GESCHICHTE VON HUNDEN von Nathan Weinstock


GESCHICHTE VON HUNDEN

von Nathan Weinstock


…in der arabisch-muselmanischen Welt
ist der Untermensch, der „Hund”, zuallererst der Jude

Erscheint in «Revue d’Histoire de la
Shoah»

Es gab einmal eine Zeit, als man sich verpflichtet
fühlte, jede Äußerung mit einem Arsenal an Zitaten aus den Werken von
Marx zu garnieren. Das ist außer Mode gekommen. Glücklicherweise – denn
diese Manier, alles und jedes nach der Art des Chefs zuzubereiten,
gereichte seinem Andenken eigentlich nicht zu Ehren. Dennoch, man muss
keineswegs Marxadept sein, um Marx als scharfen Denker und subtilen
Analytiker der sozialen und politischen Konflikte anzuerkennen. Weshalb
sollten wir also den israelisch-arabischen Konflikt nicht erörtern,
indem wir von einer marxschen Beobachtung ausgehen.

Es ist bekannt, dass Karl Marx für die Gemeinschaft, aus der er stammte, keine besondere Zuneigung empfand. Sein Traktat „Zur Judenfrage”, geschrieben 1843, ist derart von einem aggressiven Antisemitismus durchtränkt, dass die österreichischen Antisemiten des 19. Jahrhunderts sich ein Vergnügen daraus machten, diesen Artikel wiederherauszugeben, um seine Schüler zu beschämen. Und in seiner Korrespondenz mit Engels belegte er seine Gegner jüdischer Herkunft mit Ausdrücken, die ihn heute in Gefahr brächten, juristisch belangt zu werden. In einem Text aus dem Jahre 1854 jedoch hat sich Marx intensiv mit dem Schicksal der Juden befasst, die im „Heiligen Land” zur damaligen Zeit lebten. Seltsamerweise erweist sich dieser Text als der einzige von seiner Hand, in dem er ein wenig Sympathie für die Seinen bekundet.

Lesen wir also diesen Artikel, der den Juden Jerusalems gewidmet ist:

[Beginn Zitat Marx]

„Die Muselmanen, die ungefähr einen Viertel der Gesamtheit (der Bevölkerung) ausmachen und aus Türken, Arabern und Mauren (Mooren) bestehen, sind natürlich die Herren in jeder Hinsicht, denn sie sind in keiner Weise durch die Schwäche ihrer Regierung in Konstantinopel beeinträchtig. Das Elend und die Leiden der Juden von Jerusalem sind ohnegleichen. Sie bewohnen das schmutzigsten Viertel der Stadt – das „hareth-el-yahoud” (Judenviertel) genannt wird – das Müll(-, Mist und Abfall)viertel der Stadt, zwischen dem Berg Zion und dem Berg Moriah (Tempelberg) gelegen, wo sich ihre Synagogen befinden. Sie sind das konstante Objekt muselmanischer Unterdrückung und Intoleranz, beschimpft von den Griechen, verfolgt von den Römisch-Katholischen. Sie leben nur von den spärlichen Almosen ihrer europäischen Brüder. Die Juden sind jedoch keine Einheimischen, sondern aus verschiedenen, entfernten Ländern. Und von Jerusalem sind sie angezogen lediglich durch den Wunsch, im Tal von Josephat zu wohnen und genau an dem Ort zu sterben, wo der Erlöser erwartet wird. „Sie widmen sich ihrem Tode”, sagt ein französischer Autor [2], „sie beten und leiden. Den Blick gerichtet auf diesen Berg Moriah (Tempelberg), wo sich einst der Tempel von Libanon erhob und dem sich zu nähern sie sich nicht getrauen, beweinen sie das Schicksal Zions und ihre Zerstreuung über die Welt”.

[Ende Zitat Marx]

Nebenbei erfahren wir von Marx, dass die Stadt Jerusalem eine Bevölkerung von 15000 Seelen umfasste; davon waren 8000 Juden und 4000 Muselmanen (Araber, Türken und Mauren).

(…) diese Anmerkungen werden von allen zeitgenössischen Beobachtern bestätigt. Übergehen wir die Untersuchungen der „Alliance Israélite Universelle”, die ein misstrauischer Leser des Mangels an Objektivität verdächtigen könnte. Wenden wir uns lieber den katholischen Reisenden zu, vielmehr den Autoren von Reiseführern für die Pilger, die (damals) ins Heilige Land reisten. Es waren genau diese erbaulichen Beschreibungen, die unvermeidlich in Betrachtungen dieses – genauso lehrreichen, wie herzzerreißenden – Spektakels endeten: Verachtete Juden auf der untersten Stufe des Elends – erstarrt im Gebet vor der Klagemauer, ergaben sie ein lebendiges Bild der Verkommenheit des „gottesmörderischen Volkes”. Und um dieser Apotheose noch mehr Hintergrund zu geben, befliss man sich, vor dieser letzten Etappe (dem Besuch der Klagemauer), in das Reiseprogramm einen Besuch des Judenviertels einzuschieben: „Dies ist bei weitem der düsterste und ungesundeste Teil der Stadt (…) der elende Anblick der Bewohner und das scheußliche Gepräge diese Quartiers bewirkt, dass man bei seiner Durchquerung die Verdammung Gottes nicht vergessen kann, die in so sichtbarer Weise auf den Kindern Israels lastet.” [4].

Kommen wir zurück zu dem Bild der Juden von Jerusalem, das Marx skizziert hat. Was zeigt es uns?

  Dass die Juden „das schmutzigste Viertel der Stadt bewohnen”, „das Müll(-, Mist und Abfall)viertel”

  Dass sie „das konstante Objekt muselmanischer Unterdrückung und Intoleranz” sind (ohne dass ihnen darum die Beleidigungen durch die Griechen und die Verfolgung durch die Römisch-Katholischen erspart geblieben wären).

  Dass die Juden Jerusalems zu jener Zeit nicht Einheimische waren (tatsächlich wuchs die jüdische Bevölkerung der Stadt und der Region seit dem Ende des 18. Jahrhunderts andauernd durch das Dazukommen von Neueinwanderern aus dem ottomanischen Reich oder aus anderen Gebieten) und dass sie den Tod erwarteten während sie für die Erlösung beteten.  

[Anfang Zwischenkommentar von Jared Israel]

Anmerkung des Herausgebers: Der obige Abschnitt ist verworren oder es handelt sich um einen typografischen Fehler im Original. (Die Übersetzung ist korrekt.) Ich möchte diesen Punkt näher beleuchten, denn er ist wichtig: Die anti-israelische Polemik beruht auf der Vorstellung, dass Juden „Außenseiter” oder „Kolonialisten” sind, nicht heimisch im Nahen Osten.

1) Weinstock legt dar, allem Anschein nach gemäss eines Teils des Marxschen Textes, den er nicht zitiert, dass die jüdische Bevölkerung Jerusalems seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis 1853 konstant gewachsen war – d.h. seit mehr als fünf Jahrzehnten. Das würde bedeuten, dass eine ansässige, einheimische jüdische Bevölkerung  *mindestens* bereits vor dem Jahre 1800 bestand – d.h. ein Jahrhundert vor dem ersten Zionistenkongress in Basel 1897.

2) Weinstock sagt, dass die jüdische Neuankömmlinge von *innerhalb* des osmanischen Reiches kamen und aus anderen Ländern. Diejenigen, die von innerhalb des Reiches kamen, wanderten innerhalb der Grenzen eines Staates. Offensichtlich wanderten auch Muslime innerhalb dieses Staates. Von diesen Migranten, Juden oder Muslime, war niemand Kolonialist, geschweige denn Einwanderer. Aber nur über die Juden wird gesagt, „Sie waren nicht ‚Ansässige”. Nathan Weinstock argumentiert ähnlich weiter unten.

3) Und man beachte, dass Marx, der den Juden kritisch gegenüberstand, 1853, d.h. 44 Jahre vor dem ersten Zionistenkongress in Basel, schrieb, dass es in Jerusalem doppelt so viele Juden wie Muslime gab. Doppelt so viele! Und, gemäß Marx sowie gemäss einem ungenannten französischen Autor, den er zitiert, waren die Juden dort, weil ihre Leidenschaft für Jerusalem so groß war, dass ihr natürlicher Horror gegenüber der Art und Weise, wie sie behandelt wurden, überwunden wurde.

4) Überdies – wie wir an anderer Stelle bewiesen – haben die Juden, die im Rahmen des zionistisches Projektes einwanderten und zwar lange nachdem Marx seinen Artikel schrieb, Land von den arabischen Landbesitzern zu hohen Marktpreisen gekauft. Das ist natürlich nicht die Art von Kolonialisten. Zum Beispiel: Als die Briten Teile
des Mittleren Ostens übernahmen, kauften sie nicht etwa Land zu hohen Marktpreisen von verkaufswilligen Landbesitzern, wie es die Juden taten. Stattdessen exproprierten es die Briten einfach und überstellten es der britischen Krone. Auch in anderen Gebieten, wie Kenia, stahlen sie das Land auf die eine oder andere Weise.

[Ende Zwischenkommentar von Jared Israel]

[weiter im Artikel von Nathan Weinstock ]

Was Marx hier beschrieben hat – und alle zeitgenössischen Beobachter stimmen mit ihm darin überein – ist ganz einfach, dass die Juden Jerusalems (nach dem Beispiel der anderen Juden des Gebietes, das man gemeinhin das Heilige Land nennt und wie es die Regel war in der gesamten muselmanischen Welt) in einen Status der strukturellen und im eigentlichen Sinne diskriminierenden Erniedrigung gezwängt waren – in den Status der „Dhimmis”.

Dieser Zustand als «geschützter» Untertan, der Gnade der muselmanischen Macht ausgeliefert, ist die Erniedrigung, die die Scharia (das religiöse Gesetz des Islam) als Regime geschaffen und den Minderheiten des Buches (des Korans) auferlegt hat. Sie gilt also auch für die Christen der muselmanischen Welt, was diese jedoch nie daran gehindert hat, einen bösartigen Antisemitismus an den Tag zu legen. Alles spielt sich so ab, als sie ob aus der antijüdischen Tradition der christlichen Kirchen eine psychologische Kompensierung schöpften, die ihnen erlaubt, sich über die täglichen Erniedrigungen hinwegzutrösten, indem sie sich an den Parias schadlos halten, die noch weiter unten auf der Leiter der sozialen Anerkennung angesiedelt sind. So haben die orthodoxen Christen Jerusalems 1847, zweifellos inspiriert durch die Affäre von Damaskus, gegen ihre jüdischen Mitbürger eine Anklage wegen „rituellem Verbrechen” vorgetragen [5].

Nirgends wird das Los der Erniedrigung des Dhimmi so deutlich, wie in Yemen. In diesem Land trägt jeder Mann an seinem Gürtel einen gekrümmten Dolch zur Schau. Den Juden ist jedoch das Tragen des Dolches verboten, wodurch symbolisch illustriert wird, wie der Jude durch die Muselmanen wahrgenommen wird, nämlich als „Untermensch”. Dieser Status der Erniedrigung auferlegte den Dhimmis auch eine diskriminierende Kleiderordnung, untersagte ihnen den Gebrauch edler Reittiere (Pferde und Kamele), zwang sie, im öffentlichen Raum allen Muselmanen Platz zu machen, gegenüber welchen sie offensichtlich keinerlei Amtsgewalt beanspruchen konnten, auferlegte ihnen besonderen Steuern („kharaj” und „jizya”) und andere zusätzliche Abgaben, ohne dass sie dadurch vor den wiederholten Ausschreitungen des Pöbels geschützt gewesen wären.

Denn der „Schutz”, den der Status des Dhimmi vermittelt, garantiert den „Nutznießern” nicht etwa Sicherheit vor Verfolgungen:

Um im Nahen Osten zu bleiben (wobei analoge Beobachtungen in Nordafrika und in der gesamten muselmanisch-arabischen Welt gemacht werden können): In den Jahren 1850, 1856 und 1860 folgen sich religiöse Krawalle und gegen Nicht-Muselmanen gerichtete Massaker in Aleppo, in Nablus und in Damaskus. Was die Juden von Jerusalem, von Hebron, von Tiberias und von Zefat betrifft, so wurden sie Opfer von Razzien, von Raub und Erpressung während der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts [6]. Die Lage der Dhimmis hat sich jedoch seit 1830-40, mit der Errichtung von europäischen Konsulaten in Jerusalem, verbessert: Die Diplomaten verlangten, dass sie (die Dhimmis) in den Genuss des, am 18 Februar 1856 vom Sultan unterzeichneten, „Ferma’n” kommen, welcher den Minderheiten juristische Gleichheit gewährte. Indessen nährten diese ausländischen Interventionen eine Reaktion der Ablehnung, die genau solche blutigen, interkonfessionellen Hassausbrüche auslösten, wie sie gegen die Christen des Libanon während der Jahre 1853-1860 gerichtet waren.

Wenn man einen Augenblick über das Wesen dieser strukturellen Erniedrigung, die den Dhimmis auferlegt war, nachdenkt, so kommt einem spontan das Konzept des Kolonialismus als Subsumption ihrer Lebensbedingungen in den Sinn. Tatsächlich werden durch die Entmenschlichung, die der Gesamtheit von Juden und Christen gegenüber der Gesamtheit der Muselmanen auferlegt wird, letztere – und dieses gilt für jedes Mitglied ihrer Gemeinschaft, unabhängig von seiner sozialen Stellung – zu Privilegierten im Verhältnis zu den Minderheiten. Dies entspricht sehr genau der Lebensbedingung der Kolonisierten, wie sie Albert Memmi beschrieben hat [7]. Es zeigt sich, dass dieser so oft beschriebene Kolonialismus, dessen Missetaten im Nahen Osten zu brandmarken man sich gefällt, aus historischer Sicht nicht immer dort anzutreffen ist, wo man ihn zu entdecken glaubte. Aus phänomenologischer Sicht muss man konstatieren, dass in der arabisch-muselmanischen Welt der Untermensch, der „Hund”, zuvörderst der Jude ist.

Wenn ich das sage, so bin ich mir bewusst, dass ich auf Verständnislosigkeit stoßen werde, d.h. auf die Entrüstung von zahlreichen Muselmanen, deren Lauterkeit ich nicht bezweifle. Sie werden daran erinnern wollen, dass der Jude eine sehr vertraute Erscheinung in der nordafrikanischen oder levantinischen Welt war, dass eine Vielzahl von Banden die Juden mit ihren Nachbarn vereinte, dass es – bis zu einem gewissen Punkt – eine Symbiose der beiden Kulturen gab. Feststellungen, die nicht falsch sind, die aber ein unverzeihlicher Mangel an (historischer) Perspektive ad absurdum führt. Denn – man erlaube mir eine brutale Analogie – bei konsequenter Analyse erweist sich diese Nähe von Muselmanen und Juden als ähnlich der Nähe, die den Reiter mit seinem Reittier vereint – und es ist der Jude, der hier geritten wird. Die Blindheit, die den muselmanischen Beobachter in diesem Zusammenhang schlägt, entspricht sehr genau derjenigen des Kolonialisten, der sich mit Rührung der Jahre harter Arbeit an der Seite seines „boy” erinnert, ohne dass er in der Lage wäre, zu verstehen, dass ihre Beziehung von Unterwerfung geprägt war. Kurz gesagt: Es ist das Wahrnehmungsvermögen des Südstaatlers (Sklavenhalters).

Diese Tatsache muss man sich vergegenwärtigen, denn sie ist nicht ohne Bedeutung für die Entstehungsgeschichte und für den Begriff des Konflikts, in dem sich die zionistischen Neuankömmlinge und die palästinensischen Fellachen im Heiligen Land gegenüberstehen werden. Wenn man sich auch nur darauf einigt, sich von oberflächlichen Analysen abzugrenzen und der Laxheit des vorherrschenden Von-der-Stange-Denkens zu mistrauen [8], so offenbart eine kritische Untersuchung der Ursprünge der Reibungen zwischen der arabische Bevölkerung [9] und der Yischuf [10], dass der erste bedeutende Konflikt, der die beiden Gemeinschaften gegeneinander aufbrachten, gar nichts mit bäuerlicher Landnahme, mit dem Problem der Landkäufe oder dem zionistischen Projekt an sich zu tun hatte.

Der Protest brach aus 1908, infolge des Entscheids der jüdischen Pioniere von Sejera, die tscherkessischen Wachleute zu entlassen und sie durch jüdische Wachleute zu ersetzen, (d.h.) zur Zeit der Gründung der Hachomer (Der Wächter), der Organisation der jüdischen Wachleute, die sich konstituierte nach dem Vorbild der Selbstverteidigungseinheiten, wie sie in Osteuropa, im Kampf gegen Pogrome geschaffen w
orden waren. Im Übrigen vom gleichen Geist getragen: Keinerlei Abhängigkeit bei der Absicherung seiner Sicherheit und Organisieren seiner eigenen Sicherheit.

Überdies muss man in diesem Zusammenhang klarstellen, dass diese Verteidigung (der Juden von Sejera) gegen beduinische Plünderer und gegen Viehdiebe gerichtet war (die sich ohne Unterschied bei allen Einwohnern des Dorfes bedienten) und nicht auf enteignete Bauern. Nun ist es genau diese Entlassung der tscherkessischen Wachleute (die keine Araber waren), welche zur Kristallisation der Ablehnung gegen die zionistischen Siedler geführt hat. Und weshalb? Worin fühlten sich die arabischen Dorfnachbarn durch diese Ablösung betroffen? Die Erklärung dafür ist zum Verzweifeln einfach: Ein Dhimmi ist darauf verwiesen, unter dem Schutz der Muselmanen zu leben. Mit welchem Recht könnte er denn beanspruchen, Waffen zu tragen und seine Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen, er der weniger ist, als ein Hund? Das wäre eine Verkennung (Ablehnung) des vorgegebenen Status’ der Unterwerfung, der der seine ist..

Der Ursprung der konfessionellen Tumulte, die in Jaffa im März 1908 zwischen Araber und Juden ausbrechen, ist nicht klar. Klar ist dagegen die Motivation, die der Hetze gegen die Juden von Hebron vom Januar 1908 bis Januar 1909 – und es handelt sich hier nicht um Neuankömmlinge, sondern um die Bevölkerung der alten Yischuf, die übrigens dem Zionismus feindlich gegenüberstand: Wie Henry Laurens aufgrund von Archiven der französischen Konsulate gezeigt hat: „Die muselmanische Bevölkerung wurde zu einem Boykott der jüdischen Händler aufgerufen, in der Absicht, die Juden auf ihren Platz zu verweisen” [11] Denn der konservativen Bevölkerung der Stadt schmeckt die Revolution der „Jungen Türken” mit ihren Versprechungen der ottomanischen Staatsbürgerschaft keineswegs. Die Juden sollten sich nicht darauf versteigen, zu glauben, dass sie gleich seien wie die anderen. Diese jüdische „Frechheit” machte es nötig, dass man sie schonungslos an die Regeln der konfessionellen Hierarchie erinnerte: Um den Kolonisierten auf seinen Platz zu verweisen. Dazu kam die Vergiftung der Köpfe durch die – weitgehend austauschbaren –  Mythen von der jüdischen Weltverschwörung und vom Komplott der Freimaurer – eingeschleppt vom europäischen Antisemitismus, der sich stufenweise im Nahen Osten verbreitete. Zum Beispiel waren für den nationalistischen Führer Rachid Rida das jungtürkische Komitee „Union und Fortschritt” nichts anderes, als Auswirkungen der jüdischen und der freimaurerischen Macht. Diese Wahnvorstellungen werden bis in unsere Tage nicht aufhören zu wuchern dank der emsigen Lektüre der „Protokolle der Weisen von Zion” und anderer Auswüchse des judenfeindlichen Deliriums des Westens.

Wenn man nach den Demonstrations-Parolen urteilt, frappiert jedoch am meisten die Tatsache, dass die gegen die jüdische Gemeinde gerichteten Krawalle ihre Motivation nicht aus der Abneigung gegen das zionistische Projekt schöpften (Landkäufe, Landkolonisierung, Politik der ausschließlichen Beschäftigung von jüdischen Arbeitskräften). Die antikolonialistische Rhetorik taucht sogar seltsamerweise in den Demonstrations-Parolen der Menge überhaupt nicht auf. Letztere berufen sich nicht auf den Anspruch der Massen, die Unabhängigkeit zu erreichen. Nicht mehr als darin die Rede ist von Fellachen, die von ihrem Land vertrieben wurden. Nein: Die blutigen Krawalle in Jaffa vom 1. Mai 1921 finden statt zu Rufen wie “Muselmanen, wehret Euch, die Juden töten Eure Frauen” [12], d.h. durch die Beschwörung eines klassischen Archetyps des imaginären Rassisten oder südstaatlichen Sklavenhalters. Das ist genau das nahöstlichen Äquivalent der fixen Idee, die da heißt: „Berühre keine weiße Frau!”. Und es ist bezeichnend, dass die Angriffe nicht ausschließlich die Neueinwanderer zum Ziele haben, sondern genauso (und manchmal hauptsächlich) die alte Yischuf (der Ansiedlung von Juden im Heiligen Land), die lange vor dem zionistischen Projekt bestand, wie z.B. in Hebron, ja gelegentlich sogar Samaritaner, die überhaupt nicht Juden sind.

Und am 2. November 1921, dem Jahrestag der Balfour Deklaration: Wie lauten die Schlachtrufe, die in Jerusalem [13] von den mit Schlagstöcken und Messern bewaffneten Demonstranten bei einer neuerlichen, blutigen Demonstration gegen die jüdische Bevölkerung zu hören waren? Sie stellen sich zweifellos Parolen vor, die den Willen der Massen, Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit zu erlangen, zum Ausdruck bringen? Keineswegs. Ihr Sammlungsruf ist der folgende: „Palästina ist unser Land, die Juden sind unsere Hunde [14], Mahomeds Gesetz ist das Schwert und die Regierung ist Schall und Rauch” [15]. Vielmehr als um eine „antimperialistische Bewußseinsbilduntg” handelt es sich hier um die Bestärkung des unveräußerlichen Rechts jedes Muselmanen („…die Regierung ist Schall und Rauch”) je nach Bedarf mit dem Schwert „Mahomeds Gesetz” zu erzwingen – und dieses will, dass „die Juden unsere Hunde (sind)”.

Das ist es, was man nicht hören will.

Um das Bild zu vervollständigen, sei hervorgehoben, dass die Ausbrüche von Hass, die die jüdische Gemeinschaft im Laufe der Jahre nach 1920 in ein Blutbad tauchen, hauptsächlich nicht gegen die ländlichen Kolonien oder die städtischen Viertel der zionistischen Einwanderer gerichtet waren, sondern gegen die Juden der alten Yischuf. Nun war diese – zum Teil arabischsprachige – Gemeinschaft schon seit Jahrzehnten in der Gegend ansässig. Sie ist für ihre eher feindliche Haltung gegenüber dem Zionismus bekannt – aus Gründen des religiösen Konservatismus. Und dennoch: 1929 stürzte sich der arabische Pöbel, in Hebron wie in Safed, auf die jüdischen Quartiere um ihre Einwohner in einem Anfall von abscheulichster Barbarei niederzumetzeln, zu verbrennen, zu verstümmeln, zu entmannen und zu vergewaltigen. Im Gegensatz zu den zionistischen Neuankömmlingen, hatten sich diese religiösen Juden nie auch nur im Geringsten darum bemüht, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Verteidigung im Falle einer Aggression zu gewährleisten, und so waren sie eine ideale Beute für die Mörder. Was uns aber ins Mark treffen sollte, ist zu sehen, dass sich diese blutige Furie auf friedliche Nachbarn konzentrierte, die nichts mit dem, durch die zionistische Kolonisierung entstandenen, Konflikt zu tun hatten und deren einzige Schuld es war, Juden zu sein.

Man erspare uns also bitte die allseits beliebten Interpretationen der Denkfaulen, die beanspruchen, alles mit der vom palästinensischen Volk empfundenen Ungerechtigkeit zu „erklären”. Was sich hier zeigt, ist ganz einfach die Logik der Entmenschlichung des Dhimmi und die fürchterliche Bestrafung, die den „Hunden” vorbehalten ist, die verdächtigt werden, aus ihrem Status entkommen zu wollen. Am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sind die Mitglieder des alten Yischuf zu Schicksalsbrüdern der anderen, nicht-muselmanischen, verfolgten Minderheiten des Nahen Ostens geworden, genau wie die Assyrer und die Armenier – auch sie verdächtigt, dass sie sich dem Joch der Dhimmis zu entziehen trachteten.

Schlussendlich findet die Schlüsselrolle des Dhimmi-Status eine schöne Veranschaulichung in der Konstruktion des Begriffes „palästinensisches Volk”. Henry Laurens hat den Ausdruck „Falastin”, resp. seine Entstehung um 1908-1909 untersucht. Was auffällt, ist: Der Begriff „Palästinenser” umfasst alle, sich folgenden Einwanderungswellen von Muselmanen, die sich im Heiligen Land im 19. Jahrhundert niederließen, Araber oder Nicht-Araber (Hauranis aus Syrien, Maghrebiner aus Nordafrika, Tscherkessen aus Südrussland, Bosnier aus dem Balkan etc.) dagegen findet sich der jüdische Anteil von dieser gleichen, sich in Entstehung begriffenen,
palästinensischen Bevölkerung ausgeschlossen. Das gilt für die alte Yischuf und für die Juden aus der arabisch-muselmanischen Welt (aus dem Maghreb, aus Buchara, aus dem Yemen), selbst für arabischsprachige. Jeder Muselmane integriert sich von Rechts wegen in die palästinensische Gemeinschaft, jeder Jude ist a priori davon ausgeschlossen: Zu den Hunden geworfen.

Man verstehe mich recht. Es wäre absurd, den, von seltener Komplexität gezeichneten, israelisch-arabischen Konflikt auf eine einzige Komponente reduzieren zu wollen, nämlich derjenigen des Dhimmi-Systems. Es wäre aber genauso illusorisch, zu versuchen, die tiefliegenden Triebkräfte dieses Konfliktes zu verstehen, ohne diesen strukturellen Faktor zu berücksichtigen, der seit Beginn die arabische Wahrnehmung des Juden, ob er nun Israeli sei oder nicht, gefärbt hat und es weiterhin, bis zum heutigen Tage tut. Die „arabische Verweigerung” gegenüber der Tatsache Israel und gegenüber der Legitimität eines jüdischen Staates in Palästina durchzieht die Geschichte des Konflikts wie ein roter Faden. Dieser abgrundtiefe Hass auf Israel, dieses unerträgliche Gefühl der Demütigung, die dieser Staat hervorruft, erklärt sich aber nicht, wie oft versichert wird, durch das Drama der palästinensischen Flüchtlinge, denn dieser Hass datiert von viel früher: Schon am 15. Mai 1948, genau zum Zeitpunkt, als die regulären Truppen der arabischen Staaten den Jordan überqueren – also bevor es auch nur einen einzigen palästinensischen Flüchtling gegeben hätte – verkündet der Generalsekretär der Arabischen Liga, Azzam Pacha: „Es wird ein Vernichtungskrieg sein und ein denkwürdiges Massaker, an das man sich erinnern wird, wie an die Mongolenmassaker und diejenigen der Kreuzzüge.” [16]. Und der Hass hat seinen Ursprung auch nicht in der israelischen Präsenz in Cisjordanien und im Gazastreifen seit 1967: Hat man vielleicht vergessen, dass die gesamte arabische Welt Israel boykottierte und die Anerkennung des hebräischen Staates seit seiner Proklamation 1948 (aufgrund des UNO Vollversammlungsbeschlusses vom 29.11.1947) verweigerte, den sie vielmehr dämonisierte und zu zerstören schwor?

Unabhängig von den politischen Bedingungen, die eine dauerhafte Lösung des israelisch-arabischen Konfliktes beeinflussen, setzt eine solche Lösung zuallererst eine Revolution der Mentalitäten voraus. Die Friedensglocke wird an dem Tag geschlagen haben, an dem die Israelis – ganz einfach – als Grenznachbarn anerkannt werden, auch wenn die Politik ihrer Regierenden andersweitige Uneinigkeiten hervorrufen kann. Wie sehr würde man sich wünschen, dass dazu gerade diejenigen beitragen, die unaufhörlich ihre Sympathie mit der palästinensischen Sache proklamieren.

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Fußnoten und weitere Literaturangaben

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[1] Karl Marx, The Outbreak of the Crimean War – Moslems, Christians and Jews in the Ottoman Empire, New York Daily Tribune, 15. April 1854.

[2] Marx zitiert hier, ohne ihn zu nennen César Famin, Autor der Histoire de la rivalité et du protectorat des Eglises chrétiennes en Orient erschienen in Paris 1853.

[3] Hier das Original in Englisch, (das direkt auf Deutsch übersetzt wurde, der Übersetzer JL) : «The Mussulmans forming about a fourth of the whole and consisting of Turks, Arabs and Moors are of course the masters in every respect, as they are in no way affected by the weakness of their Government at Constantinople. Nothing equals the misery and the sufferings of the Jews of Jerusalem, inhabiting the most filthy quarter of the town, called hareth -el-yahoud, in the quarter of dirt between Zion and the Moriah where their synagogues are situated – the constant object of Mussulman oppression and intolerance, insulted by the Greeks, persecuted by the Latins, and living only upon the scanty alms transmitted by their European brethren. The Jews, however are not natives, but from different and distant countries, and are only attracted to Jerusalem by the desire of inhabiting the Valley of Josephat; and to die on the very place where the redemption is to expected. ‘Attending to their death’, says a French author, ‘they suffer and pray. heir regards turned to that Mountain of Moriah where once rose the Temple of Lebanon, and which they dare not approach, they shed tears on misfortunes of Zion, and their dispersion over the world’».

[4] Zweite Auflage von Guide-Indicateur des sanctuaires et lieux saints historiques de la Terre-Sainte des Bruders Liévin de Hamme, zitiert bei Guy Ducquois et Pierre Sauvage, L’invention de l’antisémitisme racial. L’implication des catholiques français et belges (1850-2000), Ed. Academia-Bruylant, Louvain-la-Neuve 2000, S.264.

[5] Henry Laurens, La question de Palestine, erster Band, Ed. Fayard, Paris 1999, S. 59.

[6] Über den «Dhimmi-Status» im allgemeinen, wird man sich stützen auf das Werk von Bat Yéor, Juifs et Chrétiens sous l’Islam, Ed. Berg International, Paris 1994.(www.dhimmitude.org)

[7] Albert Memmi, Portrait du colonisé précédé de Portrait du colonisateur, Coll. Folio Actuel, Ed. Gallimard, Paris 2002.

[8] Diese Bemerkung enthält eine gute Portion Selbstkritik: Ich habe mich in einigen meiner Publikationen selbst ins Unrecht gesetzt, indem ich die Falle nicht vermieden habe, solche allzu vereinfachende Ansichten zu verbreiten.

[9] Eigentlich eine trügerische Terminologie: Nicht alle nicht-jüdischen Bewohner Palästinas sind Araber (man denke an die Tscherkessen und die Bosnier) und die jüdische Bevölkerung umfasst eine beträchtliche Zahl von arabischsprachigen Juden, die aus dem Maghreb oder aus dem Yemen stammen.

[10] Mit diesem Ausdruck bezeichnet man die jüdische Gemeinschaft, die in Eeretz Israel, dem Heiligen Land wohnt.

[11] Henry Laurens, op.cit., S. 231 (Unterstreichung/Hervorhebung durch N.W.).

[12] Ibid., S. 565.

[13] Es ist angebracht, hier in Erinnerung zu rufen, dass seit der Mitte des 19.Jahrhunderts – lange vor der ersten zionistischen Einwanderungswelle – die Bevölkerung Jerusalems mehrheitlich jüdisch war.

[14] Yahoud kalabna.

[15] Henry Laurens, op.cit., S. 589 (Unterstreichung/Hervorhebung durch N.W.).

[16] Al Ahram et New York Times du 16 mars 1948 (cités par Rony E. Gabbay, A Political History of the Arab-Jewish Conflict, Genève 1959, p. 88).

 

(Ende Artikel von Nathan Weinstock)

 

   

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