Ralph Giordano: Mein politisches Testament


Zwei spontane Fragen: Wo, um Himmels willen, waren die V-Leute, die herhalten müssen für die legale Fortexistenz der NPD?

Und was, wenn die Ermordeten nicht sogenannte „kleine Leute“ gewesen wären, dazu noch Menschen mit „Migrationshintergrund“, wie es heute so unschön heißt? Was, wenn die Opfer hochklassige Vertreter aus Politik, Wirtschaft oder Kirche gewesen wären? Eine Frage, die sich von selbst beantwortet.

Nichts hat so heftig an den mir von den Nazis injizierten Fluchtinstinkt appelliert wie die stellenweise bis an den Rand der Konspiration operierende Defensive der Schutz- und Sicherheitsorgane gegenüber der akuten braunen Gefahr. Ich fürchte mich, eingestandenermaßen! Aber nicht vor der braunen Pest, die sich da mitten unter uns mit sozialen Fäden geradezu wohnlich einrichten konnte, sondern vor der staatlichen und politischen Indifferenz ihr gegenüber. Davor fürchte ich mich.

Wie denn nicht, wenn sich fast siebzig Jahre nach meiner Befreiung durch die 8. Britische Armee am 4. Mai 1945 in Hamburg bestätigt: Hitler, und was der Name symbolisiert, ist wohl militärisch, nicht aber auch schon geistig, oder besser: ungeistig geschlagen worden? Wie denn nicht, wenn zwei Menschenalter nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ plötzlich der Todfeind von gestern in Gestalt einer neuen Generation auftaucht, die nicht als Fremdenfeinde und Antisemiten geboren, wohl aber im Laufe ihres Lebens dazu geworden sind?

Da droht ein Bollwerk angetastet zu werden, hinter dem ich all die Jahre und Jahrzehnte lebe, hier in Deutschland, erst dem geteilten, dann dem wiedervereinigten – die demokratische Republik, der demokratische Verfassungsstaat! Sie sind mein Elixier, die Luft zum Atmen, die angesichts meiner biografischen Vergleichsmöglichkeiten einzige Gesellschaftsform, in der ich mich sicher fühle, etwas Kostbares, auf das sich mein ganzes Sein stützt. Deshalb: ob Christ oder Muslim, Jude oder Atheist, links oder rechts, Groß oder Klein: Wer die Demokratie attackiert, sie angeht, beschädigt oder gar aufheben will, der kriegt es mit mir zu tun, der hat mich am Hals! Damit erneuere ich aus akutem Anlass den Kriegszustand, in dem ich mich über ein ganzes Leben hin mit dem Nationalsozialismus und seinen Anhängern befinde.

Es ist die Ehre der Nation, jeden Menschen, woher auch immer er kommt, vor rassistischer Gewalt zu schützen. So wie es eigentlich selbstverständlich sein sollte, den von der Mordserie betroffenen Familien (nach schmählichster Behandlung behördlicherseits!) alle Aufmerksamkeit und jede Fürsorge zukommen zu lassen. Das Politikum „Nationalsozialistischer Untergrund“/Zwickauer Zelle aber geht weit über diese Kreise hinaus.

Ich spreche von Zeitgenossen, in denen alte Ängste hochkommen, wenn sie die Nachrichten einschalten und dabei auf eine wahre Flut von einschlägigen Meldungen über den deutschen Rechtsextremismus stoßen. Ein Wort zu diesen „Seismographen“ der Gesellschaft. Das Deutschland von heute soll, es muss wissen, dass in ihm immer noch Menschen leben, die nicht vergessen können und nicht vergessen wollen. Es soll und muss wissen, dass immer noch Menschen da sind, die beim unfreiwilligen Einatmen der Auspuffschwaden des motorisierten Wohlstandsblechs an die Gaskammern von Auschwitz, die Gaswagen von Chelmno denken.

Deutschland soll, es muss wissen, dass in ihm immer noch Menschen weilen, die beim Anblick jeder Wunde, jeden Tropfen Bluts an die Mordgrube von Babi Yar am Rande von Kiew denken, an Tschechiens zerstörtes Lidice oder Frankreichs ausgelöschtes Oradour-sur-Glane. Dass es Menschen gibt, die zusammenzucken, wenn sie das ebenso begriffslos wie inflationär benutzte Wort „Einsatz“ vernehmen. Nachdem es doch die mobilen Todesschwadronen der „Einsatzgruppen“ gegeben hat, die hinter der deutschen Ostfront Hunderttausende von Juden umgebracht haben. Ich gebrauche diese Vokabel der „Lingua tertii imperii“, der „Sprache des Dritten Reiches“, der Barbaren, nie mehr. Es sei denn bei einer notwendigen Demonstration wie dieser.

Von solchen Menschen spreche ich hier, weil ich einer von ihnen bin. Und weil ich mich tief alarmiert fühle. Aber auch, wenn ich mich unnötig fürchten sollte – es ist schlimm genug, dass unsere Zeit mir solche Gedanken und Zweifel aufzwingt. Überlebende des Holocaust werden oft gefragt: „Wie haben Sie es geschafft, hierzubleiben, nach allem? Wie bringen Sie das über sich?“ Ich nehme die Gelegenheit wahr, darauf Antwort zu geben, meine Antwort: Dieses Deutschland hat mich gar nicht gefragt, was ich wollte oder nicht, ich bin angenagelt an dieses Land, es hat mir meine Unlösbarkeit eingerichtet. Wohin ich auch immer geflohen wäre – es hätte mich überall eingeholt. So bin ich denn geblieben, nicht als jüdischer Racheengel oder als verlängerter Arm des strafenden Jehova, sondern als einer, der sich sein ganzes Leben herumgeschlagen und herumgeplagt hat mit der Last, Deutscher zu sein, deutscher Jude oder jüdischer Deutscher, und der diese Last nicht abwerfen kann und nicht abwerfen will. Versöhnungsbereit gegenüber dem, der sich ehrlich müht, und das auch gegenüber jedem Nazi, der das tut, aber absolut unversöhnlich gegenüber jeder Art von Unbelehrbarkeit. So lautet mein politisches Testament.

Source, 1.2.2012