Über Theodor Lessing – Der jüdische Selbsthass

Die Anregung zu einer wissenschaftlichen
Werkausgabe Theodor Lessings geht auf den Biografen Rainer Marwedel zurück, der
im Jahre 1990 für seine Lessing-Biografie den Carl von Ossietzky-Preis der
Stadt Olden­burg erhalten hat und auch an der Erarbeitung der Ausgabe mitwirken
wird. Eine bemer­kenswerte Zufälligkeit ist, dass der Enkel Theodor Lessings
Professor an der Univer­sität Oldenburg ist, der Informatiker Peter Gorny,
dessen Familienarchiv schon für die Vorarbeiten genutzt werden konnte. Mit dem
bevorstehenden Abschluss der Vorarbeiten wird ein Generationswechsel in der
Leitung verbunden sein; sie wird in den Händen der Literaturwissenschaftlerin
Sabine Doering liegen. Die Interdisziplinarität bleibt durch die
Wissenschaftlichen Mitarbeiter und eine beratende Mitwirkung der Politikwis­senschaftler
Gerhard Kraiker und Joachim Perels (Uni Hannover) gewährleistet.

Ein
großer Publizist der Weimarer Republik – Theodor Lessing


D
er
Kulturphilosoph Theodor Lessing (1872-1933) mag dem heutigen inter­essierten
Publikum schon einmal begegnet sein, etwa durch seine 1925 erschienene Studie
über den berüchtigten Hannover­schen Serienmörder Fritz Haarmann. Auch die
Schrift „Der jüdische Selbsthaß“ von 1930 gehört noch heute zu den bekannteren
Werken. Zumindest der Titel dieses Werks ist weithin geläufig. Lessings
philosophische Arbeiten dagegen, etwa seine „Studien zur Wertaxiomatik“, seine
Sammlung „Phi­losophie als Tat“ oder die kulturkritische Abhandlung „Europa und
Asien“ sind nur einem engen Fachpublikum vertraut. We­niger bekannt ist auch,
dass der Philosoph zugleich als Mediziner, Pädagoge und Psy­chologe, als
Dichter, als Theaterkritiker und -theoretiker sowie als politischer Publizist
schriftstellerisch tätig war. Selbst an seine hochaktuelle Studie zum Lärmschutz
und seine Initiative, eine Bewegung gegen den Lärm ins Leben zu rufen, erinnert
sich kaum noch jemand, was nicht zuletzt daran liegt, dass sein außerordentlich
umfangreiches, weit verstreut erschienenes publizistisches Werk – mehr als
fünfhundert Artikel, Essays, Glossen oder Feuilletons – bis heute nicht
vollständig erschlossen ist und lediglich in einigen Auswahlausgaben vorliegt.

Wer
war dieser Autor, der einerseits zwei­fellos zu den großen kritischen
Publizisten der Weimarer Republik gehört, dem auf der anderen Seite der Ruf
eines Außenseiters und eines Unzeitgemäßen anhaftet und dessen facettenreiches
Werk bisher nur in der Biografie von Rainer Marwedel eine erste angemessene
Aufarbeitung erfuhr? Eine grobe Skizze muss hier genügen.

Theodor
Lessing war der Sohn eines an­gesehenen jüdischen Arztes aus Hannover. Auf
Wunsch des Vaters studierte er zunächst Medizin, wandte sich dann der
Psychologie und Philosophie zu, worin er schließlich im Jahr 1899 mit einer
Arbeit über den russi­schen Philosophen Afrikan Spir promovierte. Nebenbei
verfasste er einen Roman, mehrere Theaterstücke und Gedichtsammlungen, die zwar
publiziert wurden, aber kaum Beachtung fanden. In den folgenden Jahren
arbeitete Lessing als Lehrer an reformpäd­agogischen Schulen, hielt Volkshochschul­vorträge,
aus denen seine Einführung in moderne Philosophie „Schopenhauer, Wag­ner,
Nietzsche“ entstand, die 1906 erschien. Darin entwickelt Lessing seine
„Philosophie der Not“, die Not als materialen Kern und Triebkraft der
geschichtlichen Phänomene erklärt. 1907 habilitierte er sich mit einer Schrift
zur Kant’schen Ethik, erhielt 1908 eine Privatdozentur an der Technischen
Universität Hannover, wurde 1923 zum außerordentlichen Professor ernannt und
erhielt einen Lehrauftrag für Philosophie der Naturwissenschaften.

Der
Euphorie des Ersten Weltkriegs verfiel Lessing nicht, im Gegensatz zu vielen an­deren
Intellektuellen. Er arbeitete als Laza­rettarzt und schrieb an seinem Buch
„Europa und Asien“, einer kulturkritischen Gegen­überstellung von asiatischer
Lebensweise und europäisch-technischer Zivilisation, das, von der Militärzensur
verboten, erst 1918 erscheinen konnte. Unter dem Eindruck des Krieges entstand
auch sein Werk „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ (1918), das Geschichte
– die Aktualität ist unübersehbar – als eine Konstruktion von Wunschbildern
begreift, die häufig genug zur Legitimation von Gewaltakten dienen.

Vom
Bücherschreiben war keine Familie zu ernähren, so dass Lessing gezwungen war,
auch nach dem Krieg seine mühevolle publizistische Arbeit wieder aufzunehmen.
Daran änderte auch seine Hochschullehrer­stelle nichts, denn man verweigerte
ihm die Verbeamtung und sein Entgelt war minimal. Vor dem Krieg hatte Lessing
re­gelmäßig Theaterkritiken für die „Göttinger Zeitung“ oder Aufsätze über das
Theater in Siegfried Jacobsohns „Schaubühne“ geschrieben. Außerdem publizierte
er in den Zeitschriften „Die Gegenwart“, „Die Gesellschaft“, „Nord und Süd“.
Nach dem Krieg veröffentlichte er in politisch-kulturellen Zeitschriften bzw. Zeitungen
wie „Das Tage-Buch“, der „Aktion“, dem „Prager Tagblatt“ und dem „Dortmunder
Generalanzeiger“.


Lessing war ein streitbarer Publizist. So führ­te z.B. seine 1910 erschienene
boshafte Satire über den Literaturkritiker Samuel Lublinski, den Lessing als
Repräsentanten eines as­similierten, „verfehlten Kulturjudentums“ ansah, zum
öffentlichen Protest zahlreicher Publizisten und Schriftsteller.


Lessings lebenslange Auseinandersetzung mit der Welt der Ostjuden wie mit dem
Typus des assimilierten jüdischen Intellektuellen, mit dem Zionismus oder mit
der Psycho­pathologie des jüdischen Selbsthasses war zugleich ein Ringen um die
eigene Identität als deutsch-jüdischer Intellektueller. 1925 löste die schon
erwähnte, aus einer Serie von Prozessberichten entstandene Haarmann-Studie
einen Skandal aus, weil Lessing darin den Weltkrieg mit dem Massenmörder in
Beziehung setzte und auf den schmalen Trennstrich zwischen Barbarei und
Zivilisa­tion aufmerksam machte. Zu einer heftigen öffentlichen
Auseinandersetzung führte im gleichen Jahr seine anlässlich der anste­henden
Reichspräsidentenwahl verfasste hellsichtige Warnung vor dem Kandidaten
Hindenburg. Nach einem von nationalen und völkischen Gruppen initiierten
Vorlesungs­boykott und der Gründung eines „Kampf­ausschusses gegen Lessing“
wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen, er musste fortan mit einem schlecht
dotierten Forschungsauftrag vorlieb nehmen.

 

Spätestens seit dieser Affäre war
Lessing in rechtsnationalen und antisemitischen Krei­sen einer der
meistgehassten Publizisten. Im März 1933 sah er sich zur Emigration gezwungen.
Er ging zunächst nach Prag, kurz darauf nach Marienbad, um sich dort mit seiner
Familie niederzulassen und eine Schule für jüdische Emigrantenkinder zu
eröffnen. In Deutschland wurden unterdessen seine Bücher verbrannt. Bereits im
Juni war in sudetendeutschen Zeitungen zu lesen, die deutsche Regierung habe
auf ihn eine Prämie von 80.000 Reichsmark ausgesetzt. In der Nacht des 30.
August 1933 wurde Lessing von zwei sudetendeutschen Nationalsozia­listen
ermordet.

Ein
Beitrag zur Wiederentdeckung

Eine noch von Lessing
selbst geplante Ausgabe seiner Schriften kam nicht mehr zustande. Es erschienen
lediglich seine Erinnerungen als erster einer auf zehn Bände ausgelegten
Edition. Den unter ande­rem von Bertrand Russell, Albert Einstein, Romain
Rolland und Max Brod unterstütz­ten Plan einer Gesamtausgabe machte der Zweite
Weltkrieg zunichte. Danach wurden einige von Lessings selbständigen Publi­kationen
wieder gedruckt, aber ebenso wie die Sammlungen seiner kleineren Schriften
waren diese Neudrucke als Leseausgaben konzipiert, die weder eine textkritische
Aufbereitung noch einen eingehenden Kommentar bieten. Eine wissenschaftlich
edierte und kommentierte Ausgabe der Ge­sammelten Schriften fehlt bis heute.
Dabei könnte eine solche Edition, wie sie an der Universität Oldenburg in
Zusammenarbeit mit Hannoveraner Wissenschaftlern und dem Göttinger Wallstein
Verlag entstehen soll, der Erforschung des Lessing’schen Werks einen wertvollen
Dienst erweisen, in­dem sie vor allem eine gesicherte Textbasis herstellen, die
bisher nur zum kleineren Teil edierten publizistischen Arbeiten versam­meln und
das Werk in seiner ganzen Breite und Vielfalt erstmals zugänglich machen würde.
Ein Kommentar könnte neben den üblichen Sach- und Worterläuterungen, der
Aufklärung von Anspielungen oder Angaben zu genannten Personen Informa­tionen
zum fachspezifischen oder histo­rischen Kontext der Texte bieten. Gerade die
publizistischen Texte sind häufig eng an ihren Publikationskontext gebunden,
den ansatzweise zu rekonstruieren für ein heutiges Textverständnis unerlässlich
ist, wie die beiden Oldenburger Vorgängeredi­tionen zeigen.

 

Zu entdecken wäre ein Autor, der in
seinem die Grenzziehungen wissenschaftlicher Disziplinen überschreitenden
Denken und Schreiben als Kulturwissenschaftler par excellence gelten kann. Sein
Werk spiegelt in der kritischen Akzentuierung der Moder­nisierungsprozesse in
beeindruckender Weise die intellektuellen, kulturellen, sozialen und
politischen Umbrüche der Moderne in Kai­serreich und Weimarer Republik wider
und kann in vieler Hinsicht als originärer Beitrag zu der seinerzeit schon
begonnenen Debatte um die Dialektik der Aufklärung gelten. Und nicht zuletzt
zeigen sich in Lessings Werk die Probleme jüdischer Assimilation/Akkultura­tion
in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

„Der jüdische Selbsthass“ online: http://archive.org/stream/DerJdischeSelbsthass