Henryk M. Broder: WIR KAPITULIEREN!

Vor vielen, vielen Jahren, als Jörg Haider noch ein Student war und Jean-Marie Le Pen sich bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich noch mit 0,7 Prozent zufrieden geben musste, da war Mogens Glistrup schon ein bekannter Mann. Zumindest in Dänemark, wo er eine eigene Partei, die Fortschrittspartei, gegründet hatte und mit 15,9 Prozent der Stimmen auf Anhieb ins Parlament gewählt wurde. Glistrup hatte kein richtiges Wahlprogramm, er war einfach gegen alles Etablierte, ein Rebell, der die Unmut- und Unlustgefühle der Wähler artikulierte und sie in politische Parolen übersetzte.

Ein Populist, würde man heute sagen, eine Naturbegabung mit mehr Instinkt als Verstand. Glistrup forderte einen radikalen Abbau der Staatsausgaben und eine Senkung der Steuern um jeden Preis. Besonders unnötig fand er, dass sich Dänemark eine Armee leistete, die im Ernstfall ohnehin nicht zum Einsatz kommen würde, denn wie sollten ein paar dänische Bataillone die Russen aufhalten, falls die jemals Dänemark angreifen sollten? Deswegen verlangte er die Auflösung der Armee und die Schließung des Verteidigungsministeriums. Stattdessen sollte eine Hotline mit einem Anrufbeantworter eingerichtet werden. Mit einem einzigen Satz auf Russisch, der Dänemark im Kriegsfall retten würde: “Wir kapitulieren!”

Die Dänen, mit ihrem Sinn fürs Praktische und Skurrile, fanden die Idee nicht schlecht und dankten es Glistrup mit dem Stimmzettel. Inzwischen hat der Mann an Popularität verloren. Doch gute Einfälle sind langlebiger als ihre Schöpfer. Die Glistrup-Formel sollte wieder zum Einsatz kommen, nicht mit den Russen als Adressaten, sondern gerichtet an einen mächtigen und unsichtbaren Gegner, von dem man nicht weiß, wann und wo er wieder zuschlagen wird: “Liebe Terroristen, wir kapitulieren, wir haben weder die Absicht noch die Mittel, gegen euch vorzugehen, also tut uns bitte nichts. Bitte, bedient euch, unser Haus ist euer Haus, der Roomservice ist Tag und Nacht für euch da!” Eine solche Ansage, unter einer gebührenfreien 0800-Nummer eingerichtet, könnte der Bundesrepublik viel Ärger ersparen und vielen Menschen das Leben retten. Wenn man schon kapitulieren will, dann am besten gleich und nicht erst nach einer verlorenen Schlacht. Denn wir haben weder den Willen noch die Ausrüstung, den Terroristen das Handwerk zu legen. De facto haben wir bereits kapituliert, wir wollen es nur nicht wahrhaben.

Das fängt damit an, dass immer öfter von “Widerstandskämpfern” die Rede ist, wenn von jenen berichtet wird, die sich in Israel in die Luft sprengen und dabei nach dem Zufallsprinzip Menschen mitnehmen, die nicht sterben wollen. Widerstandskämpfer klingt edel, sie vergießen zwar auch Blut, aber sie tun es nicht ohne Grund. Widerstandskämpfer waren die Franzosen, die Polen, die Niederländer, die Tschechen unter der NS-Besatzung, die Juden im Warschauer Ghetto und die Russen im belagerten Stalingrad. Freilich: Terroristen, die wahllos töten, Bomben in Cafés und Zügen deponieren, als Widerstandskämpfer zu bezeichnen, bedeutet zweierlei: eine Anbiederung bei den Tätern und eine moralische und politische Legitimierung der Taten.

Denn wir wissen genau, was die Täter antreibt: Verzweiflung über ihr Leben und die fehlende Aussicht auf eine Änderung der Zustände, auch “Perspektivlosigkeit” genannt. So liest und hört man es nicht nur in den Leitartikeln und Kommentaren, sondern auch in den Call-ins der Radiostationen und den Leserbriefen, wo sich das Volk aufrichtig und authentisch äußert. Wenn es so wäre, müsste es praktisch überall auf der Welt Terrorismus geben. Wie viele Millionen Unberührbare in Indien leben in tiefer Armut und Verzweiflung, ohne jede Aussicht auf eine Änderung ihrer Lebensumstände?

Wie viele Obdachlose in den USA wachen jeden Morgen im Freien auf, wissend, dass sie auch am Abend kein festes Dach über dem Kopf haben werden? Wie viele Arbeitswillige, aber Arbeitslose in Mecklenburg-Vorpommern sind verzweifelt, weil sie schon fünf Umschulungen hinter sich, aber immer noch keinen Job haben?

Verzweiflung ist die romantische Verkleidung für Blutrausch und Mordlust, für jene Positionierung, wie sie in dem Bekennerbrief zu den Anschlägen in Madrid im März formuliert wurde: “Ihr liebt das Leben, wir aber lieben den Tod!” Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn sich die Todessüchtigen irgendwo leise und dezent umbringen würden, ohne anderen Menschen ihren fatalen Willen aufzuzwingen.

Aber nicht die Terroristen sind verzweifelt, die ihren Abgang kühl wie eine Video-Performance inszenieren, verzweifelt sind wir, weil wir nach rationalen Gründen für den Todesakt suchen, Gründen, die wir gern akzeptieren möchten. Es macht uns irre, dass wir keine finden. Deswegen unterstellen wir den Terroristen “Verzweiflung”, denn das ist ein Gefühl, das wir kennen, und sei es nur aus einem Dienstmädchenroman, in dem die Hauptfigur aus Verzweiflung ins Wasser geht, weil sie von dem Gutsbesitzer geschwängert und sitzen gelassen wurde.

Was aber, wenn es für die Terrorakte keine vernünftige Erklärung gibt oder zumindest keine, die sich mit Hilfe unserer Vernunftskoordinaten einordnen ließe? So was kann vorkommen, nicht nur weit weg hinter den Karawanken, auch in München, Guben und Bad Reichenhall. Obwohl inzwischen Tausende von Arbeiten über das Dritte Reich und Hunderte von Biografien über Hitler und seine Kumpane geschrieben wurden, blieb eine Frage unbeantwortet: Wie konnte es passieren? Wie konnte ein zivilisiertes und überdurchschnittlich gebildetes Volk dermaßen destruktive Kräfte entwickeln, anfangs gegen andere, zuletzt gegen sich selbst? Man muss damit leben, dass es Fragen gibt, die immer wieder gestellt werden, ohne dass eine Antwort gefunden wird. Shit happens. Nicht nur in der Familie, auch in der Weltgeschichte.

Im Falle des Terrorismus freilich wollen wir uns damit nicht zufrieden geben. Wenn wir schon keine vernünftigen Erklärungen für das Verhalten der Täter finden können, so wollen wir doch wenigstens Maßnahmen zu unserer eigenen Beruhigung entwickeln.

Wir wissen nicht, wie wir mit der Arbeitslosigkeit und der Jugendkriminalität fertig werden, dafür wissen wir genau, woher der Terrorismus kommt und was man dagegen unternehmen müsste. Fast täglich melden sich Experten zu Wort, die uns sagen, wie man den mörderischen Furor der Verzweifelten und Gedemütigten in konstruktive Bahnen lenken könnte. Durch einen interkulturellen und interreligiösen Dialog. Wir brauchen mehr Begegnungszentren, mehr Gesellschaften für christlich-jüdischmuslimische Zusammenarbeit und vor allem: mehr Verständnis für die Kultur der Anderen! Günter Grass hat vor kurzem ganz im Ernst vorgeschlagen, eine Kirche in eine Moschee umzuwidmen, als Geste guten Willens. An sich keine ganz dumme Idee, obwohl es schon Hunderte, wenn nicht Tausende Moscheen in der Bundesrepublik gibt. Man sollte mit ihrer Verwirklichung aber abwarten, bis eine Moschee in Riad oder Islamabad in eine Kirche umgewandelt wurde und die Christen in Saudi-Arabien und Pakistan ihre Religion so frei praktizieren können, wie es Muslime, Juden und andere Minderheiten in der Bundesrepublik tun. Überhaupt sollte man das Prinzip der Reziprozität einführen. Das heißt, sobald die ersten muslimischen Frauen im Bikini am Strand von Dschidda gesichtet wurden, lassen wir das Kopftuch im öffentlichen Dienst und die Burka im Freibad zu, keinen Tag eher. Der interkulturelle Austausch darf keine Einbahnstraße sein. Ein anderer Vorschlag, der von der diabolischen Unschuld seines Erfinders zeugt, wurde von Jürgen Fliege unmittelbar nach dem Anschlag von Madrid (192 Tote, über 1000 Verletzte) als Wort zum Sonntag in die Welt gesetzt: Wir sollten uns nicht scheuen, “mit den Mördern von heute über die Welt von morgen” zu reden. Worüber denn? Über die Probleme des Nahverkehrs? Die Miniaturisierung von Kofferbomben? Den schonenden Umgang mit der Natu
r und die Nutzung erneuerbarer Energien?

Die Vorstellung, dass Armut Terrorismus generiert und man die “Ursachen” des Terrors bekämpfen muss, die ungerechte Verteilung der Reichtümer in der Welt, statt an den “Symptomen” rumzudoktern, ist inzwischen so weit verbreitet wie die Überzeugung, dass die Armut von der Poverté kommt. Das führt zu sehr kuriosen Kollateralerscheinungen. Eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, jedem Kind einen Kindergartenplatz zu geben und die es hinnimmt, dass jedes siebte Kind unterhalb der Armutsgrenze lebt, tritt für eine weltweite Umverteilung der Ressourcen ein und fordert die Reichen auf, mit den Armen solidarisch zu sein. Wer hingegen in Bottrop noch einen Arbeitsplatz hat, der käme nie auf die Idee, ihn mit einem Arbeitslosen aus Wanne-Eickel zu teilen.

Die Erkenntnis, dass der Terror kein Kind der Armut ist, dass die Terroristen nicht verzweifelt, sondern nur blutrünstig sind, dass man mit den Terroristen nicht einmal über das Wetter von gestern, geschweige denn über die Welt von morgen reden kann, ist so niederdrückend, dass man sich ihr gern verweigern möchte. Es hilft nur nichts, genauso wie ein Krebskranker sich nicht einreden sollte, er hätte nur eine leichte Allergie gegen Birkenpollen. Genau das tun aber die Europäer. Sie verordnen sich ein paar Anti-Histaminika und hoffen, dass der Pollenflug bald vorbei sein wird, die einen mehr, die anderen weniger. Der Kampf gegen den Terror, der jetzt schon als “die Geißel des 21. Jahrhunderts” dargestellt wird, konzentriert sich darauf, über Maßnahmen zu diskutieren, wie man den Terrorismus bekämpfen könnte, sollte, müsste, ohne die Bürgerrechte einzuschränken, denn das sei es, heißt es immer wieder, was die Terroristen beabsichtigen: unsere liberale Ordnung von innen her auszuhöhlen. Wirklich? Vielleicht unterstellen wir den Terroristen zu viel taktisches Planen und Verhalten. Vielleicht macht ihnen das, was sie tun, einfach Spaß, und vielleicht nutzen sie nur unseren schwachen Punkt aus: unser schlechtes Gewissen. Wie Eltern, die sich fragen, “Was haben wir falsch gemacht?”, wenn ihre Kinder zu trinken und zu kiffen anfangen, fragen wir uns: Liegt es nicht an uns, wenn wir angegriffen werden? An sich glauben wir an keine Erbsünde und keine Kollektivschuld, aber dass wir für die Kolonialpolitik unserer Vorfahren zur Kasse gebeten werden, das finden wir ganz natürlich. Dabei sind uns die Terroristen immer mehrere Nasenlängen voraus, denn wir halten uns an die Spielregeln, sie aber kennen keine.

In der Bundesrepublik etwa gibt es 16 Landesbehörden für Verfassungsschutz, die jetzt erst langsam damit anfangen, Informationen untereinander auszutauschen und ihre Aktivitäten zu koordinieren. Sie haben mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass sie eines Tages mehr leisten müssten, als DKP- und NPD-Sympathisanten zu registrieren. Allerdings: Was kann man von Behörden erwarten, die sich von einem Metin Kaplan vorführen lassen?

Allein die Tatsache, dass die Fluggesellschaften ihre Passagierlisten auf den USA-Flügen an die amerikanischen Behörden schicken, bevor die Flugzeuge gelandet sind, hat zu Protesten von Datenschützern und Bürgerrechtlern geführt. Diese Proteste werden erst verstummen, wenn es den ersten großen Terroranschlag in Berlin, Frankfurt oder Grundremmingen gegeben hat. Danach wird auch die “Unschuldsvermutung” eines mutmaßlichen Terroristen weniger wert sein als der Wunsch der Bürger, bei der Live-Übertragung des “Musikantenstadl” nicht von einer heftigen Explosion in der Nachbarschaft gestört zu werden.

Was tun? “Terrorize the terrorists!”, heißt es in den USA und Israel auf die Frage, was man machen müsste. Das ist natürlich leichter gesagt als getan, wenn man nicht auf das Niveau der Terroristen sinken will. Am einfachsten ist es, präventiv zu kapitulieren, in der Hoffnung, dadurch verschont zu werden. Wir haben längst kapituliert. Es fehlt nur noch eine 0800-Nummer mit der entsprechenden Ansage.

SPIEGEL SPECIAL 2/2004, 29.06.2004

Quelle