Matthias Matussek: Meine Stunde als Antisemit

Mich hat die dunkle Vergangenheit eingeholt. Nein, nicht die aus dem Krieg, sondern aus einer wesentlich komfortableren und leichtsinnigeren Kampfzone, der des Meinungsgewerbes. 

Also, ich habe dummes Zeug geschrieben.

Ein Freund hat eine Kolumne von mir ausgegraben. „Das Recht auf Zorn“. (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-22702451.html)

Ich hatte mich vor gut zehn Jahren in einer Antisemitismus-Debatte vor den Desperado-FDP-Politiker Jürgen Möllemann gestellt. Vielleicht tat er mir leid, vielleicht hat mich auch nur das Kesseltreiben der gesamten Öffentlichkeit gegen ihn geärgert.

Vielleicht war ich auch zu weit weg, nämlich auf einem Boot in Patagonien, wo ich mich mit einem israelischen Kollegen über das Nahost-Problem stritt. Was sonst bespricht man auch am Ende der Welt zwischen treibenden Eisbergen?

In jenen Tagen, 2002, hatte Möllemann im fernen Deutschland im wesentlichen die Positionen vertreten, die Jakob Augstein heute in seinen kämpferischen Kolumnen verbreitet, zumindest in den riskanteren Formulierungen, und von denen gibt es einige. Ja, das Erstaunliche ist: Heute wäre Möllemann so salonfähig wie Jakob Augstein.

Auch Möllemann äußerte Verständnis für jene zornigen jungen Männer, die damals wie heute morden; er warf Israel vor, Antisemiten zu züchten; und er warf Michel Friedman, damals noch im Zentralrat der Juden, vor, durch sein „gehässiges“ Benehmen in Talkshows dasselbe in Deutschland zu tun.

Ein wahrer shitstorm brach damals über Möllemann herein. Claudia Roth bebte, Friedman tobte, Henryk Broder nannte ihn einen Antisemiten und nahm mich als dessen Unterstützer aufs Korn, und der Zentralrat der Juden empörte sich über Möllemanns „antisemitische Klischees“.

Für meine Kolumne war mir das Gespräch in Patagonien auf dem Schiff eingefallen. Dem israelischen Kollegen gegenüber vertrat ich das, was heute Mehrheitsmeinung ist. Ich sagte, dass Sharon ein Kriegsverbrecher sei und Israels Besatzungspolitik brandgefährlich. Ich schrieb:

„Möllemanns Äußerungen sind pro-palästinensisch und damit automatisch anti-israelisch. Aber antisemitisch? Was soll daran antisemitisch sein, Michel Friedman nicht zu mögen? Was soll daran antisemitisch sein, ihm vorzuwerfen, er sei gehässig und provoziere?“

Nun war Möllemann ein tragischer politischer Rabauke. Er brachte sich ein Jahr später, 2003, verheddert in dubiose Wahlkampffinanzierungen und verfemt selbst in der eigenen Partei, durch einen Fallschirmsprung um. Möllemann neigte zu Kurzschlüssen.

Jakob Augstein dagegen ist ein liebenswerter, hochintelligenter Kollege, mental völlig ausbalanciert.

Dennoch: So peinlich, wie es mir heute ist, dass ich einst Möllemanns wirre Thesen verteidigt habe, so schmerzhaft ist es zu sehen, wie die großen Feuilletons der Republik unter Möllemanns Motto zusammenrücken, das längst auch das von Grass ist. Man wird ja wohl noch sagen dürfen. Genauer: „Was gesagt werden muss“.

Wir haben uns offenbar beide geändert, die Mehrheitsmeinung und ich. Der einzige, der sich treu blieb, ist Henryk Broder.

Die Mehrheit im Lande ist israelkritischer geworden, ich habe mich in die Gegenrichtung aufgemacht. Ich finde, ich habe die besseren Gründe. Denn in den letzten zehn Jahren ist einiges passiert.

Israel ist bedroht wie nie zuvor. Der Frühling der arabischen Revolution verdüstert sich zu einem islamistisch getränkten Territorial-Gürtel. Irans Ahmadinedschad baut an der Atombombe mit dem erklärten Ziel, Israel von der Landkarte zu wischen. Schon ein Blick auf die Landkarte genügt, um festzustellen, dass Israel gut daran tut, sich bis an die Zähne zu bewaffnen.

Aus dem Gaza-Streifen, den Jakob Augstein ein „Lager“ nannte, haben sich die israelischen Besatzer längst zurückgezogen. Heute herrscht dort unangefochten die Hamas, die Raketen auf Israel abschießt, jene Hamas, die die Adorno-Preis-Trägerin Butler eine „Befreiungsbewegung“ nennt.

Henryk Broders Argument, dass es heute nicht darum gehen kann, in einer linken Antifa-Folklore den Widerstand gegen Hitler nachzuholen, sondern darum, den Holocaust der Zukunft zu verhindern, gewinnt jeden Tag mehr an Plausibilität.
Die politischen Koordinaten haben sich verschoben, nach links. Ja, auch das hat sich geändert.

Eine besondere Pikanterie in der Möllemann-Debatte lieferte damals die Berliner FDP-Ortsvorsitzende Susanne Thaler, die unter anderem deshalb aus der Partei austrat, weil sie hinter Möllemanns Wahlziel „18 Prozent“ eine alphabetische Spielerei mit den Initialen Adolf Hitlers vermutete.

Das Dechiffriersyndikat schaute damals entschlossen nach rechts, es schaute nach hinten. Es schaute in die falsche Richtung. Frau Thaler hätte ihren Blick nach links wenden sollen, dahin, wo sich die antiimperialistischen und antikolonialistischen Meinungsstrategen zu einem salonfähigen antiisraelischen und bisweilen antisemitischen Feuilletonbündnis zusammengefunden haben. Hier wäre Möllemann heute nicht mehr ein Verfemter, sondern ein „role model“, ein Vorbild.

Vielleicht war ich damals, in Patagonien, einfach zu weit weg. Allerdings scheint mir, dass man in den Wohnzimmern der deutschen Komfortzone mindestens ebenso weit weg ist vom Überlebenskampf der Juden in einer der gefährlichsten Regionen der Erde.

Wie sehr sich die Gesamtlage bei uns verschoben hat: Natürlich ist jenes jüngste Gedicht von Günther Grass, der nicht in der Bomben bastelnden islamistischen Diktatur Iran, sondern im Judenstaat Israel eine Bedrohung des Weltfriedens sieht, ein Skandal. Und es tat mir weh zu sehen, wie Jakob Augstein Grass zur Hilfe eilt.

Er verschlimmerte Grass ins Grundsätzliche, indem er schrieb: „Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst, weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen.“

Nun, für mich hat Grass nicht gesprochen. Ich glaube, dass Jakob Augstein diese Parteinahme für Grass mittlerweile leid tut. Womöglich hat er sich verführen lasen durch die Aufmerksamkeitsökonomie des Kolumnen-Geschäfts, das die Schrillheit belohnt. Ich glaube nicht, dass Jakob Augstein ein Antisemit ist, der die Juden für eine minderwertige Rasse hält. Nicht einmal Broder glaubt das.

Broder, der Polemiker und Börne-Preisträger, spielt den Narren für uns. Er sagt, was wir nicht hören wollen. Er geht an die Grenze, wenn er sich, als Trauer-Stele verkleidet, über unsere hohl gewordenen Trauerrituale zum Holocaust lustig macht. Wir brauchen ihn. Sätze wie jener aus der „Frankfurter Rundschau“ – „Es spricht für den deutschen Rechtsstaat, dass Henryk M. Broder bis heute frei herumläuft” – sind ruchlos.

Sicher, manchmal schießt Henryk Broder wütend über das Ziel hinaus, das ist das Risiko eines jeden Polemikers – und die Juden Heine und Börne waren nicht zimperlich, wenn es um den Einsatz des Antisemiten-Knüppels ging. Für seinen Streicher-Vergleich hat sich Broder entschuldigt. Er hat sich auch deswegen entschuldigt, weil er, wie er jetzt eingesteht, “ablenkt“. Er war „nicht hilfreich“, schrieb er, denn die Gefahr droht nicht von ewiggestrigen Nazi-Rülpsern, sondern von einer gängigen Verharmlosung der aktuellen Bedrohung Israels im linken juste milieu, einer Verharmlosung, die dem aktuellen Antisemitismus in die Hände spielt. Und der tritt nun mal im Nahen Osten in der gewalttätigen und täglich mörderischen Armatur des Islamismus auf, und er könnte tatsächlich eines Tages zu einem erneuten Holocaust führen, diesmal durch einen verheerenden Militärschlag.

In dieser Lage leben die Juden. Von Vern
ichtung bedroht. Ich verstehe ihre Lage. Viele derzeitige Kommentatoren, so Dieter Graumann im aktuellen SPIEGEL„ begreifen das jüdische Trauma nicht. „Wir werden uns nie wieder der Gefahr der Vernichtung aussetzen, diese Lehre brennt in uns allen. Das ist unsere Erfahrung, unsere Geschichte. In der Tat erwarte ich von einem deutschen Journalisten ein Mindestmaß an Gefühl dafür.“

Israel, dieser begrünte Sandstreifen von der Größe Hessens, ist von zunehmend grimmigen islamistischen Land- und Staatenmassen umlagert. In Jerusalem, Tel-Aviv oder Beer Sheva zu leben, erfordert doch ein wenig mehr Nervenstärke als es die Warterei auf ein Schnitzel im „Borchardt“ verlangt.

Zur Illustration der ganz alltäglichen Gefahr dort, in der Region des „gelobten Landes“, zum Schluss noch eine weitere Anekdote, aus einem anderen Boot.

Wir waren mit dem Tauchlehrer Hussein im Roten Meer unterwegs. Unter uns und neben uns Delphine und bunte Kaiserfische und schillernde blaue und schwarzweiße Schwärme, in lautlos friedvoller Stille.

Worüber redet man, wieder an Bord? Natürlich über Israel.

„Die haben damals doch nur gewonnen, weil sie aus der Luft angegriffen haben“, sagte Hussein, „die sollen verschwinden, je schneller desto besser, die stiften hier nur Unfrieden.“

Nichts gegen Juden, aber sie stören.

Und die Scharia hält Hussein für eine wichtige Errungenschaft. Das Gesetz muss streng sein. Wenn seine Frau ihm untreu würde, würde er nicht erst auf ein Urteil warten – er würde sie persönlich steinigen.

Das sagte er in reinster Unschuld, mit der größten Selbstverständlichkeit. Er war ein ruhig lächelnder Buddy-Typ. Natürlich hat Hussein die Muslim-Brüder gewählt.

Doch ich habe noch andere Gründe, die zunehmend fundamentalistische Arabellion mit Besorgnis zu betrachten. Kurz zuvor war ich in einem koptischen Gottesdienst in Hurghada. Er fand in einer Neubaugegend in einer Schule statt, streng bewacht, denn der Terror-Anschlag auf die Kopten in Alexandria vor genau zwei Jahren ist noch frisch in Erinnerung.

Ich erlebte dort eine Liturgie, die annähernd 2000 Jahre alt ist, aus jener Ur-Kirche, die man die der Märtyrer nennt. Ich erlebte freundliche Schwestern im Habit, uralte Gesänge und Gebete, spielende Kinder, Ehrfurcht und Freundlichkeit und eine Krippe aus Pappe. Sie wirkten wie übrig Gebliebene.

Der Publizist Michael Hesemann hat die Geschichte dieser Urchristen in dem packenden Buch „Jesus in Ägypten“ beschrieben. Nun fliehen die Kopten wieder aus Ägypten, bisher sollen es mehr als Hunderttausend sein. Die Christen sind, nach Auskunft der UNO, heute die am stärksten verfolgte Religionsgruppierung weltweit, und das sind sie in erster Linie in islamischen Ländern.

Meine Lässigkeit ist dahin.

Also, mea culpa, ich habe mich mittlerweile korrigiert.

Und ich bin sicher, auch Jakob Augstein wird es eines Tages tun.

Quelle: Achse des Guten, 14.1.2013