschungsorganisation, die systematisch die Behauptungen des politischen NGO-Netzwerks untersucht und kritisch hinterfragt.

Steinberg sagt: Man kann die Einseitigkeit der NGOs objektiv beobachten. Eine quantitative Methode dazu besteht im Zählen der Seiten, Einzelberichte, Pressekonferenzen und ähnlicher Maßeinheiten im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts, die sich verschiedenen Themen widmen. Die Recherche zeigt eine riesige Diskrepanz zwischen den regelmäßigen Verurteilungen Israels und der geringeren Aufmerksamkeit, die geschlossenen, diktatorischen Regimen oder andren Ländern geschenkt wird, die in gewalttätige Konflikte verwickelt sind.

Außerdem gibt es qualitative Methoden. Antiisraelische NGOs bevorzugen einen gewissen Sprachgebrauch, um Israel zu attackieren. Dazu gehören Begriffe wie „Kriegsverbrechen“, „kollektive Bestrafung“, „Straflosigkeit“ und so weiter. Sie benutzen diese anderen Ländern gegenüber weit weniger. Das hebt die Verletzung der universalen Prinzipien der Menschenrechte durch diese NGOs hervor.

Gruppen wie Amnesty International, Human Rights Watch (HRW), Oxfam und verschiedene kirchliche internationale Hilfsgruppen aus Europa sind finanziell sehr gut ausgestattet. Sie üben daher viel politische Macht aus. Diese NGOs sind außerdem die schlimmsten Verletzer der moralischen Prinzipien, die sie fälschlich zu fördern behaupten. HRW stellte in seiner Abteilung für Nahost und Nordafrika Leute ein, die von einer Geschichte kruder antiisraelischer Einseitigkeit besudelt sind. NGO Monitor hat dies regelmäßig dokumentiert.

Diese NGOs haben wichtige internationale Plattformen im Bereich von Menschenrechten und humanitärer Hilfe übernommen. Viele europäische Regierungen lagern diese Aktivitäten aus, indem sie große Geldsummen mit wenig Überwachung an private „Wohlfahrtseinrichtungen“ und NGOs geben. Zusätzlich sind oft Journalisten, Akademiker und andere Mitglieder der „außenpolitischen Elite“ an solchen Organisationen beteiligt oder akzeptieren deren Behauptungen und Agenden ohne Fragen zu stellen. 2002 erzählte Amnestys „Experte“ Derek Pounder der BBC, er könne ein riesiges „Massaker“ in Jenin bestätigen, das von den israelischen Verteidigungskräften begangen worden sei. Das von ihm geschaffene Märchen wurde erst entlarvt, nachdem es Hunderte Male wiederholt worden und der Schaden für Israel angerichtet war.

Darüber hinaus geben Diplomaten und Politiker bei den Vereinten Nationen oft ihre Verantwortung im Umgang mit komplexen Menschenrechtsansprüchen an NGOs ab. Sie verlassen sich auf diese für Redeentwürfe, Ber
ichte und andere Dienste. Ein besonders ungeheuerlicher Fall war der Goldstone-Bericht von 2009 zum Krieg im Gazastreifen. Journalisten tendieren oft dazu NGO-Presseerklärungen ohne jegliche unabhängige Untersuchung der faktischen Behauptungen oder pseudo-juristischen Argumente zu kopieren.

In den offenkundigsten Fällen von NGO-Einseitigkeit gegen Israel gibt es vier Faktoren. Erstens sind die offiziellen Vertreter in der Führung internationaler NGOs oft durch eine stark antiwestliche, postkoloniale Ideologie vergiftet. Seit 1967 haben sie Israel dem nationalistischen und kapitalistischen, westlichen Lager zugeordnet, das per Definition schuldig ist. Ein zweiter Grund, dass NGOs sich auf den israelisch-palästinensischen Konflikt konzentrieren, besteht darin, dass er in den Medien ständig präsent ist. Dies hilft ihrer Marketingstrategie, indem es ihnen Präsenz im Wettbewerb um Gelder und Einfluss verschafft.

Ein dritter Faktor ist, dass der UNO-Menschenrechtsrat in Genf von arabischen und islamischen Blocks kontrolliert wird. Um hier als Einfluss habend gesehen zu werden, müssen sich die NGOs an die „politische Linie“ halten, was eine intensiv antiisraelische Haltung bedeutet. Der vierte Faktor sind klassischer christlich-theologischer Antisemitismus und Ersetzungstheologie. Diese spielen in NGOs mit Sitz in Großbritannien wie War on Want, Christian Aid und Amnesty eine herausragende Rolle. Sie sind auch in den Aktivitäten kirchlicher humanitärer Hilfsgruppen in Skandinavien und Irland zu finden.

Diese mächtigen Organisationen sind schwer zu besiegen. Dennoch hat NGO Monitor in einer Reihe wichtiger Fälle gezeigt, dass Erfolg möglich ist. Nur ein paar Beispiele: 2009 führte unsere detaillierte Widerlegung der haltlosen NGO-Vorwürfe im Kern des Goldstone-Berichts dazu, dass sein Autor sich von seiner eigenen Veröffentlichung distanzierte. HRW-Gründer Robert Bernstein verurteilte seine Organisation, nachdem NGO Monitor systematisch die zutiefst einseitige Agenda seiner Abteilung für den Nahen Osten und Nordafrika und HRWs Bemühungen bei Mitgliedern der saudischen Elite Geld zu sammeln offen legte, während die schweren Menschenrechtsverletzungen dieses Regimes ignoriert wurden.

Darüber hinaus haben NGO Monitors Berichte über den zerstörerischen Beitrag von Finanziers dieser Organisationen – so dem New Israel Fund und europäische Regierungen – diese dazu gebracht, ihre Unterstützung für die am ungeheuerlichsten in Boykott, De-Investition und Sanktionen (BDS) wie auch andere auf Hass gegründeten Aktivitäten involvierten NGOs Stück für Stück zu beenden. Gleiche Beobachtung wird oder könnte auf viele andere Israel hassende Organisationen außerhalb des NGO-Bereichs angewandt werden.

Dr. Manfred Gerstenfeld ist Mitglied des Aufsichtsrats des
Jerusalem Center of Public Affairs, dessen Vorsitzender er 12 Jahre lang war.

Source

Religion: Ein wichtiges Thema der israelischen Wahlen

Religion: Ein wichtiges Thema der israelischen Wahlen

13. Februar 2013 um 15:29 | Veröffentlicht in Israel | Hinterlasse einen Kommentar 
Schlagwörter: 

Manfred Gerstenfeld (direkt vom Autor)

Die Zersplitterung der israelischen Wahlkampf-Diskussion – der ein zentrales Thema fehlte – verschleiert viel von dem, was dort bekannt wurde. Versucht man zu klassifizieren, was die Schlüsselentwicklungen waren, dann sieht man einiges Offensichtliche, während anderes undeutlich bleibt.

Der bestimmende Faktor des Wahlkampfs war die Entscheidung von Likud und Israel unsere Heimat, gemeinsam anzutreten. Das stellte sicher, dass es keinen Wettbewerb zwischen ihnen geben und ihre Liste die größte werden würde. Man mag verstehen, was den Parteichef von Israel unsere Heimat, den damaligen Außenminister Avigdor Lieberman, motivierte diesen Schritt zu unterstützen. Sein zweiter Platz auf der Liste öffnete ein Fenster dafür, in der Zukunft eine große Partei zu führen. Dieses Wagnis könnte es wert gewesen sein, selbst wenn ein paar Sitze verloren wurden.

Was den Likud-Chef Benjamin Netanyahu zu diesem Schritt motivierte, bleibt allerdings nicht so klar. Glaubte er dem republikanischen Guru Arthur Finkelstein – dass die gemeinsame Liste  mehr als die 42 Sitze erhalten würde, die sie in der bisherigen 18. Knesset inne hatte, auch wenn das allen Erfahrungen der früheren Wahlen widersprach? War seine Hauptsorge, dass eine links von der Mitte angesiedelte Mega-Partei gegründet würde, die die Position des Likud als größte Partei und damit sein Premierministeramt bedrohte? Werden wir jemals wirklich wissen, was er sich dabei dachte?

Andererseits wird ein Thema von den Analysten weitgehend ignoriert; es ist die wichtige Rolle, die die Religion in diesem Wahlkampf spielte. Viele grundverschiedene Elemente führten dazu, dass dieser Aspekt verschleiert wurde. Doch es wird als zentrales Thema in den Koalitionsverhandlungen weitergeführt. Die meisten nicht religiösen jüdischen Parteien setzten religiöse Kandidaten auf aussichtsreiche Positionen auf ihren Listen. Das trifft nicht nur auf den Likud und Israel unsere Heimat zu, sondern auch für Yair Lapids Es gibt eine Zukunft und Tzipi Livnis Bewegung. Mindestens 38 religiöse Abgeordnete wurden gewählt was ihre Zahl in jeder früheren Wahl weit überschreitet.1

Im Wahlkampf wurden ideologische Themen nicht allzu sehr angesprochen. Eines der wenigen, das länger andauernde Aufmerksamkeit erhielt, war die Forderung nach Gleichheit bei der Last des militärischen und Zivildienstes für den ultrareligiösen Sektor. Mehrere Parteien, insbesondere Es gibt eine Zukunft, machten Wahlkampf mit dem Militär- und Zivildienst für die Ultrareligiösen als wichtigem Thema. Neue und weitreichende Gesetzgebung zu diesem Dienst war eine der Hauptforderungen der Partei bei den ersten Koalitionsgesprächen nach der Wahl zwischen Netanyahu und Lapid.2 Auch Livni erwähnte die Gleichbehandlung bei dieser Last als eine ihrer Bedingungen dafür, in die Regierung einzutreten.3

Ein wichtiges Wahlergebnis war die Wiederkehr des national-religiösen Sektors als Kraft in der israelischen Politik. Dieser ist bei den letzten Wahlen zunehmend marginalisiert worden.Das Jüdische Haus gewann zwölf Sitze, gleich viele wie die nationalreligiösen Parteien in der Vergangenheit meistens hatten. Die Partei zog auch viele säkulare Wähler an und hat eine relativ junge Wählerschaft.4 Ihr junger neuer Anführer Naftali Bennett spielte ein zentrale Rolle im Wahlkampf und wurde schnell zu einer landesweit bekannten Person. Eine Neuheit war, dass Das Jüdische Haus eine weibliche und nicht religiöse Kandidatin weit oben auf ihre Liste setzte. Für Bennett und seine Partei ist auch eine gleichmäßigere Verteilung der Last des Armeedienstes ein wichtiges Thema.5

Aus Umfrageergebnissen erkannte die ultrareligiöse Shas-Partei, dass Das Jüdische Hausnicht nur ein starker Wettbewerber werden, sondern sie sogar als größte religiöse Partei ablösen könnte. Shas begann Bennetts Partei daraufhin bei mehreren Gelegenheiten zu attackieren, wozu diffamierende Bemerkungen zu deren gewissenhafter Religionsausübung gehörten. Ihr spiritueller Mentor, der ehemalige Oberrabbiner Ovadia Yosef, fragte: „Sind das religiöse Leute?“ Er führte an: „Sie sind gekommen um die Torah auszureißen. Wer immer für sie stimmt, leugnet die Torah. Ist das ein jüdisches Haus? Es ist ein jüdisches Haus für Nichtjuden.“ Der Rabbiner fügte hinzu, dass es verboten sei für sie zu stimmen.6

Eines von mehreren Themen, mit denen Bennett sich den Zorn der Shas-Führung zuzog, war seine Kritik an der Korruption des religiösen Establishments, bei der ihre Anhänger eine wichtige Rolle spielen. Ein weiteres war sein Wunsch seine Lösung für den Konversions-Prozess zum Übertritt ins Judentum zu finden.7 Jetzt erscheint ein Wettbewerb zwischen den beiden Parteien zur Kontrolle des Oberrabbinats wahrscheinlich.

Der Shas-Abweichler MK Rabbi Haim Amsalem versuchte vergeblich mit einer neuen Partei –Das Ganze Israel – in die Knesset einzuziehen; auch er brachte religiöse Fragen in die Debatte ein. Er sagte, die Shas-Führer dienten nicht den Interessen ihrer Wähler, die in ihren Herkunftsländern immer gemäßigte Leute gewesen seien. Amsalem fügte an, dass nur einigen wenigen, ausgezeichneten Studenten gestattet werden sollte all ihre Zeit dem jüdischen Lernen zu widmen, während alle anderen in der Armee dienen sollten.

Er merkte an, dass Israelis viel von den untergegangenen jüdischen Gemeinden Nordafrikas zu lernen haben. Die dortigen Rabbiner, sagte Amsalem, waren intelligent genug alle Juden in ihren orthodoxen Gemeinden zu akzeptieren, ungeachtet des Grades ihrer Religionsausübung.8 Nach heftigen Attacken durch die Shas wurde sein Aufruf zu traditioneller Moderatheit nicht von vielen in der Öffentlichkeit gehört und seine Liste überwand die Zweiprozenthürde nicht.

Dr. Manfred Gerstenfeld ist Mitglied des Aufsichtsrats des
Jerusalem Center of Public Affairs, dessen Vorsitzender er 12 Jahre lang war.

 

1 Lahav Harkov: Record number of female, religious MKs in Knesset. The Jerusalem Post, 23. Januar 2013.
2 Jonathan Lis: As coalition talks begin, Yesh Atid presents its list of demands to Netanyahu. Ha’aretz, 3. Februar 2013.
3 Moran Azulay: Lapid sets agenda for next government. YNet, 23. Januar 2013.
4 Gil Hoffman: Bayit Yehudi gains 3 seats in a week, ‘Post’ poll finds. Jerusalem Post, 28. Dezember 2012.
5 Moran Azualay: Lapid sets agenda for next government. YNet, 23. Januar 2013.
6 Yair Ettinger: Feud between Shas and Habayit Hayehudi heats up. Ha’aretz, 20. Januar 2013.
7 ebenda.
8 Matti Friedman: A party of one. The Times of Israel, 4. Dezember 2012.

Source

Es war einmal im Amerikahaus

Von Andreas Austilat


Am Freitag eröffnet die neue US-Botschaft, hoch gesichert ist dort auch die Kulturabteilung. 60 Jahre zeigten sich die USA im Amerikahaus – Erinnerung an einen Ort der Begegnung und wilder Demos: 1966 flogen hier die ersten Eier.

Gelber Dotter rann die Wand hinunter. Ein Hühnerei, kein faules, auch kein Farbei, wie später in vielen Zeitungen zu lesen war, hatte die Fassade getroffen. Dann klatschte es wieder, ein zweites, ein drittes Ei kamen aus dem Schutz der Bahnunterführung geflogen, das vierte verfehlte die mit blauen und roten Mosaiksteinen geflieste Außenwand. So beschreibt Friedrich Christian Delius in seinem Roman „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ die Szene. Es war der 5. Februar 1966, und soeben waren die ersten Eier überhaupt gegen eine amerikanische Einrichtung in Deutschland geflogen: gegen das Berliner Amerikahaus in der Hardenbergstraße.

Die Aktion schlug ungeheure Wellen, vor allem in Berlin selbst. Ein Anschlag gegen die Amerikaner, ausgerechnet. Nirgendwo sonst schienen die freundschaftlichen Bande so eng wie in der von den Sowjets umzingelten Halbstadt, die sich nur sicher glauben konnte, solange die USA ihr Engagement aufrechterhielten. Gerade drum, erinnert sich Tilman Fichter, damals Berliner Landesvorsitzender des SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Nirgendwo sonst in Deutschland wurde so genau hingeguckt, wenn Studenten gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam demonstrierten. Hier war es sogar möglich, ins US-Fernsehen zu kommen. Und so geriet das Amerikahaus in den Brennpunkt. Für Jahre sollte es kaum eine Demonstration geben, die nicht hier vorbeiführte.

Doch während in Berlin Bürgermeister Willy Brandt sich persönlich entschuldigen musste, die Opposition den Rücktritt des Innensenators verlangte und der Bundesbevollmächtigte, so etwas wie Bonns Botschafter in der Mauerstadt, seinen Urlaub abbrach, reagierten die Amerikaner vergleichsweise gelassen. „Die fuhren voll auf weiche Linie“, erinnert sich Wolfgang Schwiedrzik, „wollten mit uns diskutieren“. Schwiedrzik, 1962 Mitbegründer der Schaubühne, die sich damals noch am Halleschen Ufer befand, muss es wissen, denn er war am 5. Februar 1966 ebenfalls vor dem Amerikahaus. Mehr noch, Schwiedrzik hatte die Eier gekauft, zehn Stück für 1,99 D-Mark, gleich nebenan in der Lebensmittelabteilung von Bilka, einem heute nicht mehr existierenden Kaufhaus an der Joachimstaler-, Ecke Kantstraße. Er stopfte sich die Eier in die Taschen seines Parkas und ging zurück. Am Tatort jedoch hatte er Schwierigkeiten, die Eier loszuwerden. Ein Zeichen wollte man doch setzen, ein irgendwie theatralisches, schließlich kam Schwiedrzik vom Theater, aber nicht jeder traute sich. Weshalb er drei oder vier Eier in der Tasche behielt. Gegen das Amerikahaus selbst hatte er übrigens gar nichts, im Gegenteil, in der dortigen Bibliothek hatte er schon Bücher entliehen, „und die Veranstaltungen waren auch nicht uninteressant“.

Die Rechnung ging also 1966 noch auf. Denn genau dafür war das Amerikahaus einst gegründet worden: auch in schwierigem Umfeld ein offenes Haus zu sein für alle, die gucken wollten, wie die USA sich präsentieren, und dabei selbst jene zu erreichen, die dem Land kritisch gegenüberstehen. Heute, über 40 Jahre später, warnen Schilder vor dem Wachhund. Gitterrollos sichern die Fenster, von deren Rahmen hier und da der Lack abplatzt. Das Haus ist zu, aber der Schriftzug „Amerika Haus“ steht ebenso unter Denkmalschutz wie das gesamte Gebäude, das auf einen neuen Mieter wartet. Die Bundeszentrale für Politische Bildung würde es gern für ihre Berliner Dependance nutzen.

Die Kulturarbeit, die einst hier geleistet wurde, ist auf die neue amerikanische Botschaft neben dem Brandenburger Tor übergegangen, die kommende Woche, am 4. Juli, feierlich eröffnet wird. Aber dieses Haus spricht eine ganz andere Symbolsprache als das Amerikahaus in seinen besten Tagen. Alles andere als offen, wird die Botschaft höchsten Sicherheitsanforderungen entsprechen, mehr Festung als Haus der Begegnung sein. Die Zeiten, sie sind wohl so, oder brauchte es nicht gerade jetzt eine Einrichtung, die Amerika erklärt? Immerhin, selbst Hans-Dietrich Genscher, ehemaliger Außenminister, erklärte den Graben zwischen Europa und den USA anlässlich George W. Bushs letztem Besuch für breiter denn je. Doch während die deutschen Goethe-Institute nach Jahren der Sparsamkeit heute aus einem größeren Etat schöpfen können, auch in den USA wieder stärker in die Öffentlichkeit treten, sind die Aufwendungen der USA für Public Diplomacy seit 20 Jahren zurückgegangen, und das, obwohl das eigene Image in der Welt nicht das beste ist.

Die Anfänge des Amerikahauses in Berlin waren bescheiden. Nicht viel mehr als eine Bücherstube eröffnete 1946 in der Kleiststraße. Aber schon bald wurden dort Fotos ausgestellt und Jazz gespielt. 1947 wurde die Einrichtung zum US-Information Center erklärt, seitdem trägt es auch den Namen „Amerikahaus“.

Das Haus war Teil des Reeducation- Programms. Denn die Amerikaner waren nach dem Zweiten Weltkrieg überzeugt, dass die Deutschen notorisch intolerant und autoritätshörig seien, vor allem die Jugend und die Frauen standen unter dem Verdacht, politisch uninteressiert, wenn nicht gar naziverseucht zu sein. Es galt also, die Deutschen von den Vorzügen demokratischer Lebensführung zu überzeugen, wenn dieses einstweilen besetzte Land nicht wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen sollte. 20 Information Centers betrieben die USA 1947, es sollten bald über 40 sein. Die Briten und die Franzosen hatten mit den British Councils und den Instituts français vergleichbare Einrichtungen.

Natürlich waren diese Häuser ein Instrument der Propaganda, sagt Knud Krakau, inzwischen emeritierter Professor am Institut für Amerikanistik der FU-Berlin. Aber Propaganda kann klug sein oder dumm. In bewusster Abgrenzung von der Nazipropaganda verkündete Präsident Truman die Direktive des „full and fair picture“ an einem Ort, an dem Deutsche Amerikaner treffen, amerikanische Zeitungen und Bücher lesen, Musik hören und Filme gucken konnten. Nur ein undogmatisches Konzept verspreche Erfolg, mahnte auch James R. Wilkinson, Generalkonsul in München, denn „die Deutschen wurden so lange mit Propagand
a gefüttert, dass sie hinter jedem Buch, das speziell für sie herausgebracht wird, eine höhere Absicht vermuten“.

Für sein Amerikabild, Knud Krakau ist Jahrgang 1934, hätten die Amerikahäuser eine große Rolle gespielt, sagt er heute. Jazz habe damals bei vielen Deutschen noch als Negermusik gegolten, in den Amerikahäusern konnte man Louis Armstrong hören, Schallplatten ausleihen, außerdem Bücher von Steinbeck, Faulkner, Fitzgerald, alles Autoren, die es in den frühen 50er Jahren in deutschen Bibliotheken kaum oder gar nicht gab.

Allerdings zeichnete sich spätestens ab 1950 in den Amerikahäusern, die der neu gegründeten United States Information Agency unterstanden, einer Abteilung des Außenministeriums, ein Richtungswechsel ab. An die Stelle der Anti-Hitler-Politik trat der Antikommunismus, entsprechende Titel waren in die Bestände aufzunehmen. Im Auftrag von Senator McCarthy wurden 1953 auch die Bibliotheken der Amerikahäuser auf „unamerikanische Aktivitäten“ kontrolliert. Auf dem Index standen Autoren wie Dashiell Hammett und Herman Melville.

In Deutschland reagierte die Presse besonders kritisch, erinnerte das Verfahren doch an die Bücherverbrennung der Nazis. Auch in den USA war bald von der „Book-Burning“-Kontroverse die Rede, noch im gleichen Jahr entschloss sich die Eisenhower-Administration, die Literaturauswahl weniger rigide zu handhaben.

Doch gerade die antisowjetische Haltung brachte in der Folgezeit eine vergleichsweise liberale Kulturförderung mit sich. Europäische Intellektuelle wären anders auch gar nicht zu gewinnen gewesen. Die abstrakte Malerei eines Jackson Pollock, obwohl daheim kaum mehrheitsfähig, in Deutschland wurde sie präsentiert als Beispiel eigenständig amerikanischer Kunst, die etwas Neues zu zeigen hatte und so ganz anders war als der sozialistische Realismus. Im Berliner Amerikahaus las Thornton Wilder, traten James Stewart, Sidney Poitier und Robert Kennedy auf – im neuen Domizil an der Hardenbergstraße. Das hatte zwar 1957 kein US-Architekt entworfen, aber der Bau des Berliners Bruno Grimmek sah immerhin nach amerikanischer Moderne aus.

Mit all diesen Anstrengungen wollten die USA der gerade unter deutschen Intellektuellen verbreiteten Ansicht entgegentreten, Amerikaner könnten vielleicht mit ihrer Warenwelt beeindrucken, zu einer eigenständigen Hochkultur hätten sie es aber nicht gebracht. Und sie waren dabei durchaus erfolgreich. Vorübergehend wenigstens. Mit dem Vietnamkrieg und den weltweiten Studentenprotesten drohte die Stimmung zu kippen.

Holly Jane Rahlens kam 1972 von New York nach Berlin, der Liebe wegen, wie sie sagt. In der Szene, in der sie sich bewegte, der linken Studentenschaft, war das Amerikahaus zu jener Zeit verpönt. „Die Beziehung zu den USA war aber eher eine Art Hassliebe“, erinnert sie sich. Jimi Hendrix, Bob Dylan, die Beach Boys oder Blue Jeans, gegen die hatte keiner was. Formen des studentischen Widerstandes vom Sit-in über das Teach-in bis zur Bürgerinitiative hatten ihre Wurzeln in den USA. McDonald’s als Hassobjekt gab es noch nicht, Bagels auch nicht und Ice Cream Soda allenfalls, wenn in Dahlem die US-Garnison Volksfest feierte. Holly Jane Rahlens musste immer zu Jimmy nach Neukölln fahren, wo der ehemalige US-Soldat in der Wildenbruchstraße eine Imbissbude aufgemacht hatte. Jimmys Hamburger schmeckten wenigstens beinahe wie in New York.

Bild schließen

Studenten-Demo am 5. Februar 1966 vor dem Amerikahaus. 

Ins Amerikahaus ging Holly Jane Rahlens damals nur, um die „New York Times“, „Sports Illustrated“, „Miss Magazine“ zu lesen. Blätter, die sonst kaum zu kriegen waren, im Amerikahaus lagen sie aus. Das Programm aber fand sie in jener Zeit schlicht uninteressant. Das sollte sich erst ab Mitte der 70er Jahre wieder ändern.

Vielleicht hatte das mit dem Ende des Vietnamkriegs 1975 zu tun, vielleicht auch mit Renate Semler. 1974 gerade 30 Jahre alt, bewarb sie sich um den neuen Job einer Programmreferentin. Und der damalige US-Kulturattaché hatte ziemlich konkrete Vorstellungen, was die neue Referentin zu leisten hatte: Man müsse wieder die kritischen jungen Intellektuellen ins Haus holen.

Jan Myrdal, Günter Grass und Uwe Johnson diskutierten auf dem Podium des Amerikahauses über das Amerikabild der europäischen Schriftsteller, Gore Vidal kam, Robert Rauschenberg stellte seine Bilder aus, und Rita Dove, die später den Pulitzer-Preis verliehen bekam, staunte, dass sie im Berliner Amerikahaus für ihre Gedichte ein größeres Publikum fand als in den USA. Semler warb um Lehrer und Studenten, versuchte, Vorurteile gegen vermeintlich unpolitische Amerikaner zu entkräften. „Mag ja sein, dass nur 50 Prozent der Amerikaner den Präsidenten wählten, auf kommunaler Ebene aber engagieren sie sich sehr stark.“ Und weil Amerikaner eben auf ihre eigene Art tickten, musste man das erklären.

Amerikanische Feministinnen traten in den 70er Jahren auf, und während draußen vor der Tür in den 80ern gegen die amerikanische Lateinamerikapolitik demonstriert wurde, gegen die Verminung nicaraguanischer Häfen und die Unterstützung obskurer Militärregime, saß drinnen ein Vertreter des Komitees für Solidarität mit Nicaragua und klagte die USA derart überzeugend an, dass dem amerikanischen Direktor ganz bange wurde, wie sich Renate Semler erinnert.

Das Amerikahaus blieb im Brennpunkt. Es wurde besetzt von Unterstützern der Bewegung 2. Juni, es wurde mit Farbbeuteln beworfen, es wurde von Polizei abgeschirmt, aber es blieb für Veranstaltungen offen. Die Nervosität jener Jahre bekam Holly Jane Rahlens zu spüren, als sie im Haus eines ihrer Programme einstudierte, inzwischen trat die Wahlberlinerin hier mit ihren One-Woman-Shows auf. Harvey, der ihr bei der Show half, betätigte aus Versehen nicht den Schalter für den Scheinwerfer, sondern jenen für den stummen Alarm. Polizisten stürmten daraufhin den Raum.

Der Niedergang setzte in den 90ern ein, ausgerechnet in der Ära Clinton, dessen Wahlsieg 1992 über George Bush senior auf einer der legendären Amerikahaus- Wahlpartys gefeiert wurde. Schon unter Reagan war der Etat für die Häuser drastisch zurückgefahren worden, jetzt standen mit dem Ende des Kalten Kriegs neue Kürzungen an. Ganz offensichtlich wurde nun, dass die Amerikahäuser eine Waffe in diesem Kampf waren, es nicht einfach nur darum ging, Interesse an der Kultur eines Landes zu wecken.

Während in den Staaten des ehemaligen Ostblocks neue Einrichtungen öffneten, wurde das Angebot in Deutschland zurückgefahren. 1999 schließlich kam das Aus für die USIA als eigenständigem Träger, die Amerikahäuser unterstanden fortan nicht mehr direkt dem Außenminister, sondern irgendeiner Unterabteilung im State Department. 2006 wurde das Haus in Berlin geschlossen.

Natürlich komm
en Filme heute direkt aus Hollywood, schicken Verlage ihre Autoren selbst auf Lesereise, braucht es vielleicht die Bibliothek mit ihrer Zeitungsabteilung nicht mehr, vieles kann man heute online lesen. Aber hätte ein Amerikahaus heute tatsächlich keine Funktion mehr zu erfüllen?

Für Tilman Fichter, der 1966 dabei war, als auf das Amerikahaus die ersten Eier flogen, ist der Versuch, amerikanische Kultur für Europa attraktiv zu machen, sogar kulturell prägend zu sein, gescheitert, die Mission habe sich erledigt. Ganz anders sieht das Renate Semler. Für sie war das Amerikahaus eine bis zuletzt erfolgreiche Marke, ein Ort, an dem erklärt wurde, was die USA ausmacht und wofür sie stehen. Umso bedauerlicher, dass man diesen Ort aufgegeben habe.

Wie auch immer aber die Bilanz gezogen wird: Bleibt das Gebäude mit dem Schriftzug „Amerika Haus“ länger leer stehen, gibt man es gar dem Verfall preis, wird es seine eigene Symbolkraft entfalten.

Tagesspiegel, 28.6.2008

Palestine Betrayed (by the Palestinians)

by Efraim Karsh
Yale University Press, New Haven
342 pages, 30 photos, 5 maps, appendices and notes

Review by Norman Berdichevsky (September 2012)

This book ranks as absolutely essential reading for anyone interested in learning what happened during the last years of the British Mandate in Palestine and the widespread fighting that followed the U.N. resolution on partition until the end of the hostilities in early 1949. It effectively wipes out the oceans of ink spilt in convincing much of present world opinion and hypnotizing the present generation of Palestinian Arabs that the nakba (disaster) that befell them was inevitable or the fault of Jewish design, intransigence, or duplicity. The “Betrayal” in the title is self-betrayal by the Palestinian Arab leadership who led the people they claimed as their charge into a dead end. The leadership is condemned by its own archives and eye-witnesses in tens of thousands of documents released by the British Foreign Office that serves as the source material for much of the book.

It was the Palestinian Higher Arab Committee (HAC) which willfully misguided, misinformed, and inflamed a large section of public opinion among the Arab community that there could not be any compromise and all who spoke or acted on its behalf were “traitors.” These traitors who all worked for Jewish-Arab cooperation and understanding include such luminaries as the Arab mayor of Haifa, Hassan Shukri (targeted by assassins numerous times), Labor leader Sami Taha and many lesser Arab officials and politicians as well as village chieftains (all assassinated) who worked closely with the Histadrut and refused to cooperate with the many strikes called by the reactionary and extremist leadership within HAC headed by the notorious Haj-Amin al-Husseini, the Grand Mufti of Jerusalem.

Efraim Karsh is a brilliant scholar with the appropriate linguistic tools including fluent Arabic, Hebrew, and English. The evidence marshaled is indeed impressive inasmuch as a good deal of it comes from British Mandatory officials hostile to the Zionist enterprise and the HAC immediately after the “nakba” in the period 1948-1955 before the concerted campaign to rewrite history and turn it upside down.

Karsh’s Palestine Betrayed follows shortly after the magnificent work of Hillel Cohen, whose book Army of Shadows; Palestinian Collaboration with Zionism 1917-1948 surveyed the entire period of the Mandate from 1920 onwards (reviewed in the February 2009 edition of New English Review, “Arab Support for Zionism, 1917-1948“).

Prof. Karsh has uncovered much evidence that many Palestinian Arabs had a sense of betrayal of their cause by their own leadership which he found in the candid admissions made among Palestinian refugees in Gaza. This view is confirmed by Sir John Troutbeck, head of the British Middle East Office of Middle East Affairs in Cairo and a long-time opponent of Zionism who was sent on a fact-finding mission and unequivocally found little or no bitterness toward the Jews, the British, or the Americans and was told, time and again, by refugees that their Arab brothers in HAC persuaded them unnecessarily to abandon their homes. Karsh quotes Troutbeck from his interviews with Arab refugees in Gaza: “I have even heard it said that many of the refugees would give a welcome to the Israelis if they were to come in and take the district over.” (page 2)

Such views regarding the HAC were corroborated early on by the Syrian historian Qustantin Zuraiq and the Palestinian leader and spokesman Musa Alami that it had become clear even after the invasion of the country by the armies of the surrounding Arab states that the masses who had placed trust in their leadership were thoroughly demoralized by its ineffectiveness, disorganization, self-interest, and corruption.

Today, we are told by eminent spokespersons of the Palestinian Arabs cause such as Hanan Ashrawi and the head of the Palestinian Authority, President Mahmoud Abbas (Abu Mazen), himself a historian—of sorts—whose research has led him to deny the Holocaust, who are listened to keenly by Western journalists, that we should believe their claims. These claims all rely on the standard narrative so easily accepted as gospel by many so-called journalists of Jewish treachery, evil intentions, cunning and the almost unlimited power of Jewish interests abroad funneling resources to the Zionists in America, Britain and Russia (in the spirit of The Protocols of the Elders of Zion).

The Palestinian Arab narrative eagerly swallowed today by so many naïve pundits and instant experts totally ignores the history of the Arabs in Palestine since Ottoman time. It obscures the complete lack of any wider identity than identification with the native tribe, clan, religion, and village that prevailed in Ottoman Palestine among the Arab population. This absence of a wider sense of destiny was more than sufficient for the Ottoman authorities to win the continued loyalty of the Palestinian Muslim population and most Christian Arabs, the so-called Great Arab Revolt notwithstanding. The Lawrence of Arabia myth and Lawrence’s alliance with the acknowledged leader at the Paris Peace Conference in Versailles, the Emir Faisal Ibn Hussein of Mecca, made the Arab revolt a factor in Arab affairs and British interests.

It quickly diminished when Faisal was expelled from Mecca and was compensated by the British with his desert kingdom in Transjordan (in spite of the fact that the land both east and west of the Jordan River were promised as a Jewish National Home) and his clan was given a major role to play in Iraq and in Palestine. No Palestinian Arab spokes-person today is ready to admit that the same first prestigious Arab national leader with a recognized international stature befriended the Zionist movement, welcomed Jewish settlement in Palestine, and insisted that there was no irreconcilable barrier to future friendship and cooperation between the two peoples. Faisal proclaimed:

We Arabs, especially the educated among us, look with the deepest sympathy on the Zionist movement…and we regard the Zionist demands as moderate and proper. We will do our best, insofar as we are concerned to help them….we will wish the Jews a most hearty welcome home.”

The enormous gap between such a statement from the most prominent Arab nationalist leader in 1920 to the subsequent extremist leadership of the HAC under the ultra-reactionary Grand Mufti of Jerusalem, Haj Amin Al-Husseini is the true narrative of the betrayal of Palestine and the promise of becoming the most developed and prosperous country in the turbulent Middle East. What is novel for the reader today is the revelation that it was largely among traditional, rural, and conservative Muslims and of course, among the Bedouin that the Balfour Declaration and Jewish settlement were initially welcomed. The Arabs took advantage of the new considerable opportunities to sell marginal land to the Jews and take advantage of improvements in trade, transportation, administration, industry, health, education, and welfare.

Karsh documents the expansion of Arab industry and agriculture, especially related to the cultivation of citrus, olives, cereals, and grapes, and traces how the conservative but moderate religious leadership of the effendi class was displaced by the extremist Muslim forces of the Husseinis and the jockeying for power with the growth of Pan-Arab nationalism. An especially revealing and fascinating chapter of the book, “The Most Important Arab Quisling,” traces the role of the Mufti in undercutting the Nashashibi clan. The latter had cooperated with the British Mandatory government and their Jewish neighbors in the 1936-39 “Arab Uprising.” Ironically, the Nashashibi efforts at demonstrating loyalty and moderation were constantly rebuffed by the British, intent on mollifying the most extreme nationalist and Muslim religious voices within the Arab community.

Important information from first-hand sources follows the actual fighting between irregular Arab forces before the U.N. Partition Resolution in November 1947, the proclamation of the State of Israel in May 1948, the invasion of the country by the regular Arab armies immediately afterwards, until the cessation of hostilities in January 1949. The picture that emerges differs completely from the contemporary nakba view that dominates Arab thinking.

Chapters five through nine present a wealth of documented detail of five major facets of the hostilities and diplomatic maneuvering. They are:

1. The unpreparedness of the Jewish underground forces to undertake combat in large formations with heavy weapons against the array of regular Arab armies and the total lack of air cover.

2. The general unwillingness of large segments of Arab society, notably to participate in attacking their Jewish neighbors;

3. The lack of any concerted design to purposely drive out large numbers of Arab civilians from their homes;

4. The wholly opportunistic and venal campaigns launched in the neighboring Arab states to drum up religious Islamist and nationalist passions against the native Jewish populations (as well as the British and even Greek colonies in their midst);

5. The attempts to backslide by the American State Department and abandon the Jews to their fate rather than risk alienating important economic and strategic interests and alliances with the surrounding Arab states.

All of these essential facts are wholly denied or ignored by the current nakba narrative. Striking evidence of point three is provided by three independent sources—one Palestinian Arab, one British, and one American. They are Farid Saad, head of the local Arab “National Committee” in Haifa, the head of the American Consulate in Haifa , Aubrey Lippincot who cabled Washington on April 28, 1948 just a few weeks before Israel’s Declaration of Independence, and Hugh Stockwell, Commander of British forces in the Northern part of the country. All of them witnessed Haganah attempts to persuade the civilian Arab population of Haifa to remain in the city. Karsh presents convincing evidence of the scores of Arab villages that independently of the AHC signed non-aggression agreements with neighboring Jewish settlements, kibbutzim, and towns not to permit their homes to be used as bases for attacks. Many of the Arab villages where the population objected strongly to the presence of foreign Arab military forces who tried to press-gang them into joining in the hostilities ejected them or even provided Jewish settlements with important information.

This book is meticulously documented with original sources and is a real page-turner that is hard to put down. It is essential to any understanding of what really happened between 1920 and 1948. We learn how divided and at odds with each other different factions were among the Palestinian Arabs, the appeasement of Arab interests by the British, the rivalries among various Arab leaders and their jealousies and reluctance to see King Abdullah of Transjordan profit from any relationship with the Zionists, and even the readiness of the French in Syria and Lebano
n to revel in the difficulties of the British administration in Palestine. What also emerges clearly from Karsh’s research is the desire of the Zionist movement’s leaders from the Labor-Left wing of Weizmann and Ben-Gurion to the so-called “Far Right” of Jabotinsky and the Revisionists to reach some kind of accommodation that did not envision the expulsion or disinheritance of the Palestinian Arabs.

Karsh has been attacked by the so-called Israeli “New Historians,” notably Benny Morris (who, has since recanted many of his initial claims), Avi Shlaim, and Ilan Pappé whose views Karsh interprets as stemming from their desire to find a comfortable academic setting among many European and American historians critical of Israel. He cites numerous contradictions, erroneous citations, and mistranslations in their research that for a period made them well received by those who have made their career based on the nakba narrative.

Karsh’s unassailable conclusion states that….

Even if the Yishuv (Jewish community) had instigated a plot to expel the Palestinian Arabs, which it most certainly did not, the extensive British military presence in Palestine until the end of the mandate, which severely constrained Jewish military capabilities (from the prohibition of the bearing of arms and the confiscation of weapons and arrest of fighters, to the restriction of movement and repeated military interventions on the Arab side), would have precluded the slightest possibility of systematic “ethnic cleansing.”

And so it was that in the four months of fighting that followed the passing of the partition resolution vast numbers of Palestinian Arabs fled their homes even though the Jews were still on the defensive and in no position to drive them out. (p. 237)

The book is accompanied by 60 pages of notes to direct sources, thirty vivid photos and 5 informative maps that aid in making the events leap out from the page. The book also aids the reader with a list of “Dramatis Personae” and a detailed appendix of the Arab population of each city, town, and village on the eve of hostilities.

Source