The German Green Party And Anti-Semitism


The Green Party has had hardcore anti-Israeli sentiments within its ranks, which have frequently spilled over into anti-Semitism. A leading Green deputy, Hans-Christian Ströbele, justified rocket attacks on the Jewish state during the First Gulf War in 1991 as a “logical, almost compelling consequence of Israel’s politics.”

When asked about Ströbele’s comments, Schmitz, the Green Party spokesman, said Ströbele believes in “Israel’s right to exist.”


A 2006 study commissioned by the Social Democratic Friedrich Ebert Foundation reported that 9.4 percent of Green Party supporters hold anti-Semitic views.

Between 1998 and 2005, the Green Party and the Social Democratic Party controlled the Federal government, and the Green Party ran the Foreign Ministry. A leading Green Party politician, Jürgen Trittin, advocates that the German government jump-start formal negotiations with Hamas and Hizbullah.

Jerusalem Post, 7/13/2009

Londonistan Is Burning



Land ohne Herz
, so lautete der Titel eines Bestsellers der Nazizeit, Maßloser Kontinent ein anderer unter vielen, die nur eines im Sinn hatten: Die angelsächsischen Länder als Pfuhl des Egoismus, als Heimstatt verdorbener Seelen, als Hölle aus sozialen Konflikten und rücksichtsloser Brutalität zu malen. Es klingt gerade im August 2011 vertraut, wie die Nazi-Autoren die USA, aber auch England (1)denunzierten: Als Länder mit riesigen sozialen Problemen, in denen eine verantwortungslose, raffgierige Oligarchie sich eine ebenso verderbte Unterklasse geschaffen hätte, deren Kulturlosigkeit durch den Rassenmischmasch auf die Spitze getrieben würde. Hitler selbst urteilte bündig über das von einer „englisch versippten Plutokratie“ beherrschte städtische Amerika: „Es ist ein innerlich faules Land mit Rassen­problemen und sozialer Ungleichheit, ein Land ohne Ideen […] Meine Gefühle für Amerika sind voller Hass und Wider­willen; halb verjudet, halb vernegert und alles auf dem Dollar beruhend.“ (2)

„Verjudet“ ist als Invektive aus der publizistischen Sprache nach 1945 verschwunden und doch haben sich die deutschen Ansichten über die herzlosen Länder im Westen ansonsten wenig geändert. Die Kommentare zu den Riots, die nach der Erschießung von Mark Duggan durch Polizisten am 4. August und einem Protestmarsch im Londoner Stadtteil Tottenham am 6. August in nahezu allen ärmeren Vierteln englischer Großstädte ausbrachen (3), belegten dies mehr als deutlich: Kaum ein Journalist verkniff es sich, die Bilder von Ladenplünderungen, Straßenraub, Brandstiftung, Nötigung und Körperverletzung in hergebrachter Weise zu deuten. Die Rede war stets davon, dass eine Gesellschaft, die dem Mammon so huldige wie die britische, sich nicht wundern dürfe, wenn sich die Unterklasse genauso „materialistisch“ benähme, wie es ihr eine kaltschnäuzige Oberschicht vormache. (4) Am deutlichsten zeichnete die Süddeutsche Zeitung (10.8.2011) das hergebrachte Bild vom perfiden Albion: „Anderswo mögen Hausbesitzer ihre Hypotheken nicht mehr bedienen können, doch die Preise für Penthouse-Apartments in Knightsbridge oder Kensington ziehen weiter kräftig an. Die Diamantenhändler in Hatton Garden, die Herrenausstatter in der Jermyn Street und die Nobellimousinen-Verkäufer an der Park Lane klagen nicht über schwindende Nachfrage. Und derweil Schatzkanzler George Osborne mit der einen Hand Sozialleistungen kürzt, lockt er mit der anderen Reiche aus aller Welt mit Konditionen ins Land, die den Finanzdirektor eines Schweizer Niedrigsteuer-Kantons vor Neid erblassen ließen. Dies ist der Hintergrund, vor dem man die Ausschreitungen quer durch die Elendsviertel der britischen Hauptstadt und in anderen Landesteilen betrachten muss.“ Und so fährt der SZ-Kommentator Wolfgang Koydl denn auch fort: „Das macht aus den Unruhestiftern von Tottenham und Peckham keine soziale oder gar revolutionäre Bewegung. Wer Supermärkte abfackelt, Handy-Shops plündert und Polizisten mit Spitzhacken attackiert, handelt kriminell und muss wie ein Krimineller behandelt werden. Dennoch sind die Unruhen ein Indiz für eine breitere, tiefer sitzende Malaise […] Diese Nation aber zerbricht an ihren Widersprüchen und ihrer Ungerechtigkeit. In keinem anderen europäischen Staat ist die Ungleichheit derart zementiert wie im Königreich.“ Dass dieses Faktum tatsächlich aber nur einen graduellen und keinen wesentlichen Unterschied zur Lage in anderen europäischen Staaten beschreibt, das tut in so einer Suada nichts zur Sache, denn die statistisch messbaren Unterschiede in Lebensqualität und auch Lebenserwartung zwischen München-Grünwald und Berlin-Wedding dürften wohl nur unwesentlich geringer ausfallen als die zwischen London-Mayfair und Liverpool-Toxteth. Der gesellschaftliche Unterschied zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland liegt auf jeden Fall nicht darin, dass insbesondere die U-30-Population verarmter Immigranten-Stadtbezirke aus der gesellschaftlichen Partizipation qua klassischer Lohnarbeit nahezu ausgeschlossen ist. Das nämlich trifft auf beide Länder ebenso zu, wie es auch für Frankreich oder Italien stimmt.

Und so nimmt es nicht wunder, dass keiner der unzähligen deutschsprachigen Kommentatoren eine Erklärung für die landesweite Synchronizität der Riots, für die offenbar gleichartigen sozialen Strukturen und mentalen Dispositionen an über fünfzig verschiedenen Orten des Landes liefert, die über ein autoritäres Lamento mit mehr oder weniger traditioneller anti-englischer Ausrichtung hinausginge. Mehr Disziplin an den Schulen verlangt beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 19.8.2011 und kritisiert, „eine kindzentrierte Pädagogik, die in Großbritannien selbst auf jene Institutionen übergegriffen hat, die noch für Disziplin und ein klares Wertesystem einstehen“; nüchterner bleibt da das Handelsblatt und titelt am 9.8.2011: „Der Sparzwang schürt die Gewalt“. Und dagegen helfe nur mehr Staatsknete (wie das früher im Autonomensprech hieß) für alles und jeden, folgert Günter Lachenmann in der Welt am 11.8.2011 und analysiert: „Was die westliche Welt derzeit erlebt, ist das Verschwinden verantwortlicher Politik. Längst ist die Macht dort, wo das Geld ist. Die Politik hat sie ohne Not hergegeben und sich selbst in einen bitterbösen Wahn geflüchtet, der nur durch das Aussperren der Realität zu erhalten ist.“

Käfighaltung in Tottenham

In dieser Perspektive etatistischer Nostalgie verkommen häufig auch richtige Beobachtungen wie die, dass es gerade in vormals industriell geprägten Städten und Stadtteilen abertausende Familien gibt, die bereits in dritter Generation von Sozialhilfe leben. Schlagzeilen wie „Aufruhr der Abgehängten“ (SZ), „Aufstand der Frustrierten“ (Spiegel) oder „Der Aufstand der Verlierer“ (FAZ) zeigen nämlich keine kritische Einsicht in das Wesen sozialpolitischer Segregation, sondern nur die den Kommentator gruseln machende Aussicht darauf, dass die Einhegung der gesellschaftlichen Problemzonen scheitert und zwar so, dass die dortige Gewalt und Panik vielleicht nicht mehr nur die Insassen jener Viertel und damit deren Schulen und Ämter alltäglich trifft.

Die links sich gebende Vorstellung jedenfalls, dass die im Frühjahr von der britischen Regierung beschlossenen Etat-Kürzungen der stillschweigende Auslöser für die August-Riots gewesen wären, impliziert zugleich, dass es keine Ausschreitungen gäbe, flösse nur etwas mehr Sozialhilfe, gäbe es ein etwas weniger schlechtes Gesundheitssystem oder ein paar mehr Sozialarbeiter und erzieherische Institutionen. Das wiederum bedeutet aber in der Konsequenz, die Lebenssituation, die Rizwana Hamid, eine eloquente Bewohnerin Tottenhams, der BBC gegenüber trefflich als „Käfighaltung“ (www.bbc.co.uk/news/uk-14443866., 8.8.2011) beschrieben hatte, für erträglich und angemessen zu erklären, sofern dieser Käfig nur hinlänglich ausstaffiert bleibt – in anderen Worten: die Unterklasse als ewig passiven Transferempfänger und damit als Beschäftigungsmilieu für die ureigene Pädagogen-Klientel zu konservieren.

 

 

 

II.

Blackberries sind ein Hilfsmittel, ihre Verfügbarkeit aber keineswegs der Grund für die Synchronizität der Gewaltausbrüche im August. Für die sorgte vielmehr die Gleichheit der Lebensbedingungen in den betroffenen Vierteln: Im kommunitaristischen England werden die Einwohner missliebiger Stadtgebiete dort unter Verschluss gehalten, wo sie bereits seit Jahrzehnten zu wohnen gezwungen sind. Fast automatisch kommt einem dabei John Carpenters dystopische Zukunftsvision in den Sinn, die er in seinem Film „Die Klapperschlange“ 1981 entwarf: Manhattan ist hier ein abgeriegeltes Freiluftgefängnis, das von außen ernährt wird, aber sich selbst regiert und deshalb in einen urtümlich anmutenden Zustand des Bandenkriegs zurückfällt.

Nun wird Tottenham nicht wie Carpenters Film-Manhattan durch hohe Mauern und gesprengte Brücken vom restlichen Land getrennt, und doch trifft das Bild Rizwana Hamids vom Käfig zu: Sie meint damit das Leben in von der Politik erzwungenen „Communities“, in die die Einzelnen tatsächlich gesperrt sind, solange es ihnen nicht gelingt, so viel zu verdienen, dass sie wegziehen könnten. Ansonsten bleiben sie „wie gefangene Tiere“ (Hamid) an ihr Ursprungsmilieu gekettet, weil das ganze sozialpolitische Instrumentarium auf die „Community“ zugeschnitten ist und von lokalen Trägern (in staatlichem Auftrag) verwaltet wird, ob es sich nun um Wohngeld, Sozialhilfe, Gesundheitsdienste oder sogar Polizeibefugnisse (5) handelt.

Diese Entwicklung ist weder naturwüchsig eingetreten noch still und leise vorangetrieben worden; nein, Radikal-Kommunitarismus war die ausposaunte Agenda von New Labour, mit der die Partei Blairs und Browns die Wahlen 1997 gewonnen hatte. „Das Recht, Mitglied einer funktionierenden Gemeinschaft zu sein, gehört zu den wichtigsten Rechten des Individuums. Der zentrale gesellschaftliche Wert ist Inklusion, viel mehr als die Gleichheit, nach der die Alte Linke strebte, oder die individuelle Autonomie der Neuen Rechten“, betonte Blair in einer Wahlkampfrede damals (6) und machte sich als frisch gebackener Regierungschef auch gleich ans Werk: Ein kompliziertes Geflecht aus freien Wohlfahrtsträgern, staatlichen Koordinationsstellen, örtlichen Beiräten und so genannten „community leaders“ entstand insbesondere in „low income neighbourhoods“; ein Netzwerk lokalerpartnerships, in der sich der Wohlfahrtsstaat vorhandener (oder auch nur eingebildeter) kommunitä­rer Strukturen bediente, um die notorische Finanzierungskrise der Sozialpolitik mittels „Kultur“ zu beheben (govern by culture ist ein mittlerweile gängiger sozialwissenschaftlicher Terminus, um die New-Labour-Sozialpolitik zu beschreiben): Health Action ZonesEducation Action Zones und Employment Zonesumschließen und definieren seit 1998 genau die Stadtteile, in denen in diesem Sommer die Flammen loderten. (7) Denn Blairs new deal for communities war alles andere als ein bloßer Papiertiger, sondern strebte sein Ziel konsequent an, nämlich die möglichst kostengünstige Delegation vormals zentralstaatlicher Sozialaufgaben: Vor allem die Onkelökonomie der pakistanisch (und auch westindisch) geprägten Viertel konnte nun mit offizieller Billigung die andernorts nahezu unverkäufliche Arbeitskraft junger Menschen absorbieren und diese auch ansonsten wieder unter soziale Nahkontrolle stellen; wie und was dabei vonstatten geht, wie die finanziell und organisatorisch unterstütz­te und gestärkte Community in ihrem Inneren tatsächlich beschaffen ist – all das soll den beflissentlich multikulturellen ­Staat dann nicht mehr interessieren müssen. Im Gegenteil: Konsequent definierte der damalige New Labour-Schatzkanzler und spätere Premierminister Gordon Brown bei den Millenniumsfeiern 2000 die moderne britische Nation als eine „Community von Communities“. (8)

Ebenso offenherzig spricht auch die britische Politikberatung über Vor- und Nachteile
des Regierens mittels Kommunalisierung. „Die Neuerfindung der Communities“ betitelt John Clark sein Resümee der Blairschen Wende hin zum „Regieren über soziale Nahräume“: „Den ‚Communities‘ wird die Autorität, die Leistungsfähigkeit und die Effektivität zugesprochen – gedacht als politisch-moralische Akteure. Communities bedürfen der Aufmerksamkeit, des Respekts und des Interesses der Regierungsapparate und deren Personals: Konsultations-, Partizipations- und ‚Co-Governing‘-Prozesse bilden wesentliche Elemente New Labours zur Modernisierung des Regierens. Zugleich stellen die Communities Lagerstätten von Werten, Übereinkünften, Ressourcen und Kapazitäten dar, die im Prozess des Co-Governing ‚aktiviert‘ werden können. Eine solche Aktivierung kann unter anderem den zusätzlichen Effekt haben, die Kosten öffentlicher Wohlfahrtsproduktion zu senken […] An bestimmten Stellen werden diese durch das Konzept einer ‚Identitätsgemeinschaft‘ ergänzt. An diesen Stellen befinden sich die multikulturellen und unverwechselbar urbanen Areale, die als Orte von Minderheiten ethnisiert und kommunalisiert werden.“ (9)

Regulation durch Tradition

„Unverwechselbar“ sind diese „urbanen Areale“ beispielsweise durch gelbe Klebezettel und Plakate gekennzeichnet, die den Durchreisenden darauf aufmerksam machen, dass er sich in einer sharia law zone befände und dass dort der Verzicht auf Alkohol, Sex, Musik und Glückspiel durchgesetzt würde (Daily Mail, 28.7.2011) – ein durchaus konsequenter Ton, der da angeschlagen wird, sehen sich die Vollbartträger doch durch staatliche Machtdelegation ermächtigt.

Kenntlich waren diese Viertel natürlich auch schon vor der Machtübernahme Tony Blairs, jedoch nicht in so selbstbewusster Weise. Die konservativen Vorgängerregierungen hatten zwar ebenfalls ein „back to the basics“ in der Sozialpolitik verfolgt, das den bedürftigen Bürger zuallererst auf seine eigenen Ressourcen verwies und damit in der Konsequenz Immigrantennachkommen auf ihre hergebrachten Clan- und Sippenstrukturen zurückwarf. Das war aber nicht auch zugleich der ideologische Leitbegriff konservativer Sozialpolitik: Setzte diese ein in der Praxis natürlich meist ohnmächtiges Individuum in die Leerstellen staatlicher Sozialpolitik, so ließ New Labour den ideologischen Rückbezug auf den einzelnen Bürger gleich ganz fallen und erhob die in den ehemals industriellen Ballungsräumen entstandenen partikularen Kleinststaaten, Parallelgesellschaften und Ganglands zu offiziellen Territorien der Sozialpolitik und die sehr zweifelhaften leaders dieser Territorien damit zu semioffiziellen Polit-Akteuren.

Deregulierung wäre genau der falsche Begriff, um diesen Prozess zu charakterisieren; vielmehr bringt solche Territorialisierung ein deutliches Mehr an Regulation: Die Regeln der Rackets sind strenger und engmaschiger als die jeder klassischen Verwaltung; deshalb wird Horkheimers Alptraum einer völlig verwalteten Welt ohne jegliche Freizügigkeit in der Kleinstaaterei der Communities erst so recht real: „Wenn Banden sich immer und überall bilden und ihre Reviere Gebietskartellen gleichen, entsteht die verwaltete Welt“, hielt Wolfgang Pohrt deshalb zurecht fest. (10) Das London des durch und durch antisemitischen New Labour-Bürgermeisters Ken Livingstone verwandelte sich so in dessen Amtszeit (2000 bis 2008) zu einer sozialdemokratisch-multikulturalistischen Reprise des Chicago der 1920er Jahre, einer islamischen Farce auf die legendäre Kooperation von Gangstertum und Administration, in der sich das arme slumtown und das administrative racketville ergänzt hatten. (11) Wie in den 1920er Jahren dort korrupte Gewerkschaften und ethnisch-großfamiliär organisierte Stadtviertel das System Al Capone entstehen ließen und so darüber bestimmten, wer gewählt wurde und wer nicht, so entschieden im vergangenen Jahrzehnt in London Ethno-Clans und Großfamilien mit meist islamischem Background über Erfolg und Nicht-Erfolg von New Labour: Was 1920 in ChicagoSlumtown hieß, ist Briten unter dem bezeichnenden Namen Londonistan geläufig, deren Verhältnis zu Parlament und Rathaus eine Studie der (kaum Labour-kritischen) Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2006 so beschrieb: „In der Tat ist interessant zu sehen, wie sehr gerade Labour-Administrationen auf lokaler und nationaler Ebene sich der Logik einer essentiell religiösen Definition der Identität von Immi­grantengruppen unterworfen haben und diese mit ihrer Politik selbst verstärken. Labour hat sich von Anfang an stark auf traditionelle und religiöse Führer innerhalb der Zuwanderergemeinden gestützt und damit deren Rolle massiv gestärkt […] Diese Politik hat zu paradoxen Allianzen geführt, wo sich prinzipiell sehr verschiedene Weltanschauungen in einer kaum mehr auflösbaren wechselseitigen Abhängigkeit befinden. Heute ist Labour in vielen Wahlkreisen in den Großstädten Englands strategisch auf die Wählerstimmen der muslimischen Zuwanderer angewiesen, welche sich im Rahmen der patriarchalisch-autoritären Sozial- und Familienstrukturen der islamischen Parallelgesellschaft auch relativ effizient mobilisieren lassen.“ (12)

 

 

 

III.

Dass Bandenbildung dort irgendwann die einzig effektive Organisationsform wird, wo der Staat selbst die Bande zum Organisationsprinzip seiner Sozialpolitik gemacht hat und der ehemalige Premier – wenn auch in gesetzten Worten – die alte Autonomen-Parole „Bildet Banden“ propagiert, ist unvermeidlich. Ebenso unvermeidlich aber ist, dass diese Banden getreu ihrem eigenen Organisationsprinzip keine stabile Herrschaftsform abgeben, sondern dass der ewig währende Kampf um Territorien und Beute, das brutalisierte Aufbegehren gegen Enge, Langeweile und die alten Kapos (13) stete Unruhe schaffen. Der New Labour-Wahn, mit Familie, Nachbarschaft und Religion die Unterschichten ruhig stellen zu können, indem man so insbesondere ihren islamischen Kern isoliert und sich selbst überlässt, ist im August vor den Augen der Weltöffentlichkeit gescheitert; denn gerade in den selbsternannten Scharia-Zonen erhielt der in deren Inneren ohnehin permanent geführte Bandenkrieg plötzlich eine neue, einigende Front. Die staatlich anerkannten Platzhirsche, die „community leaders“, konnten die Jüngeren nicht mehr im Zaum halten, ja, deren Destruktions­wille richtete sich diesmal sogar explizit nicht nur wie üblich und alltäglich gegen Schwächere und Nicht-Mitmacher, sondern auch und gerade gegen die Väter und Onkel samt ihrer ökonomischen Infrastruktur aus Läden, Klitschen und Imbissen. Iain Duncan Smith, der konservative Arbeitsminister und Mitglied des Parlamentsausschusses zum Bandenwesen, bestätigt diese ungewöhnliche Vereinheitlichung: Die etwa 200 „postcode gangs“, die sich nach behördlichen Erkenntnissen die Territorien der ärmeren Stadtteile Londons aufteilen, hätten für die Tage des Aufruhrs kooperiert: „Normalerweise bekriegt jede postcode-gang die andere. Jetzt gibt es Anhaltspunkte dafür, dass alle Gangs während der Riots einen Waffenstillstand einhielten und untereinander Informationen austauschten“, sagte der Minister (Spectator, 17.8.2011).

Natürlich handelte es sich dabei nicht um einen formal abgesprochenen Pakt, sondern um eine spontan einheitliche Reaktion auf die Verletzung der informellen Souveränität der Gangterritorien. Was allen kleinen Gangs nämlich gemein ist: die Ablehnung der großen Gang, als die der Zentralstaat allein noch in die Perspektive dieser Jugendlichen gerät. Der kommunitär unsichtbar gewordene Souverän, der das Gros der Sozialtransfers in die Hände der so genannten „local councils“ gelegt hat, ist mit der Tötung Mark Duggans unvermittelt als Eindringling und Aggressor aufgetreten; ein Eindringen, das mit einer regelrechten Brandschatzungs- und Plünderungswelle quasi vergolten wurde. Die Gangs knackten die Shops und diejenigen, die irgendwie beim Tumult auch mitmischen wollten, klauten danach (und wurden natürlich zahlreich erwischt). (14) Den Gangs selber ging es weniger um Beute als um den Beweis, wer in Tottenham und anderswo über Eigentum und körperliche Unversehrtheit bestimmt, mit wem man rechnen muss – den Gangs – und auf wen kein Verlass ist – die Cops.

Dabei birgt der Angriff der Jungen auf das Eigentum der Väter und Onkel in keiner Weise irgendein Hoffnungs- oder Veränderungspotential, im Gegenteil: jegliche In­frastruktur erscheint den Plünderern rein nur noch als potentielle Beute. Und wenn die denn einmal tatsächlich zu machen ist, wie in den Augusttagen, sieht man das Erbeuten als verdienten Zuschlag auf’s und Entschädigung für’s alternativlose Vegetieren mit Stütze oder mit Einkommen, die nicht einmal dazu reichen, endlich bei den Eltern oder Verwandten ausziehen zu können.

Vom inneren Orient

Was in dieser Perspektive überhaupt nicht mehr in Sicht gerät, ist der vertraglich regulierte Verkauf von Arbeitskraft als alternative Zugangsmöglichkeit zur „ungeheuren Warensammlung“, als die der gesellschaftliche Reichtum erscheint (MEW 13, 15) – die Jungen erkennen ihre tatsächliche Überflüssigkeit auf dem offiziellen Arbeitsmarkt hart, aber realistisch an. Und was für sie akut gilt, gilt potentiell für alle; denn an der Richtigkeit der Diagnose, die Horkheimer am Ende der liberalen Ära stellte, hat sich im seither vergangenen Dreivierteljahrhundert nichts Grundlegendes geändert: Statt „Kontraktpartner“ zu sein, stünden die Massen nur noch vor der Wahl „Bettler, Objekte der Fürsorge“ zu sein oder „unmittelbar Objekte der Herrschaft“. (15) Auch Wolfgang Pohrt hat die Scheinhaftigkeit von Arbeit und Lohn, die doch tatsächlich nur Zuweisung und Gratifikation sind, klar herausgestellt: „Die Menschen werden Rentner und Zwangsarbeiter in einem. Ihre materielle Existenz leitet sich nicht aus einem unverbrüchlichen Rechtsanspruch auf das Entgelt für ihre Arbeitskraft her, und sie wird als Gnadenerweis, als jederzeit widerrufbare Gratifikation empfunden.“ (16)

Der plündernde Prekäre spitzt diese allgemeine Prekarität zu, indem er die für ihn tatsächlich unzutreffende Fiktion des Tausches auch praktisch aufhebt und die ohnehin herrschenden Gewaltverhältnisse nachbildet: Markt war gestern, Beute ist heute; was den oben herrschenden Rackets recht ist, ist den unten herrschen wollenden Gangs billig: „Die Formel vom großen Kuchen, den es zu verteilen gelte, drückt das veränderte Bewusstsein aus. Selbst zu dem, was sie selber produzieren, verhalten sich die Menschen wie zu geraubtem Gut. Weil sie die Welt als Beute betrachten, organisieren sie sich in Banden. Und weil das alle tun, verschwimmen die Grenzen zwischen Einflussnahme, Nötigung und offener Gewalt.“ (17) So sind die Mitglieder jener „am meisten besorgniserregenden 120.000 Familien“, die Premierminister Cameron als Kern der Riots identifizierte (Welt, 7.9.2011), lediglich die zur vollen Kenntlichkeit entstellten Charaktermasken des Spätkapitalismus, die traurige Avantgarde der Überflüssigkeit.

Als ideologischer Niederschlag dieses Zustandes drängt sich wiederum der Islam förmlich auf, und das nicht nur allein deswegen, weil er bei einem
Großteil dieser Familien zu deren hergebrachten Selbstverständnis gehört, stammen sie doch aus Pakistan und Bangladesch (das bis 1971 Ostpakistan hieß). Es sind andere Qualitäten, die den Islam weit über die Frage bloßer Religionszugehörigkeit der Bewohner hinaus zum kulturellen Kernbestand der britischen Ganglands machen. Diese anderen Qualitäten, die die traditionelle Religion einer spätantiken Handels-, Sklavenhalter- und Raubökonomie mühelos in ein postmodernes Konglomerat aus Hassbotschaften verwandeln lassen, durchkreuzen auch die kommunitaristische Einhegungsstrategie. Dabei war es gerade sie, die diese Mutation gefördert hat: Ganz bewusst päppelte New Labour den Islam als Kern und Rollenmodell der Kommunitarisierung der Unterschichten. (18) Kenan Malik beschrieb diesen Prozess ganz empirisch am Beispiel Bradfords, der Stadt mit dem höchsten pakista­nischstämmigen Be­völkerungsanteil Großbritanniens und seit 1989 berüchtigt wegen einer öffentlichen Salman-Rushdie-Bücherverbrennung: Die Islamisierung der asiatischen Jugendlichen „wurde verstärkt durch die neue Bezie­hung zwischen lokalen Behörden und Mo­scheen. 1981 gründete und finanzierte der Stadtrat dasBradford Council Of Mosques und betrachtet dieses Gremium seither als Stimme der Community. Das marginalisierte die säkularen Radikalen – die Vereinigung Asian Youth Movement löste sich auf – und gab religiösen Wortführern neue Macht. Die säkulare Tradition wurde regelrecht ausgelöscht und der militante Islam zum Sprachrohr unzufriedener Jugendlicher. Dieser Multikulturalismus schuf nicht den militanten Islam, schuf ihm aber einen Entfaltungsraum in den britischen Moslem-Communities, die er vorher nicht besaß. Er förderte eine tribalisierte Nation und untergrub fortschrittliche Bestrebungen in den Communities.“ (Born in Bradford, in: Prospect, Ausgabe 11/ 2005).

Die ökonomische und sozialpolitische Segregation schuf, gepaart mit bewusst oder fahrlässig vorangetriebener Islamisierung, in Bradford und anderswo im urbanen Großbritannien Gebilde, die als inneren Orient zu beschreiben sicherlich nicht fehlgeht. Die politische wie ideelle Aufwertung des Islams als Entree-Ticket asiatischer Zuwanderer und ihres Nachwuchses in ein England der Gemeinschaften förderte eine Art von Separatismus, der nicht nur von weitem an die Ideologie der amerikanischen „Black Muslims“ erinnert, eine Ideologie, in der der Wunsch nach territorial-rassischer Segregation mit Versatzstücken aus dem Koran verschmilzt. Mehr aber als in den Vereinigten Staaten, wo der schwarze Islam als synthetische Esoterik aus zweiter und dritter Hand daherkommt und der demzufolge in der islamischen Welt auch als blanke Blasphemie gilt, wird der Islam den pakistanischen Jugendlichen aus erster Hand verabreicht: So markieren die Community-Grenzen denn auch nicht nur schlichte Territoriumsgrenzen für postcode-gangs und Sozialpolitiker gleichermaßen, sondern bilden häufig auch eine Front, an der der imperiale Anspruch des Islams gestärkt mit seiner ganzen inhärenten Aggressivität und seinem Größenwahn sich an der weltlich-westlichen Staatsautorität reibt – wenn sie denn einmal als solche manifest wird.

Gangsta statt Gangster

Daran ändert nichts, dass der Gangland-Islamismus auf ideologische Geschlossenheit verzichtet; man kann den Koran zitieren, man muss es aber nicht können; man sollte nicht gegen die Alkohol- und Drogenvorschriften verstoßen, was viele der gangstas aber nicht hindert es zu tun. Gerade weil er aus der Religion kaum mehr als die ansprüchlich-narzisstische Selbsterhöhung des „Gläubigen“ übernimmt und diese mit allerlei kruden Hass- und Machtfantasien kombiniert, ist dieser Pseudo-Islamismus attraktiv: Die weißen und schwarzen Unterschichten sind so förmlich zur Adaption, Koalition und Mimikry herausgefordert. Der Siegeszug des Hip-Hop als Musik und Life-Style im weitesten Sinne fußte genau auf diesem Phänomen; seine Texte und Sitten reflektieren es überdeutlich. Deshalb ist es auch absurd, aus der vermeintlich überproportionalen Beteiligung schwarzer Briten an den Riots schließen zu wollen, dass das Ganze nichts mit dem Islam zu tun habe. (19)

Statt dass also, wie Labour hoffte, der Glaube zur sozialkonservativen Sistierung in den Armenvierteln beitragen würde, bildete sich eine Art Ghetto-Islam, der dessen aggressive Elemente übernimmt, ohne sich deshalb ins hergebrachte Vater-Onkel-Patriarchat zu integrieren. Die über Generationen hinweg erlernte Überflüssigkeit der Jungen befördert vielmehr ein übersteigertes Selbstbild, ein tatsächlich nur noch auf Gesten reduziertes und deshalb in der Einbildung mächtiges Super-Ego, dessen radical chic sich aus islamischen Stilzitaten bedient. Dass sich der Islam von allen Bekenntnissen am besten zur postmodernen Ausgegrenzten-Religion eignet, hat wiederum mit seiner vorfeudalen Konstitution zu tun: Der Islam als Ideologie einer spätantiken Rentiers- und Raubökonomie (mit der dazugehörigen traditionellen Verachtung der Arbeit) erwacht runderneuert aber im Kern unverändert dort, wo Sozialtransfer kombiniert mit krimineller Aneignung zum Lebensunterhalt beiträgt (und traditionelle Lohnarbeit fern wie der Mond ist).

Das Halskettchen mit dem arabischen Krummschwert hat so die ideologisch neutralen Klunker der klassischen Capone-Gangster abgelöst. Der gangsta hat auch wirklich nicht mehr viel mit dem historischen Typus gemeinsam, den James Cagney oder Edward G. Robinson auf der Leinwand verkörperten. Besetzten diese Gang­ster einst echte Nischen, die der ethisch aufgeladene Produktionskapitalismus beließ, namentlich das Geschäft mit dem Glückspiel oder den Handel mit Alkohol, sind die Nachfahren im diffusen Spätkapitalismus auf die administrativ geschaffenen Schutzräume und Aufbewahrungsareale für die Überflüssigen verwiesen. Und so nimmt es nicht wunder, dass der radical chic der Abgehängten nicht englischen Communities und amerikanischenhoods vorbehalten ist, sondern bei den Eckenstehern aufgegebener Stadtteile in Frankreich ebenso dominiert wie in sozialpädagogischen Institutionen und sozialdemokratischen Gesamtschulen deutscher Großstädte. Auch die Konflikte, die sich in diesen doch so verschiedenen Aufbewahrungsarealen abspielen, ähneln sich in ihrer Struktur: Die Schein-Souveränität des Gang-Territoriums speist sich in allen
genannten Fällen daraus, dass der offizielle Souverän diese Territorien zwar unterhält, deren Insassen aber nicht mehr benötigt und sich deshalb auch nicht mehr darum schert, wie diese Insassen sich benehmen. Eine Gleichgültigkeit, die anerkennende Sozialarbeit, Respekt-Initiativen und Antirassismus nur fadenscheinig bemänteln.

Wo der Einzelne sich kaum mehr mit in der Restgesellschaft geltenden Gesetzen und Normen auseinandersetzen muss, wo Fehlverhalten keinerlei ernsthafte Konsequenz nach sich zieht (wie etwa den Verlust einer ökonomischen Perspektive, die es als lohnende ja ohnehin nicht gibt), steuert die Devianz mit Notwendigkeit auf den Zusammenstoß mit dem Eigentum zu; als einzig noch verbliebene Möglichkeit, überhaupt eine Grenze zu erfahren, an der das eigene Handeln etwas anderes als verständnisvolles Desinteresse zeitigt. Bis es soweit aber kommt, dass wie im englischen August die Polizei einrückt, um wenigstens die Gebäude vor Brandstiftung und die Lager gegen Plünderung zu schützen, haben unzählige Insassen dieser Areale einen Alltag erlitten, in dem sie tyrannisiert, gedemütigt, geschlagen und beraubt wurden und werden. Überflüssigkeit, insbesondere dann, wenn deren Kränkungen mit Islamismus kompensiert werden, zerstört lange vor den Stadtteilen die Moralentwicklung ihrer Bewohner.

 

 

 

IV.

Seit Jahren hat Indymedia nicht mehr so viel Staub aufgewirbelt, so viele empörte Reaktionen in Netz und Presse provoziert wie mit diesen Zeilen, die ein gewisser „riot“ am 9. August um 9 Uhr 27 postete: „Ultimative Riots in London! Fighter-Groups kontrollieren weite Teile der Stadt und lassen die Insignien des Kapitalismus und der rassistischen Ausbeutung in Flammen aufgehen! Jetzt ist kämpferische Solidarität mit den Londoner Genoss_innen gefragt! Schon seit Wochen versuchen (noch) vereinzelte Kämpfer_innen auch in Berlin flammende Zeichen des Aufstandes und der Revolution zu setzen. Fast jede Nacht werden auch in Berlin die kapitalistischen Wohlstandsburgen der saturierten rassistischen ‚Mehrheitsgesellschaft‘ mit Feuer und Flamme angegriffen. Flammende Vorzeichen in Hausfluren, Kellern und auf Dachböden in den zur Yuppiesierung anstehenden Innenstadtbezirken werfen erste Schlaglichter auf den kommenden Aufstand der rassistisch und sozial unterdrückten Massen auch in Berlin!“

Solche Auslassungen sind zwar komplett verrückt, es liegt aber auch eine fatale ideologiegeschichtliche Konsequenz in ihnen. Denn hier schreiben die legitimen Kinder der Autonomia einfach immer so weiter, wie es die operaistischen Radikalen der 1970er einstmals vorgemacht hatten. Und gerade weil das Ergebnis so absurd ist, gibt diese Absurdität unfreiwillig auch die Herkunft der immer noch eingeschliffenen Vorstellungen von Delinquenz als Revolutionsersatz der Kritik preis.

Dieser Ersatz wurde fällig, als in den Krisen der 1970er Jahre berechtigte Zweifel am bis dahin geltenden linksradikalen Credo sich meldeten: Daran nämlich, ob der so genannte „Massenarbeiter“ weiterhin im Fokus revolutionärer Agitation und Hoffnung stehen solle und ob die letzte Schlacht tatsächlich noch an den Fließbändern der großen Automobilwerke zu schlagen wäre. Die „Zentralität der Arbeiterklasse“ (Mario Tronti), die ursprünglich ein politisches Gegenkonzept zum Reformismus der Arbeiterparteien meinte, stand zur Disposition. Antonio Negri und andere glaubten schließlich in den Hausbesetzungen und Stadtteilinitiativen der späten Siebziger eine revolutionäre Antwort auf den unvermeidlichen „Abschied vom Proletariat“ (André Gorz) gefunden zu haben: Die Antagonisten der Zukunft sollten nicht mehr Arbeiterklasse und Kapital heißen, sondern „Massenautonomie“ und „Planstaat“; ihre Kampfarena sollte die „verstreute Fabrik“ (20) sein, ein Machtgebilde, das letztlich die ganze Stadt umfasste.

Mit dieser Wendung wurde urbane Delinquenz zum revolutionären Selbstschöpfungsakt eines diffusen Ersatz-Subjekts, das in der ebenso diffusen Fabrik die Stelle einnehmen sollte, die der militante Arbeiter vergangener Epochen innehatte: Der „proletarische Einkauf“, Diebstahl und Plünderung galten nun als wilder Streik der Stadt, ja als Vorwegnahme des Kommunismus: „Der Inhalt des Projekts der Arbeiterorganisation bestimmt sich […] durch das Programm der direkten Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums. Die Aneignung durch die Arbeiter ist das praktische Erkennen […], dass ein neues revolutionäres geschichtliches Subjekt sich heute selbst die Aufgaben stellen kann, auf dem eigenen Kampf, auf den Merkmalen der eigenen Existenz den Kommunismus aufblühen zu lassen“ (21), jubilierte Antonio Negri vor jetzt bald vierzig Jahren.

Gesellschaft der Kämpfer

Mit anderen Worten: Die Welt als Beute! Revolutionäre Theorie kopierte und überhöhte zugleich den Kapitalismus der nachliberalen Ära, der in bloße Rackets zerfällt, weil er sich auf seiner eigenen ökonomischen Grundlage sozial aufgehoben hat. Diesem Zustand korrespondiert das im Kern vitalistische Ideal Negris: Nur was sich zusammenrottet, existiert überhaupt. So ersetzt schließlich Fichte Marx, der Klassenkampf löst sich in freie Tathandlungen auf: Rein aus der praktisch zu beweisenden Fähigkeit zum Handeln leitet sich eine absolute Subjektivität her, die nicht mehr irgendwelchen Beschränkungen des Verstandes und der Objektivität unterliegt; Gesellschaft erscheint so in der Autonomen-Tradition konsequent als eine Summe von „Kämpfen“, deren Träger und Inhalte stets immer noch beliebiger werden. Die städtebaulichen Folgen praktisch gewordener Theorie kann man übrigens an der Berliner U-Bahnstation „Görlitzer Bahnhof“ in Augenschein nehmen; dort erhebt sich auf dem Fundament eines durch „proletarischen Einkauf“ 1987 zerstörten Supermarkts nun die monströse Omar-Ibn-Al-Khattab-Moschee.

Nein, wenn man angesichts der Riots des August 2011 aus irgendetwas Hoffnung schöpfen möchte, dann sicherlich nicht aus der Tatkraft irgendeines der Akteure, sondern eher aus der raschen Erschöpfung der „Kämpfe“: Soziologische Befunde, die im allgemeinen eher nostalgisch-nörgelnd konstatieren, dass soziale Milieus ihre Bindungskraft verlieren, oder dass Individuen die Einstellungen ihrer peer-groups immer seltener fest verinnerlichen, scheinen sich zu bewahrheiten. So wie Gewerkschaften und Gesangsvereinen die Mitglieder schwinden, wirkt auch der Bandenzusammenhalt weiter unten in der Gesellschaft loser denn je: Die Ausschreitungen haben sich nach vier Tagen buchstäblich in nichts aufgelöst; deshalb wird die parlamentarische Untersuchungskommission zum Bandenwesen kaum etwas auch nur annähernd Vergleichbares finden, was Martin Scorseses filmisches Historiendrama Gangs Of New York (2002) thematisierte: Wie nämlich Bandenzugehörigkeiten dort einst – ähnlich primitiven Stammeszugehörigkeiten – alle Lebensbereiche der Mitglieder determinierten.

Vielmehr trifft wohl auch auf England das zu, was Wolfgang Pohrt vor jetzt bald 15 Jahren in seiner Bandenstudie am Beispiel Chicagos resümierte: „Inzwischen sind die Banden so hohl, dass empirische Forschungen nichts mehr finden […] Mit der Befähigung zur Bandenbildung geht die zur Herrschaft generell zurück, weil Staatsmann und Gangsterboss von den gleichen Grundqualifikationen zehren […] Dort wie hier scheint die Kraft zu fehlen, welche nötig ist, wenn man die Einzelnen fürs Kollektiv begeistern will“. Hoffentlich behält Pohrt mit dieser Prognose Recht, denn das würde heißen, dass der allgemeine Überdruss sogar die Begeisterung für die Barbarei verleiden könnte.

Uli Krug (Bahamas 63/2012)

Anmerkungen:

 1) Dan Diner analysiert solche Traktate der 30er und 40er Jahre in: Feindbild Amerika, München 2002,108 ff. Wie sehr unter dem Begriff „Plutokratie“ England und die städtischen USA zusammengedacht werden, kann man diesen Schriften deutlich entnehmen. Aber auch unabhängig von den USA wird die liberale Klassengesellschaft Englands als Antipode zur Volksgemeinschaft thematisiert, siehe beispielsweise: Schulz, F.: Das ist England!, Berlin, 1940/42. Dessen zentrale These lautet: „Der liberale Handelsmoloch verschlingt Männer, Frauen und Kinder“.

 2) zitiert nach Diner: 100

 3) Die vorläufige Bilanz laut britischem Wikipedia-Artikel (der sich auf eine akribische Statistik des Guardianstützt; www.guardian.co.uk/news/datablog/interactive/2011/aug/09/uk-riots-incdent-map ) sieht so aus: Hauptsächlich betroffen waren die Regionen London, Manchester, Liverpool, Bristol und Birmingham; es gab fünf Tote, 186 verletzte Polizisten, 3.100 Festnahmen, über 1.000 Anklagen und einen Sachschaden von etwa 200 Millionen Pfund.

 4) Auch Justizminister Kenneth Clarke hatte beispielsweise beklagt, dass die bekannt gewordenen „Wiederholungstäter aus einer verwilderten Unterschicht (stammten), die nichts mehr mit dem Mainstream teilt, außer dessen Materialismus“ (Welt, 7.9.2011). Anders als deutsche Kommentatoren reduziert er natürlich den britischen „Mainstream“ nicht auf „Materialismus“.

 5) Daniel Gilling untersucht in seinem Aufsatz: Territorialisierung und Community, Sicherheitspolitik in Großbritannien den 1998 unter New Labour in Kraft getretenen „Crime And Disorder Act“: Lokal verantwortliche Behörden und Vertreter der „Community“ – nach denen die New Labour-Administration manche Areale regelrecht durchkämmt habe, wie es häufig heißt – bilden demnach so genannte Partnerschaftsräte (CDRP), die als Mediatoren und Grenzträger der Macht auftreten sollen. (in: Kessl, F./Otto, H.-U. (Hg.): Soziale Arbeit und Soziales Kapital. Zur Kritik lokaler Gemeinschaftlichkeit, Wiesbaden 2004, 17
1 ff.)

 6) Zitiert nach: Joan Smith: The ideology of ,family and community‘: New Labour abandons the welfare state, in:The Socialist Register, 1997, 186 (Übersetzung, U.K.)

 7) Einen Überblick über die Entwicklung ab 1998 gibt John Mohan in seinem Aufsatz: Sozialer Wandel, räumliche Spaltung und Sozialpolitik: New Labour und der britische Wohlfahrtsstaat, in: Kessl, F./Otto, H.-U. (Hg.): Soziale Arbeit und Soziales Kapital. Zur Kritik lokaler Gemeinschaftlichkeit, Wiesbaden 2004, 97–112

 8) zitiert nach John Clark: Die Neuerfindung der Communities, in: Kessl, F./ Otto, H.-U. (Hg.): Territorialisierung des Sozialen: Regieren über soziale Nahräume, Opladen 2007, 66

 9) ebda., 68 f; Hrvb. v. mir

 10) Wolfgang Pohrt: Brothers In Crime, Die Menschen im Zeitalter ihrer Überflüssigkeit, Berlin 1997, 46

 11) Diese treffenden Begriffe prägte der Chicagoer Soziologe Irving Spergel in seiner Gang-Studie „Racketville, Slumtown, Haulburg. An Exploratory Study of Delinquency Subcultures“, Chikago 1964.

 12) Ernst Hillebrand: Dicke Luft in Londonistan, library.fes.de/pdf-files/bueros/london/03686.pdf, S. 5

 13) Das bestätigte der britische Journalist Kenan Malik im Interview der Jungle World (18.08.2011) nolens volens: „Ich würde fast nur von einem Generationenkonflikt sprechen. Es ist beeindruckend, wie wenig sich die Randalierer um ihre Communities zu sorgen scheinen […] Mehrfach habe ich darauf hingewiesen, dass das, was wir heute unter ‚community‘ verstehen, keine richtigen Communities sind. Und diejenigen, die sich community leaders nennen, vertreten niemand von den Menschen, die in diesen Communities leben, sondern haben ihre Rolle aufgrund ihrer Beziehung zum Staat.“

 14) Die Jungle World (25.8.2011) veröffentlichte folgende Zahlen: Knapp 2.000 Menschen seien während der Riots verhaftet worden; überdurchschnittlich viele Fälle wurden an höhere Instanzen zur Erreichung höherer Strafen überwiesen; mit 86.000 sei die Zahl der Gefängnisinsassen in England und Wales auf einen „historischen Höchststand“ gestiegen.

 15) Max Horkheimer: Die Juden und Europa (1938), in: Ders. u. a.: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt 1984, 36

 16) Wolfgang Pohrt: Theorie des Gebrauchswerts, Berlin 1995, 21 f.

 17) Ders.: Brothers In Crime, a.a.O., S.198 f.

 18) Diese Politik befindet sich übrigens durchaus im Einklang mit den theoretischen Postulaten führender Theoretiker des Kommunitarismus: In seinem neuen Buch Laizität und Gewissensfreiheit (Frankfurt, 2011) fordert Charles Taylor das Aufgeben der säkularen „Scheinneutralität“ des Staates und die Preisgabe des öffentlichen Raumes an die Religionen.

 19) So wie der Rassenkundler Jürgen Elsässer, der messerscharf folgerte: „Man muss doch nur den Fernseher anmachen: Die plündernde und brandschatzende Meute besteht fast durchgängig aus Schwarzen. Und die Opfer sind Weiße und die anständige Mehrheit der Immigranten […] Die Schwarzen kommen zu einem Gutteil aus Westindien, das sind keine Moslems. Bei den Schwarzen aus Afrika dürften sich Moslems, Christen und Anhänger von Naturreligionen die Waage halten. Also hört auf mit der Hetze gegen Muslime! Es geht um einen Stopp der unverantwortlichen Einwanderungspolitik (in GB und bei uns), nicht um einen Kampf gegen den Islam.“(http://juergenelsaesser.wordpress.com/2011/08/10/rassenkrawalle-in-uk-der-mob-ist-die-bestie/; vom 10.8.2011).

 20) „Auf der einen Seite werden die an Fabriken gebundenen Arbeitskräfte zahlenmäßig verringert […], auf der anderen Seite wird eine große zahl von Arbeitskräften, besonders Jugendliche und Frauen in eine Arbeitsform eingebunden, die als verstreute Fabrik (‚fabbrica diffusa‘) fungiert“. Antonio Negri: „Dall’ operaio massa all’ operaio sociale“, Mailand 1979, deutsch, in: Arbeiter/innenmacht gegen die Arbeit, Berlin 1986, 125

 21) Antonio Negri: Krise des Plan-Staats, Kommunismus und revolutionäre Organisation, Berlin 1973, 29


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Der Staat fürs Leben oder Sterben für den Staat?


Der ideale Politiker einer bürgerlichen Republik ist – ob einfacher Parlamentarier oder staatslenkender Kanzler bzw. Präsident – im Grunde genommen ein blasser und nicht-charismatischer Verwaltungsbürokrat. Das jedenfalls wäre ein Stück realisierter Utopie. Denn „unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, sagt Brechts Galilei. Und doch sehnt sich der Staatsmann – und mit ihm das Volk – nach dem Ausnahmezustand. Die Größe einer historischen Figur – und wer wollte nicht in die Geschichte eingehen? – bestimmt sich schließlich nach der (Folgen-)Schwere ihrer Entscheidungen. Je mehr Menschenleben dabei von diesen abhängen, desto besser lässt es sich an ihnen berauschen. So erfreut sich der Katastrophenfilm aus Hollywood, dessen Regisseure wahrscheinlich nicht zufällig Deutsche sind (Emmerich, Petersen), weltweit nicht gerade geringer Beliebtheit. Früher oder später kommt in ihm nämlich ein charismatischer Präsident ins Bild, um sich selbstzerfleischend z.B. die Frage zu stellen, ob es richtig sei, die von einem tödlichen Virus befallene Bevölkerung einer mittleren Kleinstadt mit Napalm zu belegen, um wenigstens den Rest der Menschheit zu retten. Eine Frage, die jener Souverän – natürlich erst nach schlaflosen Nächten, die ihm natürlich anzusehen sind – stets bejaht, worauf zerknirscht aber entschlossen entsprechende Anweisungen ans Fußvolk ergehen. Zwar geht die Sache meistens zur allgemeinen Erleichterung aller (v.a. der Zuschauer) am Ende dann doch noch gut aus – etwa weil in letzter Sekunde von einem weiteren Helden ein Gegenmittel zusammengebraut werden konnte –, doch ändert dies nichts daran, dass im Falle eines ausbleibenden Wunders jeder die Entscheidung des fiktiven Präsidenten mitgetragen hätte. Und so diskutiert die Öffentlichkeit auch in der Wirklichkeit voller Angst-Lust immer wieder gerne darüber, ob und ab wann man ein von Terroristen gekidnapptes Zivil-Flugzeug, das z.B. auf ein Hochhaus zurast, vom Himmel schießen darf. (1)

Insofern wären Volk und Politiker Israels durchaus zu beneiden. Keines anderen Staates Existenz und Bevölkerung wird schließlich seit seiner Gründung permanent kriegerisch und terroristisch bedroht, in keiner anderen bürgerlichen Demokratie sind Normal- und Ausnahmezustand derart schwer zu unterscheiden, nirgendwo anders werden den demokratischen Führern regelmäßig tatsächlich große Entscheidungen abverlangt. Zuletzt hat Benjamin Netanjahu wieder einmal eine solche treffen müssen: Um den im Juni 2006 von einem Hamas-Kommando entführten damals 19-jährigen Soldaten Gilad Schalit freizubekommen, wird Israel 1.029 inhaftierte Palästinenser – darunter zahlreiche Extremisten – aus den Gefängnissen entlassen und abschieben. Ähnlichen Austausch gab es bereits 1985 (drei israelische Soldaten gegen 1.150 Terroristen-Palästinenser) und 2004 (der Geschäftsmann Tennenbaum sowie die Leichen von drei israelischen Soldaten gegen 435 Terroristen-Palästinenser).

Ein israelisches Lehrstück

Die deutschen Reaktionen auf diese in Israel umstrittenen aber in Parlament wie Bevölkerung mehrheitsfähigen Entscheidungen reichen in der seriösen Presse von merkwürdig gelassen und sachlich (Tagesschau, FAZ) bis zu verdruckst „israelkritisch“, wenn sich etwa Peter Münch für dieSüddeutsche fragt, warum „der historische Sieg der Hamas doch keiner sein könnte, vielmehr für beide Seiten Gefahren drohen“ könnten: „Die Blockade bleibt bestehen, und nach der Heimkehr Gilad Schalits könnte Israel sogar die Schrauben wieder anziehen. Denn im Kleingedruckten zeigt dieser Handel auch, wie die Regierung in Jerusalem den Gaza-Streifen sieht: als ein schwarzes Loch, in dem immer weiter auch explosive Stoffe quasi versenkt werden können. Anders ist es nicht zu erklären, dass eine beträchtliche Zahl der Freigelassenen wegen der von ihnen drohenden Gefahr nicht in ihre Heimat im Westjordanland zurück dürfen, sondern nach Gaza abgeschoben werden. In israelischen Sicherheitskreisen heißt es dazu, dass dort unter den vielen tausend Extremisten ein paar hundert weitere kaum auffallen. Doch die Radikalisierung des Gaza-Streifens wird das weiter befördern. Der nächste Waffengang scheint ohnehin nur eine Frage der Zeit zu sein. Auf den Triumphzug könnten sehr bald wieder Trauermärsche folgen.“ (14.10.2011)

Man muss aber gar nicht so „israelkritisch“ und schadenfroh denken wie der Peter Münch, um das Entscheidende des überall zum „Gefangenenaustausch“ verniedlichten Freikaufs einer Geisel beredt zu beschweigen, weshalb es sich als Ahnung zunächst nur in Internet-Foren vorsichtig Gehör verschaffte: die humane Größe und moralische Erhabenheit der Israelis, denen für die Rettung eines Einzelnen der ihren (ob tot oder lebendig) kein Preis zu hoch zu sein scheint. Eine rühmliche Ausnahme bildet daher – wie so häufig – Richard Herzinger mit seinem Kommentar für die Welt (15.10.2011): „Ist das Eingehen auf einen solchen Deal, der verbrecherische Taten zu belohnen scheint, somit ein Zeichen der Schwäche Israels? Nicht, wenn man die moralische Dimension dieses Austauschs ins Auge fasst. Das Schicksal des jungen Soldaten, der mit 19 Jahren in die Fänge der Hamas geraten war, hat die Seele der israelischen Gesellschaft tief berührt. Das Zelt, das seine Eltern zur Mahnung an das Schicksal ihres Sohns nahe der Residenz des israelischen Ministerpräsidenten in Jerusalem errichtet hatten, war seit zwei Jahren zu so etwas wie dem moralischen Zentrum, zum Stachel im Gewissen der Nation geworden. Es gemahnte an ein tief in der religiösen und kulturellen Tradition des Judentums verankertes Gebot.Pikuach Nefesh, die Verpflichtung zur Rettung von Leben, ist eines der höchsten Prinzipien jüdischer Ethik, das über allen religiösen Gesetzen und Vorschriften steht.“

Herzinger ist des Weiteren zunächst zuzustimmen, wenn er schreibt: „Der zivilisatorische, humane Standard einer Gesellschaft lässt sich nicht zuletzt daran ermessen, wie hoch sie den Wert des individuellen Menschenlebens einschätzt. So betrachtet, ist das […] Abkommen über den Austausch […] ein Lehrstück.“ Doch dann macht er es sich ein bisschen zu leicht: so zeige das Lehrstück nämlich lediglich „den fundamentalen Unterschied zwi
schen einer offenen, demokratischen Gesellschaft und einem zynischen kollektivistischen Unterdrückungssystem. […] Welchen Kontrast bietet ein solches Wertesystem zu den Maximen einer (Un-)Kultur, die den Märtyrertod als oberstes Ideal namentlich für junge Männer propagiert und sich nicht scheut, sie im Namen einer Religion als Selbstmordattentäterzu missbrauchen!“ Denn: die Wertschätzung des individuellen Menschenlebens wäre schließlich auch Maßstab, um gerade „offene, demokratische Gesellschaften“ voneinander zu unterscheiden. Nicht der offensichtliche Kontrast zur Unkultur wahnsinniger und antisemitischer Mord-Kollektive lässt nämlich den „zivilisatorischen, humanen Standard“ der israelischen Gesellschaft als solchen vollends ermessen; schon das (obzwar postfaschistische, aber darum nicht weniger) demokratische Deutschland hat in den 1970ern auf eine ähnliche – allerdings vergleichsweise harmlose – politische Situation gänzlich anders reagiert als Israel. Erst der Vergleich Benjamin Netanjahu-Helmut Schmidt ergäbe daher ein wahres politisches Lehrstück (2), und zwar über zwei gegensätzliche Modelle, bürgerlich-staatliche Souveränität zu interpretieren, wobei es kein Zufall sein dürfte, dass es sich im einen Fall um den Staat der Holocaust-Überlebenden, im anderen um den Rechtsnachfolger des Dritten Reiches handelt. (3)

Diesem Vergleich wird aber in der deutschen Rezeption der Rettung Schalits systematisch ausgewichen, weil dies die Aufkündigung des stillschweigenden Einverständnisses mit der jüngeren deutschen Geschichte zur Konsequenz hätte. So wie Münch – lediglich exemplarisch – die Verhandlungsergebnisse als – wenigstens kurzfristigen – „historischen Sieg“ der Hamas zu kritisieren vorgibt (wiewohl er und seinesgleichen den Israelis ansonsten immer vorwerfen, nicht genug mit ihren antisemitischen Todfeinden zu reden), erinnern die Deutschen das Hartbleiben ihres Staates angesichts terroristischer Erpressungsversuche als „historischen Sieg“ über die RAF. In Wirklichkeit ist es dagegen der RAF gelungen, das faschistische Wesen aus dem Staat heraus zu kitzeln, allerdings nicht – wie RAF, Linke und andere Rechtsstaatsschützer meinen – in den staatlichen Maßnahmen gegen die Terroristen – denn solange die Ausnahmesituation Ausnahme bleibt, bestätigt sie nicht nur die Regel, sondern konstituiert den Normalfall, also auch Rechtsstaatlichkeit –, sondern in der im Namen des Staates bzw. Kollektivs begangenen Weigerung, im Handel mit Terroristen Menschenleben zu retten.

Den Bruch mit dieser nationalen Geschichte meidet auch Herzinger. Mehr noch. Bewusst oder unbewusst behält er sich die Verteidigung der deutschen Lösung dezidiert vor: „Ein allgemeingültiges Vorbild für den Umgang mit terroristischer Erpressung bietet der Fall Gilad Schalit in der Tat nicht. Die jeweils spezifische, quälende Abwägung, ob durch die Rettung eines Lebens nicht zu viele andere zu stark gefährdet werden könnten, bleibt freiheitlichen Gesellschaften auch in Zukunft nicht erspart.“

Da ist sie wieder: die „quälende Abwägung“, die mal zu diesem (Netanjahu), mal zu jenem Ergebnis (Schmidt) führen können soll. Jeder Journalist, Politiker und Fernsehzuschauer hat diese Formel drauf. Kaum einer fragt noch, was – die Rettung eines gegenwärtig und konkret bedrohten individuellen Lebens einmal zum allgemein und universal gültigen (und nicht bloß partikular-jüdischen) Imperativ erhoben – so „quälend“ daran sein soll, die bloß zukünftige und bloß abstrakte Gefährdung Vieler in Kauf zu nehmen; als könnte man sich dieser nicht mehr stellen, wenn es soweit ist, das heißt, sobald die zunächst spekulative Bedrohung gegenwärtig und konkret geworden ist. (4)

Für Helmut Schmidt war diese „quälende Abwägung“ aber ohnehin nie mehr als die menschelnde Verkleidung seiner Bereitschaft, dem (als Selbstzweck gesetzten) Staat menschliche Opfer darzubringen – und darin adäquater Ausdruck des postfaschistischen Schutz- und Trutzverbands, in dem, wie Johannes Agnoli schreibt, „der formale Schlagabtausch der einzelnen Gruppen untereinander nur die Äußerung eines ,ehrlichen Ringens’“, d.h. eines auf das Volksganze gerichteten Allgemein-Interesses darstellt.

Die „große ­Scheiße“ des Krieges

Jeder Staat – das wissen seine Kritiker seit Hobbes – ist ein Monster. Das gilt auch für den bürgerlich gezähmten Leviathan, erst recht in postfaschistischer Gestalt. Helmut Schmidt ist sein prototypisches Gesicht: die Charaktermaske schlechthin. Das Interview, das er anlässlich „30 Jahre Deutscher Herbst“ (gemeinsam mit seiner Frau Loki) Giovanni di Lorenzo von der Zeit gegeben hat, lässt diesbezüglich in wünschenswerter Klarheit keine Fragen offen. (5)

Der Begriff Postfaschismus hebt auf das Fortwesen des Faschismus (nicht gegen die, sondern) inder Demokratie ab – und Helmut Schmidt ist das ideale Medium dieses Fortwesens gerade, weil er kein Nazi, sondern als sozialdemokratischer ehemaliger Wehrmachtssoldat sogar Nazikritiker und beinahe gewöhnlicher Deutscher ist: „Ich habe mich weiß Gott wegen der Kiesinger-Regierung zu verteidigen. Es waren lauter ehemalige Nazis drin: Kiesinger war Nazi, Lübke war zumindest Mitläufer, Schiller war auch Mitläufer. Unter Adenauer strotzte das ganze Bundeskanzleramt vor Nazis – so war das. […] Ich bin wegen meines jüdischen Großvaters nie in Gefahr gewesen, ein Nazi zu werden. Dieser Zufall oder die Genealogie – möglicherweise nur der Zufall – hat mich davor bewahrt. Ansonsten war die Masse derjenigen, die dann nach 1949 die deutschen staatlichen Büros bevölkert haben, Nazi-Mitläufer – und einige waren schlimme Nazis. Am
schlimmsten waren diese Nazi-Mitläufer in der Justizverwaltung, als Richter wie als Staatsanwälte.“

Die gewöhnlichen postfaschistischen Züge paaren sich in Schmidt zudem mit einer unglaublichen Verlogenheit, die er wiederum selten durchhält, weil ihm seine zwanghafte – teilweise an Hollywood geschulte – Selbststilisierung zum großen und harten (Staats-)Mann großer und schwererEntscheidungen samt dem Maß an Menschenverachtung, das dazugehört, beständig in die Quere kommt: so beginnt er die Unterhaltung bzw. Plauderei mit der Behauptung, dass es ihm keineswegs schwer falle, über die „schicksalhaften Tage des Deutschen Herbst“ zu sprechen, er habe nur „keine Lust“ dazu, weil in den Medien ein Klima herrsche, das sich zu viel mit den Terroristen und zu wenig mit den Opfern beschäftige, während im weiteren Gesprächsverlauf herauskommt, dass er das Reden über die „Grenzerfahrungen seines Lebens“ sehr wohl ebenso genießt wie diese Grenzerfahrungen selber, und gerade die eigene Verhärtung gegens Leiden der Opfer für seine große staatstragende Leistung hält; so gehört das Eingeständnis von Mitschuld (am Tode Schleyers etwa) zwar einerseits zur staatsmännischen Inszenierung desjenigen, der mit den Konsequenzen seiner schweren Entscheidungen – freilich nach quälenden Abwägungen – auf ewig eine Last bzw. große Bürde zu tragen habe – „Schmidt: Ja, mir war natürlich immer klar, dass ich nicht nur in den Augen von Frau Schleyer oder ihres gemeinsamen Sohnes Hanns Eberhard Schleyer, sondern auch in meinen eigenen Augen mitschuldig war am Tode von Hanns Martin Schleyer. (spricht sehr leise) Das war mir immer klar. Das war mir auch klar in den ganzen Wochen, in denen wir ihn gesucht haben. Wenn es nicht gelingt, bist du selbst mitschuldig. – Zeit: Furchtbar, damit zu leben. – Schmidt: Es ist jedenfalls nicht leicht.“ – andererseits ist Helmut Schmidt natürlich alles andere als ein gefühlsduseliges Weichei. Konfrontiert mit den um ihr Leben bettelnden Opfern (6), also einer Tonbandaufnahme von Schleyers Stimme („Ich habe immer die Entscheidung der Bundesregierung, wie ich ausdrücklich schriftlich mitgeteilt habe, anerkannt. Was sich aber seit Tagen abspielt, ist Menschenquälerei ohne Sinn.“) und dem verzweifelten Funkspruch Gaby Dillmanns, Stewardess der entführten „Landshut“, an den deutschen Botschafter über den Flughafentower in Mogadischu („Ich habe nicht gewusst, dass es Menschen in der deutschen Regierung gibt, die mitverantwortlich sind. Ich hoffe, Sie können mit dieser Schuld auf Ihrem Gewissen leben.“), meint Schmidt zunächst: „Sie hat so gesprochen wie Schleyer auch. Das war doch selbstverständlich – so ist das Leben!“ – woraufhin er sich in ein Stahlgewitter hineinredet, das Ernst Jünger und Martin Heidegger auch nicht besser hinbekommen hätten:

Zeit: Aber wenn man die Not und Angst dieser Menschen spürt, wie kann man so unbeirrt bei seiner Position bleiben?

Schmidt: Wir waren ja erwachsene Männer und keine Jugendlichen. Wir hatten alle die Kriegsscheiße hinter uns. Strauß hatte den Krieg hinter sich, Zimmermann hatte den Krieg hinter sich, Wischnewski hatte den Krieg hinter sich. Wir hatten alle genug Scheiße hinter uns und waren abgehärtet. Und wir hatten ein erhebliches Maß an Gelassenheit bei gleichzeitiger äußerster Anstrengung der eigenen Nerven und des eigenen Verstandes. Der Krieg war eine große Scheiße, aber in der Gefahr nicht den Verstand zu verlieren, das hat man damals gelernt.

Zeit: Wenn Sie sagen, dass Sie im Krisenstab die Erfahrung des Krieges geeint habe, meinen Sie die Erfahrung des Todes?

Schmidt: Zum Beispiel. Die Erfahrung des Todes, die Erfahrung der Todesgefahr.

Zeit: Ist es auch die Erfahrung des Getötethabens?

Schmidt: (spricht sehr leise und verhalten) Das ist dasselbe.

Zeit: Danach waren Sie alle also erwachsen, abgehärtet?

Schmidt: Ja.

Zeit: Auch verroht?

Schmidt: Jeder Krieg bringt Verrohung mit sich, auf allen Seiten. (7)

Härte gegen Geiseln

Scheiße „abgehärtet“, gestählt und „erwachsen“ mit einem „erheblichen Maß an Gelassenheit“ erdulden zu können, ist aber nur das eine. (8) Das andere ist die Entscheidung zur „Position der Härte“ selber, die einem die Scheiße (in dem Fall: die Mitschuld) ja erst eingetragen hat. Diese erklärt sich laut Schmidt aus folgender Vorgeschichte: 1972 wurde ein deutsches Flugzeug entführt, um die inhaftierten Geiselnehmer der israelischen Olympia-Mannschaft freizupressen. Die Regierung Brandt ist auf den Deal eingegangen. 1975 kam es zur Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz, der gegen sechs gefangene Terroristen ausgetauscht wurde. Noch vor der tatsächlich erfolgten Freilassung von Lorenz will Schmidt beschlossen haben: „Das machst du nie wieder! Tatsächlich haben die in Berlin freigelassenen Leute weiterhin terroristische Taten begangen. Das war also schon die zweite geglückte Erpressung. Mir schwante, jetzt gibt es eine Kette von Entführungen und Erpressungsversuchen.“ Als dann Schleyer im September 1977 entführt wurde, hat Schmidt vier Stunden später eine etwa fünfminutige Erklärung abgegeben, die kurz zuvor im Bonner ARD-Studio aufgezeichnet worden war und – wie di Lorenzo meint – mit einem Satz für die Geschichtsbücher aufwartete: „Der Staat muss darauf mit aller notwendigen Härte antworten.“

Diese „notwendige Härte“ nun richtete sich vornehmlich allerdings gerade nicht gegen die Terroristen. Im Gegenteil: so mancher Vorschlag wurde und wird bis heute als Bruch mit dem Rechtsstaat, gar als faschistisch zurückgewiesen – und zwar nicht nur die kolportierten Ideen z.B. des Generalbundesanwalts Kurt Rebmann: das Grundgesetz dahingehend zu ändern, dass es möglich würde, Personen zu erschießen, die von Terroristen freigepresst werden sollen, oder etwa Franz Josef Strauß’: für jede erschossene Geisel einen RAF-Häftling zu töten (Schmidt: „Dann wäre ich aus der Haut gefahren. Ich hätte das niemals getan.“), auch der Vorschlag eines BND-Agenten für eine verdeckte Operation gegen den internationalen Terrorismus mit dem Ziel: „Liquidierung der europäischen Führungskader“ – also eine Strategie der Härte, welche z.B. die Israelis durchaus anwenden – sei, da sind sich di Lorenzo und Schmidt einig, mindestens „haarsträubend“ und einem demokratischen Staat unangemessen. Angemessen scheint es dagegen zu sein, wenn sich die „notwendige Härte“ gegen die Geiseln richtet, wenn der Staat also, um zu demonstrieren, dass er sich nicht erpressen lässt, bzw. solche Erpressung sich langfristig nicht lohnt, statt Terroristen verdeckt und systematisch zu liquidieren, lediglich ihren kurzfristigen Forderungen schlicht nicht nachgibt:

Zeit: Die Darstellung der Historiker ist demnach korrekt, dass Sie vom ersten Tag der Schleyer-Entführung an entschlossen waren, den Terroristen nicht nachzugeben?

Schmidt: Die Darstellung ist falsch, denn dazu war ich schon seit der Lorenz-Entführung entschlossen. Ich hatte ja danach auch in Stockholm nicht nachgegeben. Und ich wollte das auch in einem dritten oder vierten Fall nicht mehr tun.

Zeit: Sandra Maischberger haben Sie immerhin verraten: „Die enorme Verantwortung für das Leben anderer habe ich als existenziell bedrückend empfunden.“

Schmidt: (überlegt lange) Man kann auch auf Hamburgisch sagen: Das geht einem ans Magere.

„Die enorme Verantwortung für das Leben anderer“, die Schmidt auch an einer anderen Stelle des Interviews mit stolzgeschwellter Brust vor sich herträgt, ist dabei jedoch nur die zivilisatorische Verkleidung des Barbarischen, das sich schon im Verfallen aufs Provinzielle (hier aufs Hamburgische) ausdrückt und von Loki Schmidt dann auch klar formuliert wird: „Aber der Staat war auch bedroht, und das war uns – und meinem Mann natürlich noch mehr – genauso klar.“

Für die Schmidts kann aus den konkreten „anderen Menschen“ deshalb so schnell etwas Abstrakt-Unmenschliches wie „der Staat“ werden, weil sie da einfach keinen Unterschied erkennen, was sie gewissermaßen als Kenner ihres Grundgesetzes ausweist. (9) Schon Artikel 1 Abs. 1 spricht ja von der „Würde des Menschen“ statt: der Menschen. Letzteres allein würde alle Menschen, also die empirischen Individuen, „wie sie gehen und stehen“, meinen. Der Mensch an und für sich hingegen ist eine Realabstraktion, die im Souverän vergegenständlicht ist: dieser ist der allgemeine Mensch, der die besonderen Menschen sich subsumiert, indem er die Bestimmungen repressiver Allgemeinheit „den konkreten Individuen als juristische Fiktion (Marx)“ unterschiebt (ISF). Die Subjektform ist der Inbegriff aller ökonomisch gesetzten und politisch explizierten Anforderungen, denen die besonderen Individuen zu genügen haben und daher lautet die Wahrheit von Artikel 1 Abs.1 – wie bereits Johannes Agnoli kritisch anmerkte –: Die Würde des Staates ist unantastbar. Im Umkehrschluss wird damit die Würde der konkreten Individuen für Staatszwecke eben gerade: antastbar. Und als alter Soldat weiß Schmidt, dass es auch mit Artikel 2 Abs. 2 – „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ – nicht weit her ist. Denn das vom Staat (hier zwar „Jedem“ statt demMenschen) generös gewährte Leben impliziert unmittelbar zugleich die Pflicht zum Opfer für die Volksgemeinschaft – wie bereits das Grundgesetz etwa in den Bestimmungen über den „Mißbrauch“ von Grundrechten zum Kampf gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ (Artikel 18) festlegt und wie es der V. Abschnitt des Strafgesetzbuches unter der Überschrift Straftaten gegen die Landesverteidigung ausführt: „Wer sich oder e
inen anderen mit dessen Einwilligung durch Verstümmelung oder auf andere Weise zur Erfüllung der Wehrpflicht untauglich macht oder machen lässt, wird mit Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft“ (§ 109 StG und deshalb gilt: „Das immerhin weiß der Jurist, wenn er auch sonst nichts weiß: Es besteht kein Verfügungsrecht des Einzelnen über das eigene Leben.“ (ISF)

Die Bereitschaft zum Opfer

Denken und Handeln des Ehepaars Schmidt sind so beschaffen, als sollten die Bestimmungen der Souveränität, wie Hegel sie vorgenommen hat, unmittelbar als Gebrauchsanleitung gelesen und in die Tat umgesetzt werden. Zu Hegels Rechtsphilosophie schreibt Joachim Bruhn: „Der Staat darf, sagt Hegel, nicht nur als bürgerliche Gesellschaft betrachtet werden (Grundlinien § 324, Zusatz), sondern als die Nation in ihrer Grenze, die das Hingeben der persönlichen Wirklichkeit an den absoluten Endzweck, an die Souveränität des Staates (§ 328) impliziert.“ Es ist der Soldat, der in sich die widersprüchlichen Bestimmungen des Bourgeois und Citoyens „in äußerster Negativität“ versöhnt, d.h.: „den konkreten Egoismus mit dem abstrakten Altruismus des in der Form des Subjekts konstituierten Individuums, er verkörpert das Bereit­sein zur Aufopferung im Dienste des Staates (§ 327).“ Was bedeutet: „Das Wesen, das Hegel als ein affirmatives doch begründen wollte, entlarvt sich als Unwesen“, das mit allen Konsequenzen leib-seelisch zu verkörpern die Schmidts in „quälender Abwägung“ auf sich genommen haben. Die Härte gegen die mit dem Tode bedrohten Entführten geht deshalb bei ihnen nicht zufällig mit eben jener entschlossenen Bereitschaft zum Selbstopfer für das Monster Staat einher:

Loki Schmidt: Nach dem Überfall auf die Botschaft von Stockholm sind Helmut und ich im Dunkeln durch den Park gegangen. Nachdem wir uns über diese Sache unterhalten hatten, fassten wir den Entschluss: Wir gehen morgen zum Kanzleramtschef und lassen schriftlich niederlegen, dass der eine nichts Besonderes tun dürfe, um den anderen zu retten.

Schmidt: Wenn du schon darüber redest, dann musst du es auch exakt sagen. Dieser Vermerk muss heute noch in den Akten des Kanzleramts sein. Darin ist festgehalten: Falls Frau Schmidt oder Herr Schmidt gekidnappt werden sollte, soll der Staat nicht austauschen.

Zeit: Entschuldigung, aber das klingt furcht­bar: Zur Rettung eines geliebten Menschen muss man doch alles versuchen!

Schmidt: Ja, aber wir waren anders, weil ich Verantwortung trug für andere Menschen.

Loki Schmidt: Sie sind nie in dieser Situation gewesen!

Schmidt: Das ist auch nur eine Antwort auf Ihre Frage, ob wir uns bedroht gefühlt haben. Selbstverständlich waren wir bedroht. Und wir haben uns auch bedroht gefühlt.

Loki Schmidt: Aber der Staat war auch bedroht, und das war uns – und meinem Mann natürlich noch mehr – genauso klar.

Die Schmidts rechnen es einander natürlich als menschliche Größe an, und versuchen es di Lorenzo und den Zeit-Lesern ebenfalls einzureden: dass sie nämlich, wo sie schon bereit waren, andere für den Staat zu opfern, dann doch wenigstens so konsequent gewesen sind, sich selber davon nicht auszunehmen. Diese deutsche Konsequenz (Wer A sagt, muss auch B sagen) offenbart jedoch weder Humanes noch Empathisches, im Gegenteil: in ihr erst kommt der (post-)faschistische Staatsfetischismus zu seiner Vollendung (10) – vor allem, wenn die Bereitschaft zum Selbstopfer (für einen Staat, der um seiner selbst willen existiert) in der Selbststilisierung des staatstragenden Ehepaars auch noch für eine kathartische Versöhnung mit den Angehörigen der tatsächlichen Opfer herhalten soll:

Schmidt: Der Rechtsstaat hat nicht zu siegen, er hat auch nicht zu verlieren, sondern er hat zu existieren!

Zeit: Und was ist bei Ihnen zurückgeblieben?

Schmidt: Ich würde das wiederholen, was ich in der von Ihnen zitierten Rede vor 30 Jahren im Bundestag gesagt habe. Ich bin verstrickt in Schuld – Schuld gegenüber Schleyer und gegenüber Frau Schleyer und gegenüber den beiden Beamten in Stockholm – dem Militärattaché Andreas Baron von Mirbach und dem Wirtschaftsattaché Heinz Hillegaart, die umgebracht wurden.

Loki Schmidt: Ich weiß nur noch, dass kur
ze Zeit nach Stockholm die Frau des deutschen Botschafters in Bonn war und mich beinahe beschimpft hat. Da habe ich ihr von unserem nächtlichen Spaziergang erzählt und dem, was wir schriftlich festgelegt haben. Da hat sie mich ganz groß angeschaut und ist mir plötzlich um den Hals gefallen. Und sie hat verstanden, dass alles etwas anders aussieht, wenn man mittendrin steckt. Sie hat nichts Böses mehr gesagt.

Mit der „Verstrickung in Schuld“ lässt sich also nicht nur gut leben. Schmidt versteht es, sie zu genießen. Die tragische Größe eines historischen Staatsmannes wäre ohne eine solche Verstrickung sowieso nicht zu haben. Den Opfern weiß er sich über die Gewissheit verbunden, dass er sich auch selbst geopfert hätte und seinen Kritikern malt er aus, wie er als ganz einsamer Wolf gelassen abwägend eine schwere Entscheidung habe treffen müssen, für die es keinen moralischen Kompass gegeben hätte, an dem Orientierung zu finden gewesen wäre, und wie er sich nichtsdestoweniger zu einer Lösung entschlossen durchrang, die völlig alternativlos sei: „Hören Sie, auf die Fragen, ob man Lorenz rauskaufen soll dadurch, dass man Terroristen freilässt; ob man Botschafter und Botschaftsangehörige freikaufen soll dadurch, dass man Verbrecher rauslässt; ob man Schleyer freikaufen soll dadurch, dass man Verbrecher rauslässt; oder ob man Menschen in einem Flugzeug freikauft dadurch, dass man Verbrecher rauslässt, die dann neue Verbrechen begehen – auf all diese Fragen findet sich im Grundgesetz keine Antwort und auch nicht in der Bibel, und im Koran und in der Thora auch nicht!“

Jeder Satz eine Lüge. Schmidts Entscheidung zur Härte gegen die Geiseln war alles andere als vorbildlos. Er handelte – wie gezeigt – durchaus grundgesetzkonform und reduzierte dabei die Hegelsche Staatsphilosophie praktisch auf blanke Affirmation. Und auch eine jede auf den Koran gegründete (Staats-)Moral würde Schmidt Recht geben. Auf der andern Seite der Lüge: Israel, Netanjahu, seine Vorgänger und die Bevölkerung beweisen, dass man hätte auch anders handeln können, anders handeln kann und muss. Den moralischen Kompass dazu findet man sehr wohl (aber nicht nur) in der religiösen Tradition des Judentums, und zwar (nicht bloß) im von Herzinger angesprochenen Pikuach Nefesh. Auch vom Christentum hätte Schmidt wissen können, dass Gott nach dem Selbstopfer Jesu keinen Gefallen mehr an Opfern hat. Nicht zuletzt wäre auch der Kategorische Imperativ des Bürgers und Aufklärers Kant konsultierbar gewesen: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ – wenn auch die hier säkular gedachte Versöhnung zwischen dem Partikularsten und dem Universalen auf den berühmten – inzwischen zum Standard-Kitsch Hollywoods verkommenen – Satz aus dem Talmud zurückgeht: „Deshalb ist Adam als Einzelner geschaffen worden, um dich zu lehren: Wer einen einzigen Menschen vernichtet, hat nach der Schrift die ganze Welt vernichtet: wer einen einzigen Menschen am Leben erhält, hat eine ganze Welt erhalten.“ (Mischna, Sanhedrin, IV,5)

Doch für eine humane, vernünftige und eben darin anti-tragische Entscheidung wie diejenige Netanjahus ist einer wie Schmidt (und mit ihm so viele Deutsche) doch nicht durch die „Scheiße des Krieges“ gewatet.

Thomas Maul (Bahamas 63/2012)

Anmerkungen:

 1) Gesetzt: es gibt die technische Möglichkeit, den „point of no return“ eines Flugzeuges präzise zu bestimmen, das heißt die Grenze, nach deren Überschreiten das Flugzeug dem Hochhaus nicht mehr ausweichen kann, dann wären die Insassen ab diesem Moment ohnehin des Todes. Das Flugzeug vom Himmel zu holen, auch wenn 150 Passagiere gegen nur einen Einzelnen stehen sollten, der sich im Hochhaus aufhält, ist also keine komplizierte Frage, die quälendes Abwägen verlangte. Ebenso selbstverständlich wäre, dass die Insassen des Flugzeugs vor Überschreiten dieser Grenze nicht anzutasten sind. Wer derartige Szenarien und Planspiele dagegen endlos hin und her wälzt, tut es also nicht aufgrund der vermeintlichen moralischen Komplexität der Sache, sondern weil er Vergnügen am gedanklichen Spiel mit Menschenleben hat.

 2) Thomas v. d. Osten-Sacken verweist in seinem Jungle-Blog (18.10.11) auf die Notwendigkeit eines solchen Vergleichs, führt ihn aber selbst nicht aus.

 3) Dass die Deutschen bei der Rettung Gilad Schalits als Vermittler eine wichtige Rolle spielten, ehrt sie zwar durchaus, ist aber keine Garantie dafür, dass sie von nun an wie die Israelis handeln würden.

 4) Auch wenn – worauf z.B. Caroline Glick in einem Artikel für die Jerusalem Post vom 14.10.2011 hinweist – alle Statistiken dafür sprechen, dass freigelassene Terroristen wieder aktiv werden, bleibt dies eine abstrakte Gefährdung. Sicher: nicht jeder Freigelassene wird sich Umbesinnen oder einen Herzinfarkt erleiden oder einer gezielten Liquidierung der Israelis zum Opfer fallen. Man weiß, es könnten künftig wieder Israelis Opfer von Terroranschlägen werden, man weiß nicht wie viele und wer genau, man weiß auch nicht, wie viele dieser Anschläge man wird verhindern können. Man hat diesen in der Gegenwart abstrakten Größen gegenüber aber eben eine andere moralische Verantwortung als gegenüber dem konkreten bedr
ohten Leben, das nicht zu retten, obwohl man konnte, einen sehr persönlich schuldig werden lässt. 
Nochmal: „The only thing we don’t know about these future victims is their names“, heißt es in Glicks Artikel. Weil man aber Gilads Namen kennt, galt für ihn umso mehr, was Glick zu den Namenlosen ­schreibt: „But we know what will become of them as surely as we know that night follows day.“

 5) Alle folgenden Helmut- und Loki-Schmidt-Zitate aus: Die Zeit, 30.08.2007, Nr. 36 (Deutscher Herbst. „Ich bin in Schuld verstrickt.“ Mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer vor 30 Jahren erreichte der RAF-Terror seinen Höhepunkt. Der Staat ließ sich nicht erpressen. Ein Gespräch mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt über die Grenzerfahrungen seines Lebens); www.zeit.de/2007/36/Interview-Helmut-Schmidt

 6) Es spielt für eine Analyse der Haltung Schmidts keine Rolle, dass das Opfer Schleyer als alter SS-Mann nicht solidaritätswürdig ist und die meisten Leidtragenden der Landshut-Entführung später unversehrt befreit wurden.

 7) Von den Spezifika des nationalsozialistischen Krieges – dem Vernichtungskrieg im Osten und dem Holocaust – will Schmidts allgemeine „Kriegsscheiße“ natürlich nichts wissen. Er ist hier so postfaschistisch wie die Präambel des Grundgesetzes. Vgl. dazu: ISF: Der Staat des Grundgesetzes, auf: http://www.ca-ira.net/isf/beitraege/isf-staat.grundgesetz.html

 8) Eine „Größe“, die die Geiseln des entführten Flugzeugs im Gegensatz zu Schmidt nicht aufbrachten. So vergiftet seine zynische Stahlgewitter-Fäkal-Sprache noch den leisesten Anflug von Empathie mit den Opfern: „Die armen Menschen, die in dem Lufthansa-Flugzeug auf dem Flughafen von Mogadischu standen, mit dem Tode bedroht – die Lokusse des Flugzeuges längst vollgeschissen, alle verkabelt und zur Sprengung vorbereitet. Dann wurde ihnen Alkohol über die Köpfe und über die Kleidung gegossen, damit sie schön brennen. Die haben natürlich die deutsche Regierung verdammt, an sie appelliert, alles Mögliche von ihr erwartet und uns für ihre Mörder gehalten oder zumindest für die Verursacher ihrer Not, in der sie sich befanden.“

 9) Vgl. zum Folgenden: ISF (a.a.O.) und Joachim Bruhn: Subjektform ist die Uniform, auf: www.ca-ira.net/isf/beitraege/bruhn-subjektform.uniform.html

 10) In seinem Aufsatz Erziehung nach Auschwitz sieht Adorno im Härte-Kult der traditionellen Erziehung sogar eine „Vorform der nationalsozialistischen Gewalttat“, dem daher entschieden entgegenzuarbeiten wäre: „Das Erziehungsbild der Härte, an das viele glauben mögen, ohne darüber nachzudenken, ist durch und durch verkehrt. […] Das gepriesene Hart-Sein, zu dem da erzogen werden soll, bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin. Dabei wird zwischen dem eigenen und dem anderer gar nicht einmal so sehr fest unterschieden. Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte, die er verdrängen musste. Dieser Mechanismus ist ebenso bewusst zu machen wie eine Erziehung zu fördern, die nicht, wie früher, auch noch Prämien auf den Schmerz setzt und auf die Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten.“ (Stichworte. Kritische Modelle 2, Ff/M 1969, 93)

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How Bain’s Lobbying Saved Mitt Millions


With the sting of defeat in the South Carolina primary still fresh at last week’s Republican presidential debate in Tampa, Mitt Romney slammed Newt Gingrich for his record as a consultant—or “historian,” in Newt-speak—for government mortgage-backer Freddie Mac.

But perhaps Romney should think twice before setting his sights on the former speaker’s lobbying-related past. That’s because the ex-governor has benefited handsomely from the influence-peddling of Bain Capital, the private equity firm he cofounded in 1983. Though he’s been gone from Bain for over a decade, Romney continues to rake in millions from accounts with the firm—and in 2007, he took Bain’s side in a key lobbying battle with Washington—one that saved him millions of dollars.

2007, as it turns out, was something of a watershed for private equity lobbying: In that year, lobbying expenditures for the industry practically tripled. The spike was the result of an industry-wide effort to preserve a number of tax giveaways for the finance industry and its CEOs—including the carried interest rule, a tax loophole that allows Romney and other private equity mavens to reduce their taxes by millions of dollars. Carried interest refers to the commission that private equity and hedge fund executives receive for managing investors’ money. Although commissions may seem like ordinary income to the rest of us, the carried interest loophole allows some money managers to claim this income as long-term capital gains, which are taxed at a rate much lower (15 percent) than the top tax rate for normal income (35 percent).

After Democrats won control of both the House and the Senate in the 2006 midterm elections, they advanced several pieces of legislation that threatened to end this lucrative quirk of the tax code and other tax policies that favor the rich. Mitt Romney, who made just over $20 million in investment income in 2010, wasn’t having any of it. During an August 2007 appearance on Kudlow & Company, Romney was asked what he thought of the effort to close the loophole. He wasn’t happy. “I want people to be able to save their money and invest in America’s economy tax-free,” Romney said. “I want to lower taxes. I want to lower marginal rates across the board. I want to lower taxes for corporations,” he told Kudlow.

Bain was doing its part to make Romney’s vision a reality. The firm spent $300,000 between August of 2007 and April of 2008 lobbying the House and Senate on bills that threatened the carried interest loophole. Along with other private equity titans like Kohlberg Kravis Roberts and Apollo Management, Bain and its ilk paid lobbying shops, public relations firms, and trade groups like Ogilvy and the Private Equity Growth Capital Council an estimated $15 million between January 2009 and April 2010 to convince lawmakers to keep the loophole alive. The force of those combined lobbying efforts kept the carried interest loophole wedged open, denying the federal government some $10 billion in revenues in the process. “Everyone who has looked at this boondoggle [of carried interest] thinks it’s an egregious giveaway,” Jacob Hacker, the co-author (with Paul Pierson) of Winner-Take-All Politics, says. “It still lives because of the lobbying of the industry, and in particular the PEGCC.”

From 1998 to 2006, private equity and investment firms spent $3 million a year lobbying Congress, according to the Center for Responsive Politics. Bain got into the game in 2007, registering with prominent Washington lobbying firms Public Strategies, Inc. and Akin Gump Strauss Hauer & Feld. To date, Bain has paid some $3 million to these firms to make sure corporate taxes stay low and CEOs remain fat and happy.

As the New York Times reported several weeks ago, Bain was a member of the Private Equity Growth Capital Council up until last year, when it abruptly ended its $1-million-a-year membership with the powerful trade group. Its reasons for doing so remain unclear. (PEGCC did not respond to a request for comment.)

Investment fund managers and former CEOs like Mitt Romney suggest that taxing their carried interest as income would crimp investments, and, ultimately, kill jobs. But as Howard Gleckman, a tax policy expert at the Urban Institute, has found, there is little evidence to support that claim. “Losing a couple percentage points off your returns isn’t going to change things very much,” Gleckman says. “Taxing carried interest as if it were wages…wouldn’t really affect these deals very much.”

Now that a small sample of Romney’s tax returns is out in the open, voters may be asking more questions about how policies like the carried interest rule work. Josh Kosman, author ofThe Buyout of America: How Private Equity Is Destroying Jobs and Killing the American Economy, says that’s terrifying for the private equity world. “The private equity industry exists because of tax gimmicks,” Kosman argues. “They want to convince people they create value because if anyone started looking at it, the tax rates don’t make any sense, and they cost the government a lot of money.”

As Hacker explains, today’s favorable tax treatment towards capital gains dates back to the late 1970s, when the lobbying might of business groups like the US Chamber of Commerce successfully sliced the tax on capital gains in half. The Tax Reform Act of 1986 brought the rate back into line with the rate on ordinary income, but business lobbies spent the next decade knocking it back down. “For an industry that’s held up as a paragon of individual entrepreneurship, private equity is strikingly dependent on favorable tax policies,” Hacker said.

Of course, private equity isn’t the exclusive terrain of one party or the other. As Hacker and Pierson outlined in their book, Sen. Charles Schumer (D-N.Y.) has been one of
the carried interest loophole’s most ardent defenders. And as Kosman points out, four of the past eight Treasury secretaries have direct ties to the private equity industry.

All of this, of course, could pose a huge a problem for Romney—so much so that his campaign recently suggested that he might be open to reconsidering the carried interest loophole if he were to be elected president. Although Bain did not start lobbying until some eight years after Romney left, his just-released tax records indicate that he still collects significant investment income from the firm. Bain’s gain, then, has clearly been Romney’s as well—and the candidate has publicly endorsed the same policies the company has backed. 

So when Bain’s lobbyists have tried to sway the political system in Washington, Romney has gained. Maybe he ought to be careful when denigrating the influence peddlers in the nation’s capital.

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Das braune Erbe der DDR


Ostdeutschland hat ein Problem mit dem Rechtsextremismus. Wissenschaftler finden dafür eine Erklärung im System der DDR. Bis heute lehnen Bürger im Osten stärker als im Westen Ausländer ab, außerdem gebe es in Osten mehr autoritäres Denken.

Die von der Hochschule am Niederrhein angereiste Wissenschaftlerin wollte im ehemaligen Ost-Berlin niemandem auf die Füße treten. „Nein, im Osten ist nicht alles schlimmer“, sagte Beate Küpper. „Manches ist im Osten sogar besser.“ So gebe es in der ehemaligen DDR weniger Sexismus.

Der Kernbefund ließ sich zumal unter dem Eindruck des von Jena und Zwickau ausgehenden Rechtsterrorismus in Gestalt des„Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) jedoch nicht leugnen. Im Osten, so Küpper, stimmten 59 Prozent der Bürger der These zu, es gebe zu viele Ausländer in Deutschland – im Westen seien es 44,5 Prozent. Auch seien in den neuen Bundesländern mit zehn Prozent der Befragten mehr Menschen bereit, Gewalt anzuwenden. Es herrsche auf diesem Feld eine gewisse Spaltung.

Im Osten wird Pluralismus eher abgelehnt

Küpper ist Mitarbeiterin des renommierten Forschungsprojekts Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit unter der Leitung des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Sie sprach bei einer Veranstaltung der Bundesstiftung Aufarbeitung unter dem Titel: „Das braune Erbe der Diktatur? Rechtsextremismus in der DDR und im vereinigten Deutschland“. Anders als sonst bei derlei Debatten kam es freilich nicht zu einem Ost-West-Konflikt. Die Diagnose war vielmehr Konsens: Der Osten hat mit dem Rechtsextremismus nicht allein ein Problem; er hat damit allerdings ein besonderes Problem.

Küpper erklärte, es gebe hier mehr Ablehnung von Pluralismus. Es gebe im Zuge der DDR-Erfahrung mehr autoritäres Denken. Und es gebe ein Gefühl der Benachteiligung gegenüber Westdeutschen, das viele Menschen an Minderheiten ausließen. Neben ihr saßen drei Ostdeutsche auf dem Podium: der Historiker Patrice Poutrus von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Anetta Kahane von der Amadeu-Antonio-Stiftung und Bernd Wagner, Gründer von Exit Deutschland, einer Aussteiger-Initiative für Rechtsextremisten.

Offener Rassismus in der DDR

Poutrus befand, die DDR-Gesellschaft sei entgegen anders lautender (Vor-)Urteile „überhaupt nicht kuschelig“, sondern vor allem im Umgang mit Randständigen sehr hart gewesen; die staatlichen Autoritäten hätten dies gestützt. Die Nachwende-Zeit habe lediglich sichtbar gemacht, was vorher schon angelegt gewesen sei. Wagner, ehemals Kriminalbeamter, erinnerte daran, dass 1985 ein erster polizei-interner Bericht über rechte Umtriebe in der DDR vorgelegen habe. In den letzten 20 Jahren sei die Misere „politisch deutlich unterschätzt worden, was wir heute merken. Das ist tragisch.“

Kahane berichtete von offenem Rassismus und gab zu Protokoll: „Ich habe mich in der DDR überhaupt nicht wohl gefühlt.“ Dauernd hätten Neonazis in Ost-Berlin Leute zusammen geschlagen. Auf all das sei nicht der staatlich verordnete Anti-Faschismus die richtige Antwort gewesen. Vielfalt habe gefehlt.

Kahane war es übrigens, die Küpper aufforderte, gegenüber dem Osten weniger nachsichtig zu sein. Der Westen mische sich beim Thema Rechtsextremismus in den neuen Ländern nicht zu viel ein, bemerkte sie, sondern viel zu wenig.

Von Markus Decker, Berl. Zeitung, 31.1.2012 Source