Ayaan Hirsi Ali: “Der Westen sollte endlich seine Werte verteidigen”


Die Welt: Eine neue Episode der weltweiten Gewalt und Proteste gegen die Beleidigung des Propheten Mohammed hat begonnen – diesmal ausgelöst durch ein unbedeutendes Youtube-Video. Es gab in der Vergangenheit bereits eine Fatwa (islamisches Rechtsgutachten) gegen den Autor Salman Rushdie, gewaltsame Proteste gegen dänische Mohammed-Karikaturen und Ihren eigenen Fall – Ihren Film über Frauen im Islam, nach dessen Veröffentlichung ihr Filmpartner Theo van Gogh von militanten Muslimen umgebracht wurde und Sie untertauchen mussten. Ist bei den Protesten diesmal etwas anders als bei den vorherigen?


Ayaan Hirsi Ali: Ich würde sagen, dass diese Ausschreitungen alle aus einem Guss sind, denn sie haben alle den selben Ursprung: eine politische Ideologie eingebettet in eine 1400 Jahre alte Religion und Kultur, die keinen Platz bietet für Kritik an ihrem kulturstiftenden Vater und den heiligen Texten. Sobald es um den Koran geht und den Propheten, fühlen sich Muslime beleidigt durch jegliche Arbeit, die sie diesen beiden Symbolen gegenüber als respektlos empfinden: vom aktuellen Koran-Projekt in Deutschland, das eine ernsthafte wissenschaftliche Arbeit darstellt, bis hin zum berüchtigten Video auf Youtube. Für den Durchschnitt der Muslime ist das alles gleichermaßen ein Angriff auf ihren Glauben.


Die Welt: Ein Unterschied zu den Protesten in der Vergangenheit ist, dass sie diesmal in der Folge des “arabischen Frühlings” stattfinden. Mittlerweile können die Massen ihre Meinung frei äußern und haben Führungen wie die Muslimbrüderschaft in Ägypten gewählt. Jetzt sind die Islamisten der Mainstream und sie sind so wütend wie die Menschen, die der Westen sonst als militanten Rand bezeichnet hat. Wie schätzen Sie das ein?


Ayaan Hirsi Ali: Was wir in der Folge der Proteste in der arabischen Welt sehen, ist eine Abneigung gegenüber tyrannischer Herrschaft – egal, ob es ein säkularer Diktator oder eine religiöse Monarchie ist. Dort, wo die Diktatur gestürzt wurde, sehen wir – und das habe ich immer gesagt – eine starke Unterstützung für Regierungen, die sich auf dem politischen Islam gründen. Die Hauptströmung der Bruderschaft hat nie ein Geheimnis aus ihrer Zustimmung zu einem politischen und moralischen Rahmen gemacht, der auf islamischen Rechtsgrundsätzen basiert. Deswegen sollte es uns nicht überraschen, dass die Führer der Muslimbrüderschaft sich durch die negative Darstellung ihrer moralischen Richtlinien beleidigt fühlen.


Die Welt: Während US-Präsident Barack Obama nach den Ausschreitungen an der Meinungsfreiheit festhält, sagt der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die Beleidigung des Propheten könne nicht als Meinungsfreiheit angesehen werden. Lassen sich diese konträren Positionen vereinbaren?


Ayaan Hirsi Ali: Für mich symbolisiert das den “Kampf der Kulturen”, den Samuel Huntington im Jahr 1993 beschrieben hat. Es ist eine unangenehme Realität, der sich beide Kulturen gegenüber sehen: Es gibt gewisse Werte, bei denen können ihre Träger keinen Kompromiss eingehen. Premierminister Erdogan ist unermüdlich damit beschäftigt, Initiativen im Namen der islamischen Nationen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit für eine Gesetzgebung durch die Kanäle des internationalen Gesetzes zum Verbot der Blasphemie voranzubringen.


Präsident Obama hat der islamischen Welt unermüdlich mitgeteilt, dass Amerika Freundschaft und Frieden mit den Muslimen auf der ganzen Welt anstrebt. Er hat gelobt, die amerikanischen Truppen aus dem Irak und aus Afghanistan abzuziehen. Er stand auch dem Sturz von Diktatoren, die Verbündete der USA waren, nicht im Weg. Und er hat Israel und einem Teil der jüdischen Bevölkerung in den USA vor den Kopf gestoßen, indem er versucht hat zu zeigen, dass die Palästinenser ebenso ein Partner der USA seien wie die Israelis.


In Wirklichkeit ist keiner der beiden Anführer oder der Menschen, die ihn gewählt haben, darauf vorbereitet, dem anderen zu geben, was er möchte: Präsident Obama oder irgendein anderer amerikanischer Präsident wird keinen Kompromiss bei der Meinungsfreiheit eingehen. Und Ministerpräsident Erdogan oder irgendein anderer muslimischer Führer wird sich nicht zurücklehnen und Blasphemie gegen islamische Symbole akzeptieren.


Die Welt: Die Demokratisierung der Medien bedeutet, dass jeder auf der ganzen Welt Videos versenden kann – und diese auch von jedem gesehen werden können. Das birgt gewisses Konfliktpotenzial…


Ayaan Hirsi Ali: Genauso ist es. Westliche Staaten beruhen auf dem Prinzip, dass der freie Meinungsaustausch von der Verfassung geschützt ist. So ist den Filmemachern in Hollywood oder den großen Verlagshäusern in New York nichts heilig: Wenn ein Film gut ist, erhält er einen Oscar. Ist er schlecht, wird er in den Rezensionen zerrissen. Dabei ist kein Thema tabu, ob es nun um Jesus Christus, Sex, Geld, Schwule, Juden oder Frauen geht.


Erdogan und der ägyptische Präsident Mohammed Mursi wollen offenbar nicht verstehen, dass in einer Verfassungsdemokratie der Premier oder Präsident gar nicht die Macht und das Recht haben, die freie Meinungsäußerung einzuschränken. Wenn Obama sagt, der islamfeindliche Film sei unwürdig und repräsentiere nicht die Meinung der US-Regierung, ist das eben nur seine Privatmeinung – und nicht das Gelöbnis, die Macher des Films zu bestrafen.


Die Welt: Was soll der Westen also tun?


Ayaan Hirsi Ali: Als die einzig verbliebene Supermacht stehen die USA vor der großen Herausforderung, so weit es geht Konflikte zu vermeiden. Das ist umso schwieriger, als der amerikanische Einfluss abnimmt und der seiner Feinde wächst. Im Verhältnis zur muslimischen Welt hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten Folgendes gezeigt: Zu propagieren, dass sich gegenseitig ausschließende Moralvorstellungen vereinbaren lassen, löst das Problem nicht – ganz im Gegenteil, es verzögert nur die unausweichliche Auseinandersetzung in diesem ideologischen Streit.


Amerika wird genauso wenig von der Meinungsfreiheit abweichen, wie die Muslime nicht akzeptieren werden, dass eine Beleidigung ihrer religiösen Ikonen straffrei bleiben darf. Von daher ist der einzige Ausweg eine wahrhafte Auseinandersetzung, bei der jede Seite versucht, der anderen zu beweisen, dass die jeweiligen Wertvorstellungen überlegen sind. Mit anderen Worten: Der Westen sollte endlich aufhören mit der moralischen Relativierung und damit beginnen, seine Werte zu verteidigen. Das wird im Endeffekt weniger Leben kosten, als sich vorübergehend mit Diktatoren und Tyrannen zu verbünden.

Source: Die Welt, 17.9.2012