Jürgen Kaube: Beschneidung

Jürgen Kaube: Beschneidung (FAS, 1.7.2012)

 Jahrgang 1962, stellvertretender Leiter des Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

 Wenn die Identitäten der einen die Risiken der anderen sind, wird Kultur zur Rechtsfrage.

Auf die
Frage, weshalb man
etwas tue, lautet eine
beliebte Antwort: ,,Weil wir das immer so getan haben.”
Die Muslime bedienen sich jetzt in der Frage der Beschneidung kleiner Jungen dieser Begründung. Die Antwort, Allah verlange
es,
steht ihnen nicht zur
Verfügung,
es gibt keine Hinweise darauf. ,,Es gehört einfach dazu” oder ,,Es ist ein Kulturgut” sind die folgerichtigen Formulierungen von
Vertretern der türkischen Gemeinde in Deutschland,
um dieses Ritual zu rechtfertigen.

Das Judentum hingegen kann ein Gebot in seinem heiligen Text vorweisen und sogar eine Zeitangabe, wann die
Beschneidung zu erfolgen
habe.
Auch hier erschöpfen sich die Gründe aber nicht im Gehorsam gegenüber einer
göttlichen Weisung. Zu Recht weisen israelische Gegner des Rituals
– rund zwei Prozent der
jüdischen
Familien in Israel verzichten darauf auf die Merkwürdigkeit hin, dass andere Gebote, etwa gegen
Schweinefleisch und gegen die Schabbatunruhe,
durchaus umgangen werden, ohne dass eine ,,jüdische Identität” aberkannt oder
in Gefahr gesehen würde.

Alle Weltreligionen durchlaufen seit
Jahrhunderten Anpassungsprozesse, was ihre Sündenbegriffe, ihre Strafprakti
ken, ihre Rituale und die Identitätszeichen ihrer ,,Kultur” angeht. Polygamie,
Tieropfer, die Klassifikation von
Nichtmitgliedern als Feinden – die Liste
dessen, worüber sich
ebenfalls Sätze wie ,,haben wir schon immer so gemacht” und ,,gehört zum Kernbestand der
Identität” bilden ließen,
ist
lang. Nicht immer nahmen dabei Glaubensgemeinschaften freiwillig
oder durch allmähliche Gewöhnung Abstand von ihren Praktiken.

Was den Fall
der Beschneidung aus religiösen Motiven angeht, der durch ein jetzt
veröffentlichtes Urteil des Kölner Landgerichts vom 7. Mai 2012 prominent
wurde, so liegt es auf der Hand, dass Tradition nur ein
religionssoziologisches, aber kein rechtliches Argument ist. Denn wenn die
Identitäten der einen die Risiken der anderen sind, wird Kultur zur
Rechtsfrage. Um wie viel mehr, wenn es sich am die Risiken von Bürgern handelt,
die noch nicht für sich selbst entscheiden können, den analogen Fall
,,intersexueller” Kinder oder Behinderter, bei denen jeweils genitale
Eingriffe vorgenommen werden, eingeschlossen. Auf den Verdacht der
Körperverletzung zu prüfen ist hier keine juristische Spitzfindigkeit, sondern
sollte vielmehr normal in einem Rechtsstaat sein, der vor allem die zu schützen
hat, die es nicht selbst können.

Aber bei vielen,
die sich als ethische Experten zu Wort melden, konkur
riert das Mitempfinden mit Kulturen
stark mit dem für Säuglinge und Kleinkinder, von denen bekannt sein dürfte,
dass
sie schmerzempfindlich und schutzlos sind. ,,Es muss die Gesundheit
des Kindes gegen das Recht, zu entscheiden, was man für ein gutes und richtiges
Leben hält, abgewogen
werden”,
meint beispielsweise der
Berliner Ethikprofessor und Theologe Michael Bongardt, wobei
er mit ,,man”
die Eltern meint. Richter
sollen also Konzepte von gutem Leben
gegen die
Unversehrtheit der Kinder abwägen?
Professor welcher
Ethik
ist man, wenn man das Abwägungsergebnis für
offen hält? Wäre für den Theologen auch die Tätowierung von Ein
jährigen ein solcher Abwägungsfall? Müssen
wir auf eine Retrokultur warten, die das
Abbinden von Mädchenfüßen verlangt – in China einst auch eine lange
Tradition und ganz eng
mit der chinesischen Identität verbunden -, um die Rohheit dieses Geredes vom guten Leben zu begreifen, dessen Risiken
Wehrlose tragen sollen?

Besonders
feinsinnig sind Argumente wie das, Erziehung
bedeute eben
irreversible Festlegung. Oder
der
Appell an Toleranz: als
wäre sie in
Frage gestellt, wo nicht verlangt wird, von
religiösen Eigentümlichkeiten abzusehen, sondern nur, sie nicht an Kindern zu
exekutieren. Der Heidelber
ger
Ethiker
Wolfgang Eckart wiederum vergleicht die Beschneidung mit dem Piercing
oder der modischen
Entfernung
von
Scham- und Achselbehaarung unter dem Gesichtspunkt
von ,,Praktiken, die lange
vor
(und jenseits) der individuellen Entscheidungsfähigkeit für kulturelle
Identitäten stehen” und
als
solche ,,sensiblen
Respekt” verdienten. Worin immer der
sensible Respekt für ein rasiertes Ge-schlechtsteil bestehen könnte – der
Professor führte das in der .,Süddeutschen Zeitung” nicht aus -, die
Sprachwahl selbst verdient Aufmerksamkeit. Zivile Indifferenz genügt offenbar
nicht mehr. Anerkennung wird verlangt. Was Mode genannt und als solche
selbstverständlich hingenommen werden könnte, will „Teil der kulturellen Identität”
heißen.

Doch Piercing
könnte noch so identitätsstiftend sein: Das Durchlöchern der Zunge eines
Zweijährigen oder Säuglings wäre doch eine Körperverletzung. Säuglinge haben
auch keine kulturelle Identität, sie sind mit der Entwicklung einer
persönlichen und physischen voll beschäftigt. So viel Säkularität muss ihnen
zugestanden werden. Und so viel Abwarten den Religionsgemeinschaften und Eltern
abverlangt. Wie gering müsste auch das Zutrauen in eine Kultur und eine
Glaubenskraft sein, wenn ihre Zeichen unbedingt an Unmündigen angebracht werden
müssten?

Quelle: Mesop.de

4 thoughts on “Jürgen Kaube: Beschneidung”

  1. Das Wohl des Kindes
    28.06.2012· Ist Beschneidung Körperverletzung? Das Recht auf körperliche Unversehrtheit steht dem auf Religionsfreiheit gegenüber. Doch das Kindeswohl kann nicht ausschließlich von Bräuchen abhängig gemacht werden.
    Von JÜRGEN KAUBE
    Das Landgericht Köln hat, in zweiter Instanz, die Beschneidung eines vierjährigen Jungen aus religiösen Gründen für eine Körperverletzung und also für strafbar erklärt. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland findet das unerhört und unsensibel. Er beruft sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, in das jenes Urteil für ihn einen „beispiellosen und dramatischen“ Eingriff darstellt. Tatsächlich ist die Beschneidung als rituelle Bekräftigung der Religionszugehörigkeit durch ein empfindliches Opfer seit Tausenden von Jahren im Nahen Osten üblich und in Genesis 17, 10-14 festgehalten. Im Koran wird sie nicht erwähnt, aber von vielen Muslimen für ein unbedingtes Gebot erachtet.
    Schon vor einiger Zeit hatte ein Artikel zweier Ärzte und eines Juristen im „Deutschen Ärzteblatt“, in dem die strafrechtlichen Folgen dieses Eingriffs an nicht einwilligungsfähigen Jungen erläutert wurden, den Protest der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs hervorgerufen. Auch damals wurde das Recht der Religionen, nach ihrem rituellen Vorschriften zu leben, ins Feld geführt. In den Debatten über das Schächten wie in denen über Gebetsräume in Schulen oder Bekleidungsgepflogenheiten im öffentlichen Amt kehrt das Argument regelmäßig wieder. Der Klageweg bis nach Karlsruhe wird wohl beschritten werden. Ob dort dann allerdings tatsächlich, wie von Kommentatoren vermutet, das Beschneidungsverbot als ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften bezeichnet werden wird, ist fraglich. Denn es gibt dieses Selbstbestimmungsrecht nicht.
    Die Einwilligung des Patienten
    Was es gibt, ist ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Und es gibt das Recht auf Religionsfreiheit der einzelnen Person, das die Freiheit zu einer bestimmten Religion, aber auch die, von aller Religion abzusehen, mit einschließt. Außerdem gibt es das Recht von Eltern, für ihre Kinder bestimmte Entscheidungen zu treffen. Bestimmte Entscheidungen, nicht alle. Letzterem steht die allgemeine Schulpflicht eventuell ebenso entgegen, wie es die Individualrechte tun.
    Nach geltender Rechtsprechung ist jeder ärztlicher Heileingriff eine Körperverletzung, für die es dann gute Gründe braucht. Der wichtigste gute Grund ist die Einwilligung des Patienten. Er ist so wichtig, dass selbst Eingriffe, die medizinisch ohne Alternative und erfolgreich waren, als Körperverletzungen gelten, wenn die Einwilligung fehlt. Sie allerdings kann zum Wohl des Kindes durch die Eltern erfolgen. Medizinische Fassungen dieses Kindeswohls sind im vorliegenden Fall umstritten. Und weiter:
    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/urteil-zur-beschneidung-das-wohl-des-kindes-11801160.html#Drucken

  2. Rest des Kaube-Textes:

    Es gibt eine ebenso umfassende wie letztlich unergiebige Debatte darüber, worin die hygienischen und epidemiologischen Vorteile einer Beschneidung liegen mögen. Dass sie deshalb schon bei Unmündigen zu erfolgen habe, behauptet auch in dieser Debatte niemand.
    Nur Tradition?
    In der jetzt anhängigen Diskussion wird das Wohl des Kindes über seine Teilhabe an der religiösen Gemeinschaft oder an einem Milieu angestrebt. Es geht um Symbole. Der Eingriff, darauf läuft dieses Argument hinaus, ist keine Körperverletzung, weil er sozial adäquat erfolgt. Besonders malerisch hat das im Jahr 2007 das Landgericht Hanau formuliert, das feststellte, die Beschneidung sei „eine gute Tradition, die dem Vorbild des Propheten folgt“, ein Prüfkriterium für Rechtlichkeit, das man gewiss nicht auf alle Handlungen aller Propheten ausdehnen möchte. Auch die Statuspassage „eines Jungen in die männliche Erwachsenenwelt“, die in Hanau gefiel, ist kurz nach der Geburt oder im Alter von vier Jahren etwas früh angesetzt. Der entsprechende Beschluss wurde im selben Jahr noch vom OLG Frankfurt aufgehoben.
    Worin also liegt das Wohl des Kindes, ohne eigene Einwilligung beschnitten zu werden? Die Religionszugehörigkeit ist weder im Islam noch im Judentum davon abhängig, sie wird durch dieses Ritual nur bekräftigt. Dem Passauer Strafrechtler Holm Putzke, der sich am ausführlichsten mit den rechtlichen Grenzen der Beschneidung befasst hat, genügt auch ihre Funktion als Unterscheidungsmerkmal, als „Identifikationsmittel“, nicht. Denn, so formuliert er, „eine Rechtsfrage lässt sich nicht lösen, indem man das Problem auf eine rechtsfreie Ebene verschiebt“, was aber geschähe, wenn Handlungen allein deshalb zulässig seien, weil sie eine Tradition darstellen. Die Tradition selbst kennt Ausnahmen, die es erlauben, die Beschneidung aufzuschieben, die muslimische kennt gar keinen festen Zeitpunkt – was also spricht dagegen, dass die Religion nachgibt, wenn ein hohes Rechtsgut dadurch geschützt würde?
    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/urteil-zur-beschneidung-das-wohl-des-kindes-11801160.html#Drucken

  3. Der blutige Schnitt
    Beschneidung ist jetzt illegal: Warum das richtig ist und auch wieder nicht.
    Für Karl Marx war die Kritik der Religion die Voraussetzung aller Kritik, und Religionen überflüssig zu machen, indem man die Verhältnisse auf Erden für alle so angenehm machte, dass es des spekulativ-religiösen Trostes nicht mehr bedürfte, wäre nicht die kleinste Menschheitsaufgabe. Vor diesem Hintergrund wäre das Urteil des Landgerichts Köln, wonach die Beschneidung auch von Jungen, wie sie bei Juden und Muslimen üblich ist, als Körperverletzung und also Straftat gewertet werden muss, ein Akt der Aufklärung. „Mit anderen Worten: Das Kindeswohl kann nicht ausschließlich von Gepflogenheiten einer Religionsgemeinschaft abhängig gemacht werden. Bräuche, die in die körperliche Unversehrtheit eingreifen, sind abzuschaffen. Wer Richtern, die dem folgen, den Vorwurf macht, sie machten den Rechtspositivismus zu einer Ersatzreligion, macht ihnen in Wahrheit das größte Kompliment.“ (Jürgen Kaube, „FAZ“)
    Eingriff in die körperliche Unversehrtheit
    Rechtsstaat also gegen (barbarisches) Brauchtum – schön. Kein Kind soll einem Akt unterworfen sein, dem es nicht zustimmt (gar nicht zustimmen kann) – noch besser. Am besten wäre es allerdings, ließe sich nachweisen, das „Kindeswohl“ litte unter der Beschneidung auf irgendeine Weise, und so die medizinisch-hygienischen Gründe für die Beschneidung, wie immer man dazu steht, doch immerhin handfeste sind (u.a. geringeres Risiko einer HIV-Infektion, geringeres Risiko für Harnwegsinfektionen), klingen die Argumente fürs Gegenteil eher so: „Der Psychoanalytiker Matthias Franz versucht eine Erklärung: Die Verunsicherung muslimischer Jugendlicher und Männer hänge womöglich auch mit dem ,Genitaltrauma‘ der Beschneidung zusammen … Auf dem Höhepunkt der ödipalen Entwicklungsphase, sagt Franz, werde dieser blutige Schnitt gemacht. Ängste und ein Groll gegen die Mutter seien mögliche Folgen“, ebenso wie „der narzisstische Ehrbegriff mit hoher Kränkbarkeit“, weswegen der Muselmann, dies die vorbildlich kulturalistische Folgerung Richard Wagners von der „FAS“, eben auch zu Ehrenmord und Totschlag neige.
    Gut, dass wir darüber mal gesprochen haben.
    Richtig ist, dass eine Beschneidung ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist; richtig ist auch, dass sie im Westen lange Zeit geradezu Mode war und in den USA bis zu 90 Prozent der männlichen Neugeborenen beschnitten wurden; und richtig ist ferner, dass die feinsäuberliche Trennung von Brauchtum und Kindeswohl eine Halluzination ist, solange wildfremde Männer Säuglingen Wasser über den Kopf gießen, um sie auf das Schuldgefühl zu verpflichten, für den Foltertod eines Wanderpredigers verantwortlich zu sein; so wie angenommen werden darf, dass der zeitgenössische Brauch, Kindheit und Jugend zum pausenlosen Ausbildungsparcours umzumodeln, mit dem „Selbstbestimmungsrecht der Kinder“, was immer das sei, eventuell weniger zu tun hat als mit der Statusangst der Eltern.

  4. Fortsetzung des Gärtner-Textes

    (Und wer immer als Kind einen Familienkrach unterm Weihnachtsbaum erlebt hat, weiß, dass Brauchtum und Kindswohl sowieso nicht unbedingt Freunde sind.)
    Jede Operation ohne guten Grund ist Körperverletzung
    Unter rechtlichen Gesichtspunkten kann man dem Kölner Landgericht erst mal keinen Vorwurf machen: Jede Operation ohne guten Grund ist Körperverletzung. Was aber ein guter Grund ist, darüber könnte man streiten, wäre der Skandal, den das Urteil insinuiert, ein nicht gar zu kleiner, und stellte sich nicht wieder der Eindruck ein, dass nur allzu gern mit zweierlei Maß gemessen wird: Kindeswohl ist, wenn bayerische Schüler unterm Kruzifix zum Turbo-Abitur gejagt werden, jedenfalls wenn sie Maximilian und Anna und nicht Kevin oder Öslem heißen; Kindeswohl ist nicht, wenn im Namen Allahs oder Jahwes ein Stück Haut entfernt wird, das in den vergangenen 5.000 Jahren noch keinem Beschnittenen gefehlt hat, schon gar nicht zu einer glücklichen Kindheit. Das heißt nicht, dass nicht auch jüdische oder muslimische Eltern die Beschneidung, gegen den Brauch, verweigern können sollen; das aber ist ein Fall für die Marx’sche Grundsatzkritik der Religion und verwandter Instrumente der sozialen Zurichtung, die abzuschaffen aber gar nicht im Interesse der Herrschaft sein kann. Weshalb, Triumph der Dialektik, spätestens das Bundesverfassungsgericht den Kölner Spruch auch kassieren wird.
    Lesen Sie auch die letzte Kolumne von Stefan Gärtner:Nicht „Neger“ zu dem Putzmann sagen!
    Von Stefan Gärtner, 29.6.2012
    http://www.theeuropean.de/stefan-gaertner/11532-urteil-gegen-beschneidungen

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