Ciesinger & Jansen: Wie bedrohlich ist Al Qaida noch ?

Europa blickt nach innen. Auf Eurokrise, auf Staatsschulden und auf Wahlerfolge extremistischer Parteien. Was sich in Afrika und auf der Arabischen Halbinsel zusammenbraut, ist eher eine Randnotiz. Dabei ist dort die Terrorgefahr in den vergangenen Monaten enorm gewachsen, militante Islamisten sind vor allem in der Sahelzone und im Jemen auf dem Vormarsch. Sicherheitskreise werten die Entwicklung als „fatal“; vor einer Eskalation wird gewarnt, schlimmer als die, die der Irak vor einigen Jahren durchlitten hat.

Trotz des Todes ihres Anführers Osama bin Laden am 2. Mai 2011 ist Al Qaida erstarkt – aber nicht im alten Rückzugsgebiet Wasiristan im pakistanischen Grenzgebiet, sondern in Nordafrika und im Jemen.

Hinzu kommen im westafrikanischen Nigeria die Anschläge der Islamisten von „Boko Haram“ und das brutale Regime der Schabab-Miliz in Teilen Somalias. Die Terroristen fassen Fuß, in einem Gürtel von Mali über Libyen, Nigeria, Somalia bis zum Jemen.

„Eine der größten Sorgen bereitet uns die Gefahr, die von Nord-Mali ausgeht“, sagt ein Experte. Ende März hat dort das Militär geputscht; im Norden übernahm kurz darauf eine Allianz aus Tuareg, der Islamistengruppe „Ansar ad Din“, der Vereinigung „Al Qaida im islamischen Maghreb (AQM)“ und der aus ihr hervorgegangen Gruppierung „Mujao“ die Kontrolle. „Die Fahnen der Islamisten wehen in Timbuktu und weiteren Städten“, berichten Sicherheitskreise. Das bitterarme Mali galt lange als funktionierende Demokratie. Jetzt wird befürchtet, in Nord-Mali, etwa zweimal so groß wie Deutschland, könnte ein neuer Terrorstützpunkt wie Wasiristan entstehen. In nordmalischen Camps werden Terroristen ausgebildet. In der Region sowie im Jemen ist das Risiko für Ausländer enorm hoch, entführt zu werden. Eine zentrale Figur der Terroraktionen ist der Algerier Mokhthar Belmokhtar, ein Mann der „Al Qaida im islamischen Maghreb“. Er war schon 2003 an der Entführung deutscher und Schweizer Touristen in der südalgerischen Wüste beteiligt.

AQM ist auch deshalb erstarkt, weil deren Kämpfer im Chaos des libyschen Bürgerkrieges reichlich Waffen einstecken konnten. Und die afrikanische Terror-Internationale wächst offenbar zusammen. AQM hat Verbindungen zu Boko Haram, die Nigerianer ihrerseits stehen in Kontakt zur Shabab-Miliz in Somalia. Hier kämpfen zudem etwa 100 Dschihadisten aus westlichen Staaten, auch aus Deutschland. Einer, der aus Wuppertal stammende Emrah E., ist am 10. Juni in Tansania festgenommen und acht Tage später an deutsche Behörden überstellt worden. Emrah E. hatte sich zunächst bei Al Qaida im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufgehalten, dann reiste er nach Somalia zur Shabab-Miliz. Die behandelt allerdings ihre ausländischen Kämpfer nicht immer gut. Nach Informationen des Tagesspiegels sind mehrfach Dschihadisten, die nicht aus Somalia stammen, von der Miliz festgesetzt worden. Emrah E. soll das am eigenen Leib erfahren haben. Denn Teile der Shabab-Miliz misstrauen den ausländischen Dschihadisten, und nicht alle Mitglieder billigen das Bündnis, das Shabab mit Al Qaida eingegangen ist.

Somalia ist nach Nord-Mali der zweite afrikanische Terrorstützpunkt. Und gegenüber dem Horn von Afrika liegt Jemen – dort wird es besonders gefährlich. Denn stärker als in Afrika verfolgt hier Al Qaida neben der regionalen auch eine globale Agenda. Die Filiale „Al Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAH)“ hat nicht nur gemeinsam mit Stammesmilizen größere Gebiete in dem von internen Konflikten zerrissenen Jemen erobert. So kurz wie AQAH stand auch keine andere Al-Qaida-Filiale vor einem geglückten Anschlag gegen den Westen.

Ende 2009 versuchte der von AQAH geschickte „Unterhosenbomber“ Umar Faruk Abdulmuttalab, sich kurz vor der Landung in Detroit in einer Passagiermaschine in die Luft zu sprengen. 2010 versandte AQAH zwei Paketbomben, die in Frachtflugzeugen transportiert wurden und über den USA explodieren sollten. Ein Sprengsatz kam am Flughafen Köln-Bonn an und wurde unentdeckt in eine Maschine umgeladen, die nach Großbritannien flog. Und erst Anfang Mai vereitelte die CIA einen weiteren Versuch von AQAH, mit einem Unterhosenbomber eine Passagiermaschine auf dem Weg in die USA anzugreifen.

Jenseits von Afrika und des Jemens gibt es ebenfalls Warnzeichen. Im Irak bleibt die Sicherheitslage schlecht, auch wenn die islamistischen Terroristen keinen Umsturz werden herbeibomben können. Und in Syrien mischen die Extremisten immer stärker mit. Ziemlich sicher haben islamistische Terroristen mehrere große Anschläge verübt, wie den im Mai in Damaskus mit mehr als 50 Toten. Theorien, das Regime selbst könnte hinter den Angriffen stecken, gelten als widerlegt, da sich glaubhaft eine „Al-Nusra-Front“ der Attentate bezichtigt. Bisher ist über Al Nusra jedoch wenig bekannt. Al Qaida agiere in Syrien zurückhaltend, um sich, je nach Ausgang des Konflikts, „alle Optionen offenzuhalten“, sagt ein Experte.

Der alte Kern der Terrororganisation, oder die „Kern-al-Qaida“, sitzt ohnehin immer noch in Wasiristan, dem von paschtunischen Stämmen beherrschten Gebiet an der afghanischen Grenze. Zwar erschweren die amerikanischen Drohnenangriffe den Terroristen Kommunikation sowie Planung größerer Anschläge. Doch mit Hilfe des Schutzes einflussreicher Clans wie des Haqqani-Netzwerkes, das für zahlreiche Anschläge in Afghanistan verantwortlich ist, und angesichts der Zurückhaltung der pakistanischen Armee gerade in Nordwasiristan, sind dort die Orte Miranshah und Mir Ali weiter Anlaufstellen für die internationale Szene der Heiligen Krieger.

Es sei zu früh für eine Prognose, ob Kern-Al-Qaida in Wasiristan nach dem Tod von Osama bin Laden gar keine größeren Anschläge mehr planen könne, heißt es in Sicherheitskreisen. Die relative Ruhe sei womöglich trügerisch, die Vorbereitung eines Angriffs könne sich über Jahre hinziehen. Und Kern-Al-Qaida sei weiter „inspirierend“ für Attentäter in westlichen Staaten, sagt ein Experte. Allein schon aus solchen Propagandagründen bleibe für die Organisation auch die Verbindung zu den afghanischen Taliban wichtig, bisher sei „kein Bruch“ zu erkennen. Vermutlich könnte sich Kern-Al-Qaida den auch nicht leisten. Die Drohnenangriffe der USA haben viele aus der Führungsspitze getötet, zuletzt am 4. Juni dieses Jahres. Die von einer Drohne abgefeuerten Raketen töteten die Nummer zwei der Organisation, den Libyer Abu Jahja al Libi. Er war vor allem eine religiöse Autorität, die ist kaum zu ersetzen. Ziemlich allein an der Spitze verbleibt der derzeitige Chef von Al Qaida, der Ägypter Aiman al Sawahiri. Doch sein Charisma und Einfluss sind weit geringer als die seines Vorgängers Osama bin Laden.

Viele Dschihadisten stünden der ägyptischen Dominanz bei Al Qaida kritisch gegenüber, schreibt Guido Steinberg, Terrorismus-Fachmann der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, in einer im Mai publizierten Analyse. Er nennt Sawahiri einen „wesentlich schwächeren Anführer als bin Laden“. Es sei sogar fraglich, ob Kern-Al-Qaida ihre Struktur bewahren könne. Sawahiri habe da wenig Einfluss, meint Steinberg, denn der Ägypter verstecke sich vermutlich weit weg von den Kämpfern in Wasiristan in einer größeren pakistanischen Stadt. Außerdem nehme der Einfluss auf die Vasallen von Al Qaida im Jemen, im Irak, in Nordafrika und Somalia weiter ab.

Als „be
sorgniserregend für Europa“ sehen Sicherheitskreise vor allem die Entwicklung in Nordafrika. Es sei zu befürchten, dass die Dschihadisten dort ihre Strukturen festigen. Und sollten sich angesichts der miserablen Wirtschaftslage in der Region die Perspektiven der jungen Generation weiter verschlechtern, habe der islamistische Terror „ein Potenzial ohnegleichen“.

Quelle:  Tgsp. 1.7.2012