Arno Widmann: Ohne Islam keine europäische Moderne

Der Fundamentalismus, der nichts will als sich selbst, bringt, während er den anderen den Garaus macht, sich selbst um. Im Morgenland, im Abendland. Überall auf der Welt.

Al Biruni beim Kaiserschnitt. So viel zum islamischen Bilderverbot! Aus einer Handschrift des 14. Jahrhunderts in der Universitäts Bibiothek im schottischen Edinburgh.
Al Biruni beim Kaiserschnitt. So viel zum islamischen Bilderverbot! Aus einer Handschrift des 14. Jahrhunderts in der Universitäts Bibiothek im schottischen Edinburgh.

Welches Europa meint man, wenn man sagt, der Islam gehöre nicht zu ihm? Es ist ein um ganze Abschnitte seiner Geschichte und seiner Geografie beraubtes Europa. Ein Europa, das siebenhundert Jahre ohne große Teile der iberischen Halbinsel auskommen muss, ein Europa, das kurz hinter Wien endet, ein Europa ohne Griechenland, ein Europa, dem große Teile Italiens fehlen.

Wer aber glaubt, es wäre mit der Besetzung der Territorien getan, der täuscht sich. Auch die Köpfe wurden ergriffen. Man kann das jetzt in zwei gerade auf deutsch erschienenen Büchern nachlesen. Der 1962 in Bagdad geborene Jim Al-Khalili entstammt einer alten Gelehrtenfamilie. Er ist Professor für theoretische Atomphysik an der Universität von Surrey. Sein Buch “Im Haus der Weisheit” trägt den Untertitel “Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur”. Der 1926 in Brooklyn geborene John Freely unterrichtete an der Bogazici-Universität in Istanbul Physik und Wissenschaftsgeschichte.

Gleich zu Beginn seines Buches “Platon in Bagdad” skizziert er den Weg, den er auf den folgenden 380 Seiten gehen wird: “Die Geschichte beginnt in Kleinasien, an der ägäischen Küste bei Milet, wo unter dem Einfluss der mesopotamischen Überlieferung in der Astronomie und Mathematik die ersten griechischen Naturphilosophen, die ‘Physiker’ auf den Plan traten. Von dort führt der Weg in das klassische Athen, das hellenistische Alexandria, das kaiserliche Rom, das byzantinische Konstantinopel und das nestorianische Gondischapur. Weiter geht es in das abbasidische Bagdad, das fatimidische Kairo und Damaskus, das muslimische Córdoba, das Toledo der Reconquista, das normannische Palermo und schließlich in die lateinischsprachige Welt des 13. Jahrhunderts in Oxford und Paris, wo der Boden bereitet wurde für die wissenschaftliche Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts.”

Konstruktion von Automaten

In der Aufzählung fehlt noch ein Ort, den wir seit Jahrzehnten nur noch als Kurdenhochburg in Erinnerung haben. Von dem sicher auch wenige seiner Bewohner wissen, wie wichtig er einmal war: Diyarbakir. Hier schrieb um 1200 al-Dschazari das Standardwerk der Mechanik der arabischen Welt: “Buch des Wissens über geniale geometrische Geräte” heißt es. Er beschreibt hier die Konstruktion von Automaten – praktischer Wasserfördergeräte, aber auch solcher, die ausschließlich der Erzeugung spektakulärer Schaueffekte dienten.

Aufstieg und Niedergang der islamischen Welt ließe sich womöglich an der Geschichte der Stadt Diyarbakir und des Verhältnisses der Türken zu Kurden und Zaza beschreiben. Je mehr Freiheit diese hatten, desto besser ging es den Türken, desto mehr Freiheit hatten auch sie.

Jim Al-Khalili und John Freely haben beide gut geschriebene, lesenswerte Bücher produziert. Beide machen einem breiten Publikum klar, dass der naturwissenschaftliche Aufschwung der europäischen Neuzeit ohne die Vermittlung der arabischen Gelehrten des Mittelalters undenkbar ist. Das ist nicht neu. Aber es war in dieser kompakten Übersichtlichkeit bisher nicht nachzulesen. Keine leichte Lektüre. Jedenfalls nicht für Menschen, die schon bei der Berechnung von Kegelschnitten die Waffen strecken.

Al-Khalili geht mehr in die Einzelheiten als John Freely. Bei ihm kann man sich zum Beispiel auf ein paar Seiten genau darüber informieren, wie al-Biruni (973–1048) den Erdumfang berechnete. Natürlich kommen in beiden Büchern die gleichen Namen, die gleichen Orte vor.

Sie erzählen über weite Strecken die gleiche Geschichte. Es ist die Geschichte, wie Mathematik, Wissenschaft, Technik, Astrologie und Magie – man muss begreifen, wie eng das alles zusammenhing – in antiken Texten beschrieben und betrieben wurden, wie diese von nestorianischen Christen ins Syrische und später ins Arabische übersetzt, wie die muslimischen Gelehrten sie begierig aufgriffen, sie systematisierten, und wie sie von dort wieder zurückkamen ins christliche Abendland. John Freely erwähnt Thabit ibn Qurra (836-901), der in Bagdad als Übersetzer griechischer Texte lebte.

Er schrieb auch eigene Bücher. Darunter “Das Wesen und der Einfluss der Sterne”, das Grundbuch der islamischen Astrologie. Ibn Qurra war aber wohl Sabier, also Anhänger einer antiken Astralreligion, die Sonne, Mond und Planeten als Gottheiten verehrte. Die Geschichte ist also noch deutlich bunter, als wir annahmen.

Arabische Wissenschaft – nicht islamische

Darum spricht Jim Al-Khalili von arabischer Wissenschaft. Also nicht von muslimischer oder islamischer. Er tut das, weil viele der wichtigen Gelehrten der von ihm erzählten Geschichte keine Muslime waren: “Hunayn ibn Ishaq, der größte aller Übersetzer in Bagdad, war Nestorianer und konvertierte nie zum Islam.” Es gab jüdische Philosophen und Ärzte im Nahen Osten und in Andalusien. Sie alle aber veröffentlichten ihre Werke auf Arabisch.

Es war gerade diese Offenheit, die den Aufschwung der islamischen Welt förderte. Es war diese weltumtriebige Neugierde, die den islamischen Armeen die Gelehrten folgen ließ. Einige gingen ihnen gar voran. Es gehört zu den Schwächen beider Arbeiten, dass Indien nur am Rande eine Rolle spielt. Dabei gehört es zu den großartigen Leistungen der islamischen oder arabischen Wissenschaft, die antike Überlieferung mit den Errungenschaften der indischen Mathematik und Philosophie verbunden zu haben.

Europa übernahm ja nicht einfach die aus dem Griechischen ins Arabische übersetzten Texte. Es war fasziniert von einer Weltsicht, von Weltsichten, die sich herausgebildet hatten in der Auseinandersetzung mit einer Fülle Europa unbekannter Kulturen. Die aus Indien importierte Null zum Beispiel veränderte die gesamte Mathematik.

Freely und Al-Khalili erzählen die Geschichte der arabischen Überlieferung der Naturwissenschaften als Vorgeschichte der wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit. Sie lassen Theologie und politische Theorie weg. Dabei muss man doch davon ausgehen, dass für die christlichen Denker nach 1000 vielleicht doch nicht vor allem die einzelnen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ihrer arabischen Konkurrenten interessant waren, sondern vielmehr deren beherzter Zugriff aufs Ganze.

Gottesbegriff in wissenschaftlichem Weltverständnis

Dass Gott Gegenstand philosophischer Erörterungen sein konnte, dass es so etwas wie einen Gottesbegriff gab, dass der eingebettet war in ein wissenschaftliches Weltverständnis, in dem Experiment, Berechnung und Logik zentrale Rollen spielten, das war das Neue, das Revolutionäre. Die Debatten um das Verhältnis von Wissenschaft und Glaube waren ja nichts spezifisch Christliches, wie der Papst es uns in seiner berühmt-berüchtigten diffamatorischen Regensburger Rede weismachen wollte. Sie wurden in der islamischen Welt ebenso und lange auf einem deutlich höheren Niveau als im christlichen Abendland geführt.

Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass, was man heute als Theologie versteht, ohne das islamische Vorbild nicht zustande gekommen wäre. Es steckt deutlich mehr Islam in Europa als wir anzunehmen bereit sind.

Für den aus Zentralasien stammenden al-Biruni zum Beispiel, den Mathematiker und Mediziner, den Forschungsreisenden und Philosophen, stand der Koran nicht im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erforschung der Welt. Al-Birunis Gott war ein Förderer der Neugierde, einer, der sich daran erfreute, wenn fromme Gelehrte sich Gerätschaften bastelten, mit deren Hilfe, sie die Höhe seiner Berge berechnen konnten.

Ganz anders sah das der christliche Kirchenvater Tertullian (150–220): “Für uns ist Wissbegierde keine Notwendigkeit seit Jesus Christus, Forschung kein Bedürfnis seit dem Evangelium. Indem wir glauben, verlangen wir, nichts darüber hinaus zu glauben. Dies nämlich glauben wir zunächst: dass es nichts gibt, was wir darüber hinaus glauben müssen.”

Das Abendland hat sich die letzten Jahrhunderte glücklicherweise nicht an Tertullian gehalten, so oft auch religiöse oder andere Fundamentalisten das Beharren auf der eigenen Dummheit predigten. Das arme Morgenland aber hat sich immer wieder von eigenen Tertullians ins Bockshorn jagen lassen. Das liegt in niemandes Natur. Es liegt an den Umständen. Wie auch die Vernichtungszüge, mit denen Russland und Deutschland – jedes auf seine Weise – das zwanzigste europäische Jahrhundert verheerten, nicht in deren Natur liegen. Auch die europäische Geschichte ist kein weiterempfehlenswertes Modell. So herrlich weit wir es dann nach dem Zweiten Weltkrieg doch noch gebracht haben.

John Freely: Platon in Bagdad – Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam, Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 388 Seiten, Karten und Zeichnungen, 24,95 Euro.

Jim Al-Khalili: Im Haus der Weisheit – Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur, S. Fischer, Frankfurt am Main 2012, 443 Seiten, schwarz-weiße und farbige Abbildungen, 22,95 Euro.

Quelle: Berliner Zeitung, 30.6.2012/1.7.2012