Hans-Helmut Kotz: „Es drohen japanische Verhältnisse“

Ein Wanderer zwischen beiden Welten: Der Harvard-Ökonom Hans-Helmut Kotz über die Wirtschaftspolitik der USA und die Irrtümer des europäischen Sparwillens.

Die Wirtschaftspolitik der USA und Eurolands könnte unterschiedlicher nicht sein. Während die Wirtschaftsmacht Nummer eins auf die Stabilisierung der Nachfrage und somit auf Wachstum setzt und dafür hohe Schulden in Kauf nimmt, stehen diesseits des Atlantiks die Verringerung des Staatsdefizits sowie die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit an erster Stelle. Dafür nimmt die Wirtschaftsmacht Nummer zwei steigende Arbeitslosigkeit und eine Rezession in Kauf. Welcher Weg der erfolgversprechendere ist und was die Erkenntnisse des Jahres 2012 waren, darüber sprachen wir mit Hans-Helmut Kotz. Er ist ein Wanderer zwischen beiden Welten. Professor Kotz unterrichtet seit drei Jahren jeweils im Wintersemester Ökonomie an der weltberühmten Harvard University und arbeitet in den Sommersemestern am Center for Financial Studies an der Universität Frankfurt.

Professor Kotz, Sie müssen helfen. Als europäischer Volkswirt hat man es schwer, die Wirtschaftspolitik in den USA überhaupt noch nachzuvollziehen. Das fängt bei dem neuen Ziel der US-Notenbank Fed an, die Arbeitslosenrate auf 6,5 Prozent drücken zu wollen. Die Arbeitslosenrate! In Europa hat die Notenbank vor allem einen Auftrag: Die Inflation zu bekämpfen.

So revolutionär wie Sie es verstehen, ist dies nicht. Die Fed hat seit jeher zwei Aufgaben: Die Inflation im Zaum zu halten und für ausreichende Beschäftigung zu sorgen. Die Neujustierung soll Klarheit über den künftigen geldpolitischen Kurs schaffen. Erst bei einer Arbeitslosenrate von 6,5 Prozent wird die US-Notenbank die Zügel straffen.

Spielen Sie das doch nicht so herunter. Gibt es irgendwo in der kapitalistischen Welt eine Notenbank, die ein explizites Arbeitslosenziel nennt?

Stimmt, das ist neu, aber dennoch nur evolutionär. Die 6,5 Prozent sind allerdings kein Ziel. Die Fed macht jedoch deutlich, dass die Verringerung der Arbeitslosigkeit für sie auf absehbare Zeit eine größere Bedeutung hat. Dazu passt auch ihre Klarstellung, dass sie vorübergehend eine Inflationsrate von bis zu 2,5 Prozent toleriert.

Zur Person

Hans-Helmut Kotz (55) unterrichtet Volkswirtschaftslehre in Harvard und in Freiburg, wo er 2010 den Universitätslehrpreis gewonnen hat. Zudem arbeitet er am Center for Financial Studies der Goethe Universität in Frankfurt am Main.

Im Vorstand der Deutschen Bundesbank war er von 2002 bis 2010, zuletzt mit Zuständigkeiten für internationale Themen. Zwischen 1999 und 2002 war er Präsident der Landeszentralbanken Bremen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Seine Sporen verdiente er sich in seinen 15 Jahren als Chefvolkswirt der DGZ-Bank. Studiert hat Kotz Volkswirtschaftslehre in Mainz und Köln.

Die Fed ist nur transparenter geworden?

Ja, sie hat zudem die Gewichte der beiden Ziele verändert. Arbeitslosigkeit soll sich nicht strukturell verhärten. Die Fed will das ihre dazu beitragen, dass die USA in keine japanische Situation gerät.

Was ist eine japanische Situation?

Japan ist Anfang der 90er-Jahre, nachdem die dortige Vermögenspreisblase, die vor allem eine Immobilienpreisblase war, geplatzt war, in eine Rezession hineingefallen. Dieser wurde seitens der Politik nicht energisch genug entgegengetreten. Es entstand ein lähmendes Zusammenspiel aus finanzieller Verletzlichkeit, wirtschaftlicher Unsicherheit und Stagnation. Seit knapp zwei Jahrzehnten sinkt nunmehr das Preisniveau, wenn auch stets nur leicht. Die realen Zinsen, also nach Abzug der Inflation beziehungsweise im Falle Japans unter Hinzurechnung der Deflation, blieben damit so hoch, dass Investitionen unattraktiv und Abwarten attraktiv wurde. Mit unsicheren Absatzaussichten wachsen die Risiken und damit die Rentabilitätsanforderungen – und deshalb die Neigung zum weiteren Warten. Deshalb dümpelt die japanische Wirtschaft seit fast einem Vierteljahrhundert vor sich hin. Diesen Teufelskreis will die Wirtschaftspolitik in den USA erst gar nicht entstehen lassen.

Aber ist die Geldpolitik in den USA nicht schon längst wirkungslos? Die Zinsen liegen bei null, die Notenbank kauft inzwischen Monat für Monat 85 Milliarden Dollar an Staatstiteln und Hypothekenpapieren auf, um die Wirtschaft zu fluten.

Die Fed glaubt, dass die US-Wirtschaft unter ihren Möglichkeiten bleibt. Es gibt ein Auslastungsproblem. Zu dessen Bewältigung kann sie beitragen. Da eine weitere Verringerung der Notenbankzinsen nicht mehr möglich ist, kauft die Fed Wertpapiere. Dadurch sinkt das Zinsniveau insgesamt und die Finanzierungsbedingungen von Firmen und Privathaushalten verbessern sich.

Das hört sich für Europäer höchst sonderbar an, denn auch das US-Staatsdefizit liegt derzeit mit rund neun Prozent fast dreimal so hoch wie in Euroland! Und die Arbeitslosigkeit ist in den USA dennoch kaum gesunken.

Doch, sie ist gesunken! Von in der Spitze zehn Prozent im Oktober 2009 auf gegenwärtig knapp über 7,5 Prozent. In Euroland hat sie sich dagegen von ebenfalls zehn Prozent im Jahr 2010 auf gegenwärtig 11,5 Prozent erhöht. Tendenz: weiter steigend. Dabei verdeckt dieser
Mittelwert die katastrophale Lage in Südeuropa, wo die Arbeitslosigkeit deutlich höher ist, vor allem unter Jugendlichen. Die USA verfolgen eine Vorwärtsstrategie. Man will möglichst zügig zurück zum Potenzial der Volkswirtschaft. Der Fokus liegt auf Wachstum, weil nur so eine Konsolidierung – also eine tragfähige Schuldenposition – erreichbar ist.

Der Preis ist ein Schuldenstand der USA, der die 100-Prozent-Marke knackt, ab der es brenzlig wird.

Hier gibt es keinerlei Einschätzungsunterschiede zwischen europäischen und US-Volkswirten. Diese Situation ist korrekturbedürftig. Die zentrale Frage lautet jedoch: In welchem Zeithorizont soll die Konsolidierung erfolgen? In Europa, vor allem in den Krisenländern, ist man sehr ehrgeizig, die Steuern werden stark erhöht und die Ausgaben kräftig gekürzt. Am Ende zählt aber nicht, wie ambitioniert man ist, sondern ob das angestrebte Ziel – tragfähige Schulden – erreicht wird. Nicht die Instrumente, sondern das Ergebnis zählen.

Wenn das in den USA so gesehen wird, wieso fürchtet sich dann die ganze Welt vor dem „Fiscal Cliff“, einer Situation, bei der automatisch die Steuern kräftig erhöht und die Aufgaben heftig gekappt werden?

Die USA fallen in den fiskalischen Abgrund, wenn sich Demokraten und Republikaner nicht auf ein Konsolidierungsprogramm einigen. Der von der Politik installierte Automatismus soll die Einigung erzwingen. Fast alle US-Ökonomen, von den Konservativen bis hin zu den Progressiven, sind sich einig: Der Versuch eines rabiaten Defizitabbaus würde der Volkswirtschaft schaden. Er würde am Ende zu einem Anstieg der Verschuldung führen.

Dann müssten die US-Ökonomen den europäischen Weg als dumm bezeichnen?

Die meisten US-Ökonomen, die sich seit langem für Europa interessieren, schlagen tatsächlich eine andere Balance vor. Das tut im Übrigen ja auch der IWF. Die Rezession in Euroland hatten viele europäische Ökonomen vor einem Jahr so gut wie nicht in den Karten, weil sie die Bremswirkungen der verfolgten Politik unterschätzt hatten.

Im Interview mit dieser Zeitung waren Sie sich indes sicher, dass Euroland genau dort landen wird, wo es heute herumkrebst. Was droht Euroland nun nächstes Jahr?

Ich fürchte, dass Europa noch tiefer in eine kritische Situation hineingerät, insbesondere die Problemländer.

Also drohen Europa japanische Verhältnisse?

Ja, das sind mittelfristig leider wahrscheinliche Aussichten: eine stagnierende, schwächelnde Wirtschaft, auch in Deutschland. Das erschwert natürlich die Schuldenlast. Die Erfahrung lehrt uns: Wenn eine Sache ins Rutschen kommt, rutscht sie in aller Regel eine unangenehme Weile weiter. In Euroland liegen die Risiken leider auf der Abwärtsseite.

Könnte man das US-Konzept auf Europa übertragen?

Darf ich mit einer Frage antworten? Uns sollte interessieren, bewirkt die verabreichte Medizin in Europa das, was sie soll: tragfähige Schulden?

Und wie lautet Ihre Antwort?

Eher nicht. Denn es kommt auf die Wirkung an, den die Haushaltspolitik in einer Umgebung sehr niedriger Zinsen hat. Damit ist der sogenannte Multiplikator gemeint, übrigens seit Jahren eines der aktivsten Forschungsfelder hier in den USA.

Den Multiplikator?

Dieser misst, wie sich die Kürzung der Staatsausgaben um ein Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, auf dieses selbst auswirkt.

Geht es etwas konkreter?

Ja. Wenn der Staat seine Ausgaben um ein Prozent kürzt, beziffert der Multiplikator, um wie viel Prozent das Einkommen, das Bruttoinlandsprodukt in der Folge sinkt. Die Konsequenzen für das BIP sind zentral. Denn am Ende interessiert das Verhältnis von Schulden zu Einkommen, aus denen diese bedient werden. Wenn die verabreichte Medizin das Einkommen schneller schrumpfen lässt als die Schulden, dann gerät eine Wirtschaft in eine immer weniger haltbare Lage. Je geringer man nun den Effekt ansetzt, desto höhere Dosen von Sparsamkeit sind möglich.

Und was sagen die Studien?

Sie zeigen, dass es eine Schwelle gibt, bei deren Überschreiten das Gegenteil dessen rauskommt, was erreicht werden sollte: Die Schuldenquoten steigen. Zu ungeduldige Sparpolitik beschädigt das Bruttoinlandsprodukt, vergrößert den Abstand zum Potenzial – und vergrößert das Schuldenproblem.

Sprich: Wenn der Multiplikator größer eins ist, sollte man weniger ehrgeizig sparen?

So ist es. Man erhöht jedenfalls nicht die Enthaltsamkeits-Dosis, wartet vielmehr die Wirkungen ab. Vor allem überlegt man sich, wie eine Wachstumsperspektive aussehen könnte.

Die Europäer unter Führung der Deutschen hatten in Südeuropa mit einem Multiplikator von nur 0,5 gerechnet, nicht wahr?

Ja und damit waren sie sehr optimistisch. In vielen sorgfältigen Arbeiten mit sogenannten quasi-natürlichen Experimenten kommen Werte deutlich über eins heraus.

Was also tun?

Eine vorsichtigere Politik würde die Medizin ab jetzt anders dosieren, würde – wie in den USA – das Wachstum nicht außer Acht lassen. Das wäre auch im ureigenen Interesse Deutschlands. Denn die Rückwirkungen des ambitiösen Konsolidierens auf die deutsche Wirtschaft sind offenkundig. Immerhin gehen gut 40 Prozent unserer Ausfuhr nach Euroland.

Sprich, Euroland braucht einfach mehr Geduld beim Schuldenabbau?

Auf jeden Fall. Der Ehrgeiz sollte sich darauf richten, produktiver zu werden und eine Außenhandelsposition anzustreben, die nachhaltig ist. Das ist möglich. Dafür müssen die Gläubigerländer im Norden auf die Binnennachfrage setzen.

Das Gespräch führte Robert von Heusinger.

Quelle: FR 28.12.2012